The Politics of Abolition (1974) von Thomas Mathiesen zählt zu den einflussreichsten Werken des strafrechtlichen Abolitionismus und der Kritischen Kriminologie. In radikaler Abkehr von traditionellen Strafrechtstheorien fordert Mathiesen nicht weniger als die Abschaffung des Gefängnisses – nicht zugunsten alternativer Strafformen, sondern im Sinne einer grundlegenden Infragestellung der gesamten Strafjustiz. Dabei verbindet er analytische Schärfe mit politischem Anspruch: Das Gefängnis ist für ihn kein Ort der Resozialisierung, sondern ein Machtinstrument zur Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit und Disziplinierung abweichenden Verhaltens.
Gesellschaftlicher Kontext und theoretische Einordnung
Thomas Mathiesen veröffentlichte sein Werk in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche: Die 1970er-Jahre waren geprägt von politischen Protestbewegungen, antiautoritären Tendenzen und einer kritischen Reflexion staatlicher Gewalt. In Norwegen wie in anderen westlichen Gesellschaften wurde zunehmend in Frage gestellt, ob der Strafvollzug seinem postulierten Ziel – der Resozialisierung – tatsächlich gerecht wird.
Mathiesen steht in der Tradition der Kritischen Kriminologie, ist jedoch zugleich Mitbegründer eines eigenständigen strafrechtlichen Abolitionismus. In The Politics of Abolition verbindet er systemtheoretische Analysen mit soziologischer Herrschaftskritik. Seine Position lässt sich als Gegenpol zu reformorientierten Strafrechtsansätzen verstehen: Statt das Gefängnis „besser“ zu machen, plädiert er für seine Abschaffung.
Begriff erklärt: Abolitionismus
Unter Abolitionismus versteht man in der Kriminologie die Forderung nach einer grundlegenden Abschaffung von Strafvollzug und staatlicher Strafe. Anders als reformorientierte Ansätze geht der Abolitionismus davon aus, dass Gefängnisse strukturell schädlich sind: Sie stigmatisieren, reproduzieren Ungleichheit und verhindern nachhaltige soziale Lösungen. Abolitionist:innen wie Thomas Mathiesen oder Nils Christie setzen sich für dezentrale, gemeinschaftsbasierte und dialogische Formen der Konfliktbearbeitung ein – etwa durch Gesellschaft verstand.">Gemeinschaft zu beheben.">Restorative Justice oder Täter-Opfer-Ausgleich.
Begriff erklärt: Restorative Justice
Restorative Justice (wiederherstellende Gerechtigkeit) ist ein alternativer Ansatz zur klassischen Strafjustiz, der den Fokus weg von Bestrafung hin zur Wiedergutmachung des entstandenen Schadens verlagert. Im Zentrum stehen Dialog, Verantwortung und Versöhnung zwischen Täter:in, Opfer und Gemeinschaft.
Restorative Verfahren – etwa Täter-Opfer-Ausgleich, Konferenzen oder mediative Gespräche – zielen auf die aktive Beteiligung aller Betroffenen. Ziel ist es, das Unrecht gemeinsam zu bearbeiten und soziale Beziehungen zu stärken, anstatt sie durch Strafe weiter zu beschädigen.
Beispiele für restorative Ansätze finden sich weltweit:
- Südafrika: Die Wahrheits- und Versöhnungskommission nach dem Ende der Apartheid nutzte restorative Elemente, um schwere Menschenrechtsverletzungen öffentlich aufzuarbeiten und gesellschaftliche Heilung zu ermöglichen.
- Uganda: Traditionelle Mato-Oput-Rituale der Acholi dienen der Wiedergutmachung von Gewaltverbrechen, insbesondere im Kontext des Bürgerkriegs und der Reintegration ehemaliger Kindersoldaten.
- Neuseeland: In der Jugendgerichtsbarkeit sind Family Group Conferences gesetzlich verankert. Sie integrieren indigene (Maori-)Traditionen in ein modernes justizielles Verfahren.
- Kanada: In indigenen Gemeinden werden sogenannte Sentencing Circles eingesetzt, bei denen die Gemeinschaft an der Straffindung beteiligt ist und die soziale Reintegration im Vordergrund steht.
