Nahezu drei von vier Deutschen (74 %) haben sehr viel oder ziemlich viel Vertrauen in die Polizei. Ähnlich positiv werden auch deutsche Gerichte (68 %) und das Rechtssystem insgesamt (64 %) bewertet. Dagegen liegt das Vertrauen in Institutionen wie Kirche, Bundesregierung oder große Wirtschaftsunternehmen mit rund 34 % deutlich niedriger (ROLAND Rechtsschutz-Versicherungs-AG, 2017, S. 11).
Während das Vertrauen in die Polizei also konstant hoch ist, mehren sich in den letzten Jahren die Berichte über Fälle unangemessener oder unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch Polizeibeamt*innen. Zugleich weisen Polizeigewerkschaften auf eine wachsende Zahl von Widerstandshandlungen und Angriffen gegen Polizeikräfte hin.
Was ist Gewalt?
Der Gewaltbegriff ist vielschichtig und wird auf unterschiedliche Kontexte angewendet – von häuslicher Gewalt über schulische Gewalt bis hin zu staatlicher Gewalt oder internationaler Gewalt zwischen Nationen. Im Deutschen umfasst der Begriff sowohl den physischen Zwang als auch die institutionelle „Amtsgewalt“. Im Englischen wird differenziert zwischen violence (physische Gewalt) und power (Macht, Herrschaft).
Soziologisch lassen sich verschiedene Formen von Gewalt unterscheiden, die weit über körperliche Gewalt hinausgehen:
- Physische Gewalt: direkte körperliche Übergriffe, z. B. Schläge, Tritte oder der Einsatz von Waffen.
- Psychische Gewalt: Einschüchterung, Drohungen, emotionale Erpressung oder verbale Aggression.
- Symbolische Gewalt (Bourdieu): subtile Formen der Machtausübung über Sprache, Normen, Werte oder Bildung, die von den Betroffenen häufig nicht als Gewalt erkannt werden.
- Strukturelle Gewalt (Galtung): gesellschaftlich verankerte Ungleichheitsverhältnisse, die Menschen systematisch benachteiligen – z. B. durch Armut, fehlenden Zugang zu Bildung oder institutionelle Diskriminierung.
- Staatliche Gewalt: durch staatliche Institutionen ausgeübter Zwang, der im Idealfall rechtlich legitimiert und kontrolliert ist – etwa durch Polizei, Justiz oder Militär.
Diese Unterscheidung zeigt: Gewalt ist nicht nur eine Frage individueller Aggression, sondern auch struktureller Machtverhältnisse. Gerade in der Analyse polizeilichen Handelns ist es entscheidend, zwischen legitimer Staatsgewalt und illegitimer Polizeigewalt zu unterscheiden.
Historisch lässt sich eine Abnahme physischer Gewalt im Alltag beobachten – etwa in Norbert Elias’ Zivilisationstheorie. Gleichzeitig zeigen Studien (z. B. Imbusch 2002), dass Gewalt in vielfältigen Formen weiterhin Bestandteil sozialer Auseinandersetzungen ist.
Gerade im Umgang mit staatlicher Gewalt – etwa durch Polizeibeamt*innen – ist es wichtig, zwischen legitimen und illegitimen Gewaltformen zu unterscheiden. Die folgenden Beispiele zeigen, wie sich unterschiedliche Gewaltformen im Kontext der Polizei manifestieren können:
- Physische Gewalt: Festnahmen unter Anwendung unmittelbaren Zwangs, der Einsatz von Schlagstöcken, Pfefferspray oder Schusswaffen – sofern verhältnismäßig, rechtlich gedeckt.
- Psychische Gewalt: Einschüchterungen, Herabwürdigungen oder übermäßiger Druck bei Verhören, der das Machtgefälle zwischen Polizei und Betroffenen verstärken kann.
- Symbolische Gewalt: Ausübung institutioneller Autorität über Uniform, Sprache und Auftreten. So kann die symbolische Präsenz der Polizei bestimmte Gruppen (z. B. Jugendliche mit Migrationshintergrund) besonders unter Druck setzen, ohne dass konkrete physische Gewalt erfolgt.
