Grundsätze der Methoden der empirischen Sozialforschung
Der Zweck und Nutzen der Methoden der empirischen Sozialforschung besteht in der Messung sozialen Verhaltens bzw. der Bestimmung von Einstellungen und Meinungen zu bestimmten Sachverhalten. Anders als in den Naturwissenschaften lassen sich soziale Tatsachen jedoch nicht mit einem Maßband, einer Waage oder einem Mikroskop bestimmen. Stattdessen setzt man innerhalb der empirischen Sozialforschung auf ein Set unterschiedlicher methodischer Zugänge. Diese Methoden der Messung werden disziplinenübergreifend immer dann angewandt, wenn Soziales bestimmt werden soll – unabhängig davon, ob die konkrete Fragestellung, die verfolgt wird der Soziologie, Kriminologie, Psychologie, den Politik-, Erziehungswissenschaften oder einem anderen Fach zugeordnet werden kann.
Die Methoden der empirischen Sozialforschung werden üblicherweise in die sog. quantitativen und qualitativen Methoden unterteilt.
- Die quantitativen Methoden „übersetzen“ das Soziale, das Gegenstand der Forschung ist, in quantifizierbare Variablen, sprich: numerische Daten. Auf diese Art lassen sich idealerweise Rangfolgen abbilden und Abstände bestimmen. Die Ergebnisse quantitativer Sozialforschung wird dann oftmals als Statistik präsentiert, die mit absoluten Häufigkeiten oder Prozentwerten arbeitet. Quantitative Methoden setzen dabei häufig auf ein großes Untersuchungssample. Die Vielzahl an untersuchten Objekten wird z.B. dann benötigt, wenn ein Ergebnis als repräsentativ für die Grundgesamtheit gelten soll. Ein Beispiel für die Anwendung quantitativer Methoden der empirischen Sozialforschung ist die Durchführung einer sog. standardisierten Befragung, wobei die Befragungsergebnisse statistisch ausgewertet werden.
- Im Gegensatz hierzu benötigen die qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung nur ein kleines Untersuchungssample (im Extremfall: N=1 bei einer Einzelfallanalyse). Der Anspruch der Repräsentativität der Ergebnisse besteht hier nicht. Stattdessen wird versucht, ergebnisoffen die qualitative Ausprägung des Untersuchungsgegenstandes zu ermitteln. Die Methoden der qualitativen Sozialforschung kommen zum Beispiel dann zum Einsatz, wenn Forschende eine neues Untersuchungsfeld erkunden und mögliche Ausprägungen des Untersuchenden Phänomens ermitteln möchten. Ein Beispiel für die Anwendung qualitativer Methoden der empirischen Sozialforschung wäre die Durchführung eines oder mehrerer sog. Experteninterviews und die anschließend inhaltsanalytische Auswertung.
Forschende rechnen sich selbst oft einem der beiden Lager zu und stehen dem jeweils anderen Lager kritisch gegenüber. Verfechterinnen und Verfechter einer quantitativen Sozialforschung werfen der Gegenseite häufig vor, keine belastbaren, d.h. keine repräsentativen Daten zu produzieren. Zudem wird der Vorwurf erhoben, die Methoden der qualitativen Sozialforschung seien beliebig und wenig objektiv.
Im Gegensatz hierzu werfen Vertreterinnen und Vertreter der qualitativen Sozialforschung der Gegenseite fehlende Validität der Ergebnisse vor. Die durch statistische Verfahren ermittelte Ergebnisse suggerierten eine Exaktheit, die den Prozess der Operationalisierung sozialer Konstrukte und damit ggf. im Zusammenhang stehende Messungenauigkeiten verschleierten (siehe unten und ausführlich hier: https://soztheo.de/forschung/standardisierte-befragungen/#operationalisierung_und_das_problem_der_fehlenden_validitaet).
In der Forschungspraxis werden qualitative und quantitativen Verfahren der empirischen Sozialforschung häufig kombiniert. So können beispielsweise mittels qualitativer Verfahren Hypothesen generiert werden, die dann unter Zuhilfenahme quantitativer Verfahren auf ihre Gültigkeit untersucht werden können.
Deduktion vs. Induktion
Jede Methode der empirischen Sozialforschung steht in einer Wechselbeziehung zu theoretischen Annahmen und folgt strikt den Gütekriterien wissenschaftlichen Arbeitens.
