Obsidian ist eine für Privatanwender kostenlos zu nutzende Software, die in ihrer Funktionsweise einen wissenschaftlichen Zettelkasten nachbildet, wie er beispielsweise von dem deutschen Soziologen Niklas Luhmann genutzt wurde. Obsidian ist dabei ausgesprochen flexibel einsetzbar und ließe sich als privates Tagebuch ebenso nutzen wie als Aufgabenplaner, Ablageort für Feldnotizen, Buch- oder Film-Datenbank oder, oder, oder.
Niklas Luhmanns Zettelkasten
Der Soziologe Niklas Luhmann schrieb im Laufe seiner 40-jährigen Karriere mehr als 70 Bücher und 400 Artikel. Auf seine außerordentliche Produktivität angesprochen, verwies er auf seinen Zettelkasten:
Ich denke ja nicht alles alleine, sondern das geschieht weitgehend im Zettelkasten. […] Meine Produktivität ist im wesentlichen aus dem Zettelkasten-System zu erklären.
Der Zettelkasten besteht aus 90.000 Zetteln, die sich in unscheinbaren hölzernen Auszügen befinden. Ein aufwendiges Referenz- und Ordnungssystem ermöglichte es Luhmann, die thematisch sortierten Zettel wiederzufinden.
Der eigentliche Mehrwert, der sich durch die Arbeit mit dem Zettelkasten ergeben, ist jedoch, dass sich durch die räumliche Nähe der abgelegten Zettel auch thematische Querverweise erschließen lassen, die andernfalls vergessen und verborgen geblieben wären. Der Zettelkasten wird auf diese Art zum Gesprächspartner und eigenständigen Denkmaschine (vgl. Luhmann, 1981).
Einige Jahre nach Luhmanns Tod im Jahr 1998 ging der Zettelkasten in den Besitz der Universität Bielefeld über, wo er nunmehr seit vielen Jahren selbst Gegenstand einer wissenschaftlichen Aufarbeitung ist. Im Niklas-Luhmann-Archiv lassen sich heute eingescannten und transkribierten Zettel online einsehen.
Warum Studierende von der Nutzung eines Zettelkastens profitieren werden
Wissenschaft – also das Schaffen von Wissen – ist weitaus mehr als Dinge zu kennen und reproduzieren zu könne. Die Kenntnis von Informationen ist oft nur Grundvoraussetzung um diese Wissensbestände anzuwenden und beispielsweise Informationen zu verknüpfen. Eine gute oder sehr gute Hausarbeit oder Bachelorarbeit zeichnet sich in der Regel nicht durch die bloße Wiedergabe von andernorts bereits publizierten Informationen aus, sondern durch Verknüpfungen, Synthesen und Anwendungen unterschiedlicher Informationsbestände wird neues Wissen generiert. Zettelkästen bedienen genau diese Anforderungen, indem einzelne Informationshappen zunächst für sich abgespeichert werden, um später mit weiteren Informationen verknüpft und zu neuen Gedanken synthetisiert zu werden. In der Praxis ließen sich so Notizen, die Studierende in unterschiedlichen Seminaren machen, miteinander in Beziehung setzen, Konzepte von einer Fachdisziplin auf die andere übertragen oder Gemeinsamkeiten herausstellen.
Obsidian – Zettelkasten und virtuelles Gedächtnis
Das für den privaten Gebrauch kostenlos zu nutzende Programm Obsidian ist die moderne Fortentwicklung eines physischen Zettelkastens. Das Programm ist für Windows, Mac und Linux verfügbar. Der Vorteil von Obsidian gegenüber anderen existierenden Software-Lösungen mit einem vergleichbaren Funktionsumfang ist seine Simplizität und Flexibilität.
Obsidian ist zunächst ein einfacher Texteditor, der auf das Markdown-Format setzt. Sollte die Software eines Tages einmal nicht mehr weiterentwickelt werden, ließen sich die Daten im weit verbreiteten Markdown-Format problemlos in andere Programme überführen.
Die Daten lassen sich sowohl lokal auf der Festplatte oder bei einem beliebigen Cloud-Anbieter seiner Wahl speichern. In jedem Fall bleibt der Autor oder die Autorin zu jeder Zeit Herr und Herrin über die eigenen Daten.
Das Aussehen der Programmoberfläche lässt sich durch den Einsatz von Templates anpassen. Wer sich zutraut, eine CSS-Datei zu editieren, kann das Aussehen seinen persönlichen Vorlieben anpassen.