Restorative Justice gilt als zentrale Praxis in abolitionistischen Konzepten und wird u. a. in Schulen, Jugendstrafrecht und der Gemeinwesenarbeit erfolgreich erprobt.
The Politics of Abolition – Thomas Mathiesen
Hauptvertreter: Thomas Mathiesen
Erstveröffentlichung: 1974
Land: Norwegen
Idee/Annahme:
Das Gefängnis ist kein neutraler Ort der Resozialisierung, sondern ein repressives Herrschaftsinstrument. Es dient der Disziplinierung, Kontrolle und sozialen Ausgrenzung. Reformen greifen zu kurz – das System muss grundsätzlich in Frage gestellt und letztlich abgeschafft werden.
Zentrale Begriffe:
Abolitionismus, negative Reform, ungehörte Gegenmodelle, Disziplin, soziale Kontrolle
Verwandte Theorien:
Kritische Kriminologie, Restorative Justice, Foucaults Disziplinarmacht
Zentrale Thesen
Ein zentrales Argument von Thomas Mathiesen ist die grundlegende Infragestellung des Resozialisierungsparadigmas. Gefängnisse, so seine These, verfehlen systematisch ihr erklärtes Ziel, Menschen zu „bessern“ oder wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Stattdessen verstärken sie durch Stigmatisierung und Labeling-Prozesse die soziale Ausgrenzung. Der Diskurs über Resozialisierung fungiert dabei weniger als reale Zielvorgabe, sondern vielmehr als ideologische Legitimation eines Systems, das in der Praxis kontraproduktiv wirkt und neue Exklusionen schafft.
Ein zweiter zentraler Punkt betrifft die Funktion von Strafe im Kontext sozialer Ordnung. Mathiesen argumentiert, dass das Strafsystem nicht primär als Reaktion auf individuelles kriminelles Verhalten zu verstehen ist, sondern als Institution zur Aufrechterhaltung hegemonialer Machtverhältnisse. Die Funktion des Strafvollzugs liegt darin, soziale Disziplin zu erzeugen und insbesondere marginalisierte Gruppen – wie Arme, Arbeitslose oder abweichende Subkulturen – unter Kontrolle zu halten. Gefängnisse erscheinen damit weniger als Einrichtungen der Gerechtigkeit denn als Mechanismen sozialer Steuerung und Repression.
Mit seinem Konzept der „negativen Reform“ kritisiert Mathiesen Strategien, die unter dem Deckmantel der Modernisierung das Strafsystem zwar funktional anpassen, aber dessen strukturelle Gewalt unangetastet lassen. Solche Reformen – etwa humanere Haftbedingungen oder therapeutische Angebote im Gefängnis – führen laut Mathiesen nicht zu einem Systemwandel, sondern dienen vielmehr der Stabilisierung des Bestehenden. Sie entschärfen radikale Kritik, entpolitisieren die Debatte und blockieren tatsächliche Alternativen.
Schließlich betont Mathiesen, dass der Strafvollzug auf einem monopolistischen Modell der Konfliktbewältigung basiert. Staatliche Strafe wird als alternativlos dargestellt, während andere Modelle – etwa Restorative Justice, Täter-Opfer-Ausgleich oder gemeinschaftsbasierte Konfliktlösungen – marginalisiert bleiben. Mathiesen fordert, diese „ungerhörten Stimmen“ stärker in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse einzubringen und ernsthaft über Alternativen zur formellen Strafjustiz nachzudenken. Nur so könne eine emanzipatorische Rechtspolitik entwickelt werden, die auf soziale Gerechtigkeit statt auf Disziplinierung zielt.
Weiterdenken: Mathiesen, Foucault und das Gefängnis als Machtapparat
Die Kritik von Mathiesen lässt sich mit Michel Foucaults Analyse in Überwachen und Strafen (1975) verbinden. Beide Werke entlarven das Gefängnis als Apparat der Disziplinierung, der mehr über Gesellschaften als über Delinquent:innen aussagt. Während Foucault genealogisch-hermeneutisch vorgeht, fordert Mathiesen politisches Handeln: Die Abschaffung des Gefängnisses wird zur Voraussetzung emanzipatorischer Sozialpolitik.