Zu Beginn eines Forschungsprozesses bestimmen theoretischen Grundannahmen die Wahl der geeigneten Methode. Zum Abschluss der empirischen Forschung wird das Ergebnis im Idealfall wieder in die „Aggregatform“ einer Theorie überführt. Anders ausgedrückt ließe sich sagen, dass Erkenntnisse über einen grundsätzlichen Zusammenhang (Theorie) angewendet und übertragen werden auf einen erfahrbaren Einzelfall (oder Gruppe von Einzelfällen) (Empirie), um die dort gemachten Beobachtungen erneut zu einer Aussage über einen grundsätzlichen Zusammenhang zu verdichten (Theorie). Wird hierbei von einem Einzelfall auf eine Gesetzmäßigkeit geschlossen, spricht man von einer Induktion (oder einem induktiven Verfahren); wird umgekehrt von einer Gesetzmäßigkeit auf einen Einzelfall geschlossen, spricht man indes von Deduktion (oder einem deduktiven Verfahren).
Skalenniveaus und das Problem der Messung
Empirische Wissenschaften generieren Wissen (Wissen-schaffen) durch Beobachtungen und Messungen der Umwelt bzw. des Sozialen. Wie weiter oben bereits angedeutet, unterscheidet sich die wissenschaftliche Bedeutung des Wortes „messen“ dabei jedoch vom alltagssprachlichen Gebrauch. Wenn wir im Alltag messen (z.B. ein Gewicht, die Zeit, eine Länge usw.), dann handelt es sich stets um quantifizierbare Daten. Damit verbunden ist die Möglichkeit, unterschiedliche Messergebnisse in einer sinnvoller Rangfolge anzuordnen (von leicht zu schwer, von früh zu spät, von kurz zu lang usw.). Die Einheiten, in denen wir im Alltag messen, lassen es zudem zu, sinnvolle Intervalle zu bilden, bei denen regelmäßige, gleichbleibend große Abstände zu den nächstgrößeren Einheiten gebildet werden können (z.B. sind 2 kg doppelt so schwer wie 1 kg; der Abstand von 14:00 Uhr zu 15:00 Uhr ist genauso groß wie der Abstand von 15:00 Uhr zu 16:00 Uhr; 100 Zentimeter sind genau 1 Meter – 200 Zentimeter sind 2 Meter usw.). Schließlich ist diesen alltagspraktischen Messungen gemein, dass die verwendeten Skalen einen Nullpunkt aufweisen, der einen empirischen Sinn hat (etwas, das 0 Gramm wiegt, verhält sich zu einem Gegenstand, der 1 Gramm wie, so wie sich zwei Gegenstände zueinander verhalten, die 1 und 2 Gramm wiegen; entsprechend ließe sich auch für Zeitangaben und Längenmaße argumentieren).
Was auf den ersten Blick trivial erscheint, ist für die empirische Sozialforschung ein Problem. Denn hier stehen Wissenschaftler oft vor dem Problem, Dinge zu messen, die sinnlich nicht unmittelbar erfahrbar sind, sondern bei denen es sich um soziale Konstrukte handelt. Nehmen wir zum Beispiel an, dass wir die Kriminalitätsfurcht messen möchten, macht die Aussage, Proband A habe 3 Furcht, keinen Sinn. Auch das Verhältnis von 3 Furcht zu 6 Furcht erscheint unsinnig. Schließlich ist es fraglich, ob Furcht einen „Nullpunkt“ hat. Aber natürlich können wir dennoch Furcht empfinden und diese Empfindung auch beschreiben. Jedoch ist das Gefühl der Furcht subjektiv und ein objektiver Maßstab erscheint fraglich. Eine Messung kann insofern nicht unmittelbar nach quantitativen Maßstäben erfolgen, sondern das Ausmaß der empfundenen Kriminalitätsfurcht muss entweder qualitativ beschrieben werden oder Kriminalitätsfurcht muss in Merkmale „übersetzt“ werden (man spricht hier von der Operationalisierung; hierzu s.u.), die unmittelbar quantifizierbar sind. Ähnliches Problem besteht auch hinsichtlich der Messung anderer sozialer Konstrukte wie z.B. Glück, Zufriedenheit, Liebe, Fremdenfeindlichkeit, Kriminalität usf.