- Strukturelle Gewalt: Ungleichbehandlungen, die durch institutionelle Praktiken wie Racial Profiling, wiederholte Kontrollen in bestimmten Stadtvierteln oder fehlende interkulturelle Kompetenzen verstärkt werden. Hier wirkt Gewalt nicht direkt, sondern durch die Reproduktion von Ausgrenzung und Marginalisierung.
In modernen Rechtsstaaten darf nur der Staat in bestimmten Situationen physische Gewalt ausüben. Diese gilt als legitim, wenn sie rechtlich erlaubt, verhältnismäßig und gesellschaftlich akzeptiert ist. Der Begriff der Legalität (rechtlich erlaubt/verboten) ist jedoch nicht deckungsgleich mit dem der Legitimität (gesellschaftlich anerkannt/nicht anerkannt). Daraus ergeben sich normative Spannungsfelder:
- Legal, aber nicht legitim: Der Einsatz von Zwangsmitteln durch die Polizei ist rechtlich gedeckt, kann aber als überzogen oder moralisch fragwürdig empfunden werden – etwa bei der Räumung friedlicher Demonstrationen oder bei Maßnahmen mit rassistischer Wirkung.
- Illegal, aber als legitim empfunden: Formen von Selbstjustiz, ziviler Ungehorsam oder Widerstand gegen autoritäre Regime können zwar gegen geltendes Recht verstoßen, erscheinen jedoch aus einer moralischen Perspektive oder historischen Rückschau als legitim – z. B. Fluchthilfe, Whistleblowing oder antifaschistischer Widerstand.
Beispiele legitimer Gewalt:
- Verhältnismäßige Anwendung unmittelbaren Zwangs bei einer Festnahme nach Haftbefehl
- Durchsetzung von Platzverweisen bei akuter Gefährdungslage
Beispiele illegitimer Gewalt:
- Misshandlung von Personen in Gewahrsam, auch wenn institutionell gedeckt
- Racial Profiling ohne konkreten Tatverdacht
- Repressive Maßnahmen gegen friedliche Proteste
Die Soziologie der Gewalt analysiert daher nicht nur die Legalität von Gewalt, sondern fragt kritisch nach ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und politischen Funktion.
Nicht jede Form der Gewalt ist automatisch unrechtmäßig. Entscheidend ist, ob Gewalt im Rahmen rechtsstaatlicher Normen ausgeübt wird, verhältnismäßig ist und demokratischer Kontrolle unterliegt. Genau hier liegt der soziologisch und politisch brisante Diskussionspunkt.
Theoretische Perspektiven auf das Gewaltmonopol
Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes – dies: das „Gebiet“, gehört zum Merkmal – das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.
[Max Weber (1919). Politik als Beruf. S. 4.]
Der Begriff des staatlichen Gewaltmonopols geht maßgeblich auf Max Weber zurück. In seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ (1919) definiert Weber den modernen Staat als jenes menschliche Gemeinwesen, „welches innerhalb eines bestimmten Gebietes das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“.
Diese Definition ist bis heute zentral: Der Staat darf – anders als private Akteure – physische Gewalt ausüben, um Recht und Ordnung durchzusetzen. Damit Gewalt aber als legitim gilt, muss sie rechtlich gebunden, kontrollierbar und zweckgebunden sein. Nur unter diesen Bedingungen unterscheidet sich staatliche Gewalt von Willkür oder bloßer Repression.
Habermas: Legitimität durch Kommunikation und Teilhabe
Jürgen Habermas hebt in seiner Theorie des kommunikativen Handelns hervor, dass staatliche Gewalt nur dann als legitim gelten kann, wenn sie auf einem rationalen Diskurs und demokratischer Zustimmung beruht. Legitimität entsteht also nicht nur durch rechtliche Verfahren, sondern durch partizipative Verfahren und öffentliche Deliberation. Der Staat muss seine Gewaltmittel transparent begründen können – gegenüber den Bürger*innen, denen er zugleich Rechenschaft schuldet.