Kritik und Rezeption
The Politics of Abolition war und ist ein provokatives Buch, das in der kriminologischen Debatte polarisierte. Kritiker:innen warfen Mathiesen utopisches Denken und fehlende praktische Umsetzbarkeit vor. Befürworter:innen lobten seine radikale Klarheit, die viele als notwendiges Korrektiv zur realpolitisch dominierten Kriminalpolitik sahen.
Das Werk inspirierte zahlreiche abolitionistische und restorative Ansätze weltweit. Besonders in den skandinavischen Ländern, aber auch im angelsächsischen Raum, bildete Mathiesens Werk ein Gegengewicht zu repressiver Kriminalpolitik. Es gilt als Schlüsseltext für Bewegungen, die für Entkriminalisierung, De-Institutionalisierung und sozialintegrative Praktiken eintreten.
Beispielhafte Aktualität
Die Diskussion um die Abschaffung oder grundlegende Reform von Gefängnissen ist aktueller denn je. Ob in der US-amerikanischen Prison Abolition Movement, in Debatten um Mass Incarceration, oder in Fragen von Entkriminalisierung bei Drogenkonsum – Mathiesens Thesen bleiben ein radikaler Bezugspunkt. Auch in Deutschland gibt es Diskussionen über kleine Delikte (z. B. Schwarzfahren), Alternativen zur Ersatzfreiheitsstrafe und die Resozialisierung statt Inhaftierung, die abolitionistische Positionen streifen.
Fazit und Ausblick
Thomas Mathiesens The Politics of Abolition ist bis heute ein radikales und zugleich wegweisendes Werk der Kritischen Kriminologie. Seine zentrale Botschaft – dass das Gefängnis keine Lösung, sondern Teil des Problems ist – hat nichts an Aktualität verloren. In Zeiten wachsender sozialer Ungleichheit, überfüllter Gefängnisse und wachsender Zweifel an der Wirksamkeit staatlicher Strafe gewinnt die abolitionistische Perspektive erneut an Relevanz.
Mathiesen fordert nicht nur Kritik, sondern konsequenten Perspektivwechsel: weg von staatlicher Repression, hin zu dialogischen, gemeinwesenorientierten Formen der Konfliktbearbeitung.
Damit reiht er sich in eine internationale Tradition kritischer Stimmen ein – von Nils Christie und Angela Y. Davis bis zu Michelle Alexander.
Auch im deutschsprachigen Raum hat diese Debatte inzwischen Fuß gefasst. So plädiert der ehemalige Gefängnisleiter Thomas Galli in mehreren Publikationen (2016, 2019) für eine grundlegende Abkehr vom bestehenden Strafvollzugssystem. Ähnlich wie Mathiesen argumentiert er, dass Inhaftierung vielfach mehr Schaden als Nutzen stifte und gesellschaftlich tragfähige Alternativen wie Restorative Justice, soziale Wiedergutmachung und Prävention dringend gestärkt werden müssten.
Ob die Forderung nach Abschaffung des Gefängnisses eines Tages ähnlich selbstverständlich erscheinen wird wie die gewaltfreie Erziehung von Kindern – wie es Sebastian Scheerer (2001) pointiert formulierte –, bleibt offen. Fest steht jedoch: Mathiesens Werk hat das Denken über Strafe, Macht und gesellschaftliche Alternativen grundlegend verändert – und stellt bis heute eine intellektuelle Herausforderung für alle dar, die an einer gerechteren Gesellschaft interessiert sind.
Literaturverzeichnis
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- Mathiesen, T. (1974). The Politics of Abolition. Oxford: Martin Robertson.
- Mathiesen, T. (2006). The Politics of Abolition Revisited. London: Routledge.
- Foucault, M. (1975). Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
- Galli, T. (2016). Die Schwere der Schuld: Ein Gefängnisdirektor berichtet. Freiburg i. Br.: Herder.
- Galli, T. (2019). Weggesperrt: Warum Gefängnisse niemandem nützen. Freiburg i. Br.: Herder.
- Scheerer, S. (2001). Kritik der strafenden Vernunft. Ethik und Sozialwissenschaften, 12(1), 69–83.