Jeder Zettel besteht aus einer Markdown-Datei, die Text, aber auch Bilder, PDF-Dateien, interne wie auch externe Links enthalten kann. Es lassen sich bei Bedarf Formatvorlagen (Templates) definieren und auf Zettel anwenden. Die Dateien lassen sich in Obsidian auf Wunsch in Ordnern organisieren, wobei diese Ordnerstruktur dann auch im Ablageort auf der Festplatte oder einem Cloudspeicher nachgebildet wird. Zum Funktionsumfang des Basisprogramms zählt der sog. Graph View, mit dem sich Verknüpfungen zwischen Zetteln graphisch darstellen und erkunden lassen.
Obsidian lässt sich durch über siebenhundert ebenfalls kostenlos verfügbare Plugins für zahlreiche Einsatzzwecke erweitern. Bereits in der Basis-Version ist Obsidian ein sehr mächtiges Programm. Mit Tags und Querverweisen lässt sich im Handumdrehen eine bidirektionale Datenbank aufbauen. So ließe sich beispielsweise eine Rezeptdatenbank aufbauen, in der Verknüpfungen zwischen Zutaten und den jeweiligen Gerichten, für die die entsprechenden Zutaten benötigt werden, bestehen.
Durch den Einsatz weniger Plugins (z.B. Dataview) und ein wenig Einarbeitungszeit in die zahlreichen Tutorials, die von der sehr aktiven Community zur Verfügung gestellt werden, lässt sich der Funktionsumfang und das Aussehen fast beliebig erweitern. Für einen wissenschaftlich Einsatzzweck ist beispielsweise das Plugin Book Search empfehlenswert. Andere Plugins wie Citations versprechen eine Integration der Literaturverwaltung Zotero.
Alternativen zu Obsidian
Andere Programme, hier insbesondere das ebenfalls kostenlos verfügbare Programm Zettelkasten von Daniel Lüdecke orientieren sich noch näher am Aufbau vom Zettelkasten von Niklas Luhmann. So erfolgt hier die Ablage der Zettel linear und thematisch verwandte Zettel lassen sich als Folgezettel einsortieren. Dank der Vergabe von Tags und einer Volltextsuche bringt dieser Umstand in der Bedienung jedoch keinen wirklichen Vorteil. Die deutlich höhere Flexibilität durch den Einsatz von Templates, Plugins und Themes sprechen hier aber für Obsidian.
Größter Vorteil gegenüber zahlreichen alternativen Programmen wie Evernote, Notion, Google Keep oder Microsoft OneNote ist die vollständige Kontrolle über die eigenen Daten und langfristige Unabhängigkeit von einem Softwareunternehmen.
Quellen und weiterführende Informationen
- Luhmann, N. (1981). Kommunikation mit Zettelkästen. In: Baier, H., Kepplinger, H.M., Reumann, K. (Hrsg.) Öffentliche Meinung und sozialer Wandel / Public Opinion and Social Change. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87749-9_19
Video-Anleitungen
Der sechsteilige, deutschsprachige Obsidian-Crashkurs von Joshua Meyer lässt keine Fragen ungeklärt. Die Erläuterungen geraten allerdings bisweilen etwas langatmig.
Mastering Obsedian ist eine fortlaufende Videoreihe von FromSergio. Die Videos bauen aufeinander auf und spätere Videos erweisen sich als technisch anspruchsvoll. Die englischsprachigen Videos sind jedoch klar strukturiert und sehr informativ.
In diesem Video von morganeua liegt der Schwerpunkt weniger auf dem Programm selbst. Stattdessen erläutert die Doktorandin ihre Arbeitsweise beim Extrahieren von Informationen aus einer Textlektüre und einer sinnvollen Aufbereitung der Informationen für den Obsidian-Zettelkasten.
Johannes Schmidt ist wissenschaftlicher Koordinator des Langzeitforschungsprojekts „Theorie als Passion“ zur Erschließung des Nachlasses Niklas Luhmanns und leitet das Niklas Luhmann-Archiv der Universität Bielefeld. 2016 sprach Schmidt im Rahmen des Symposiums „Potentiale und Herausforderung des (digitalen) Archivierens – wie wird Information gesammelt und Wissen generiert?“ des Kunstvereins Hannover über den Zettelkasten als Zweitgedächtnis Niklas Luhmanns