Bourdieu: Der Staat als institutionalisierte symbolische Gewalt
Pierre Bourdieu wiederum weitet den Gewaltbegriff und betrachtet auch das Monopol auf symbolische Gewalt als zentrales Machtmittel des Staates. Der Staat ist für ihn nicht nur Träger legitimer physischer Gewalt, sondern auch Instanz der Normsetzung, Klassifikation und Sichtbarmachung. Über Schule, Verwaltung, Polizei und Justiz erzeugt er „staatlich legitimierte Weltsichten“ – etwa, wer als „gefährlich“, „abweichend“ oder „schutzwürdig“ gilt.
Foucault: Disziplinierung statt Legitimation
Michel Foucault stellt in seinem Werk Überwachen und Strafen (1975) die klassische Gewaltmonopol-Theorie radikal infrage. Für ihn ist Macht nicht zentralisiert oder ausschließlich vom Staat monopolisiert, sondern dezentral, prozesshaft und in Körper eingeschrieben. Gewalt erscheint nicht nur als Zwangsmittel, sondern auch als Bestandteil von Disziplinierungsprozessen, die durch Gefängnisse, Schulen, Kliniken oder auch Polizeiorganisationen strukturell wirken.
Foucault beschreibt, wie moderne Gesellschaften weniger durch spektakuläre Gewaltakte (wie öffentliche Hinrichtungen) als durch permanente Überwachung und normierende Kontrolle operieren – etwa in Form von Aktenführung, Statistik, Kameraüberwachung oder standardisierten Kontrollgängen. In diesem Sinne ist polizeiliche Gewalt Teil einer Mikrophysik der Macht, die Subjekte formt, lenkt und korrigiert – nicht immer sichtbar, aber wirksam.
Fazit: Foucault verschiebt den Blick vom legitimen Gewaltmonopol zur Normalisierung durch Kontrolle. Staatliche Gewalt erscheint nicht als Ausnahme, sondern als regulierender Alltag – eingebettet in ein komplexes Netz von Machttechniken.
Fazit: Gewalt, Staat und Gesellschaft kritisch denken
Ob als legitimierter Zwang, disziplinierende Kontrolle oder symbolische Machtausübung: Gewalt bleibt ein ambivalentes Element moderner Gesellschaften. Die Analyse staatlicher Gewalt – besonders im Kontext der Polizei – verlangt daher eine interdisziplinäre Perspektive, die normative, empirische und machtanalytische Ansätze zusammenführt.
Podcast-Tipp
Prof. Dr. Jonas Grutzpalk im Gespräch mit dem Podcast Strategists of Social Change über die Rolle von Gewalt in politischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen:
Es ist keine schöne Erkenntnis, aber nichts führt an ihr vorbei: Gewalt kann ein entscheidender Faktor in sozialen Veränderungsprozessen sein […] Ob wir an die Iden des März in Rom, die Erstürmung der Bastille in Paris, Studierendenproteste in Südkorea oder die Eroberung Afghanistans durch die Taliban denken: Gesellschaftliche Akteure haben schon seit Menschengedenken Gewalt eingesetzt – um Macht zu bewahren oder zu erkämpfen, um sozialen Wandel zum Durchbruch zu verhelfen oder um ihn aufzuhalten.
Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von castbox.fm zu laden.
Quellen und weiterführende Informationen
- Derin, B. & Singelnstein, T. (2022). Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Berlin: Econ.
- Feltes, T. & Plank, H. (Hrsg.). (2021). Rassismus, Rechtsextremismus, Polizeigewalt. Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft.
- Imbusch, P. (2002). Der Gewaltbegriff. In: Heitmeyer, W. & Hagen, J. (Hrsg.) Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
- Lüdtke, A.; Reinke, H.; Sturm, M. (Hrsg.) (2011). Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert. Wiesbaden: Springer.
- Naplava, T. (2020). Polizei und Gewalt. In: Frevel, B. & Salzmann, V. (Hrsg.), Polizei in Staat und Gesellschaft. 2. Aufl. Hilden: Verlag Deutsche Polizeiliteratur.
- ROLAND Rechtsschutz-Versicherungs-AG (2017). ROLAND Rechtsreport 2018. Online: PDF-Download