Um dieses Problem zu adressieren unterscheidet man bei wissenschaftlichen Messungen zwischen folgenden Mess- bzw. Skalenniveaus:
Nominalskala
Nominalskalierte Merkmale weisen keine natürliche Ordnung oder Rangfolge auf. Einziges Ordnungskriterium ist die Gleichheit bzw. Verschiedenheit. Ein Beispiel für ein nominalskaliertes Merkmal wäre z.B. das Geschlecht mit den Ausprägungen männlich, weiblich und divers. Im Forschungsprozess können diese Merkmale im Rahmen der Operationalisierung kodiert werden (also z.B.: männlich = 1; weiblich = 2; divers = 3). Allerdings verbieten sich weitere Rechenoperationen [z.B. ergibt die Aussage 1 (=männlich) + 1 (=männlich) = 2 (=weiblich) in diesem Fall keinen Sinn].
Ein weiteres häufig zu findendes Beispiel für nominalskalierte Merkmale ist die Ausprägung ja/ nein.
Ordinalskale
Auch für ordinalskalierte Merkmale gilt, dass sie durch Gleichheit bzw. Verschiedenheit der Ausprägung charakterisiert werden können. Zusätzlich und im Gegensatz zu nominalskalierten Merkmale können ordinalskalierte Variablen in eine logische Rangfolge gebracht werden. Diese könnte zum Beispiel lauten: kleiner – größer; sehr oft – oft – manchmal – selten – nie usw. Auch hier gilt, dass keine Rechenoperationen durchgeführt werden können, wenn die Merkmalsausprägungen durch Zahlen kodiert werden.
Intervallskala
Für Intervallskalierte Merkmale gilt das Vorhergesagte. Zusätzlich zur Rangfolge, die die die Merkmalsausprägungen gebracht werden können, gilt für intervallskalierte Daten, dass die Abstände (Intervalle) zwischen den Merkmalsausprägungen gleich groß sind. Dieser Umstand lässt es zu, dass hier Rechenoperationen zulässig sind. Ein Beispiel für intervallskalierte Daten ist die Temperaturangabe nach ° Celsius. Der Abstand zwischen 3° C und 6 ° C ist genauso groß wie der Abstand zwischen 6° C und 9° C. Einzige Einschränkung bei intervallskalierten Daten ist das Fehlen eines natürlichen Nullpunktes. Der Nullpunkt aus der Celsius-Skala ist willkürlich gesetzt. Der Gefrierpunkt von Wasser hätte ebenso gut 10° oder 50° C markieren können. Bei der Kelvin-Skala hingegen markiert der Nullpunkt, den absoluten – natürlichen – Nullpunkt. Die Aussage 20° ist doppelt so warm wie 10° macht unter Bezugnahme der Celsius-Skala keinen Sinn – wird die Aussage auf die Kelvin-Skala bezogen ist Sie hingegen logisch richtig.
Ratio-Skala
Die Ratioskala ist das höchste Skalenniveau. Es gelten hier alle bei den zuvor benannten Skalenniveaus aufgezählte Bedingungen. Ebenso wie bei der Intervallskala liegt hier eine metrische Skala vor. Hinzu kommt, dass ein absoluter Nullpunkt bestimmbar ist. Beispiele wären hier Gewicht, Alter, Zeit, Preis, Entfernung usw. Aussagen wie 10 Euro ist halb so viel wie 20 Euro sind logisch richtig. Ein Abgabepreis von 0 Euro/ kostenlos würde in diesem Beispiel den Nullpunkt darstellen.
Operationalisierung
Die Operationalisierung bezeichnet die Messbarmachung von Konstrukten. Sie ist ein wichtiger Schritt im Forschungsprozess und hat erheblichen Einfluss auf die Reliabilität und Validität der Messung. In der empirischen Sozialforschung besteht (im Gegensatz zu den Naturwissenschaften) die Aufgabe in der Messung von Daten, die natürlicherweise nicht quantifiziert werden können (siehe oben). Mit der Operationalisierung wird dieses Problem umgangen, indem (messbare) Indikatoren festgelegt werden, die stellvertretend für das eigentlich im Fokus stehende Merkmal, gemessen werden.
Beispiel
Angenommen, wir möchten untersuchen, inwiefern Menschen glücklich sind, macht es keinen Sinn Glück zu quantifizieren. Die Aussage „Ich habe 2 Glück. Mein Nachbar ist doppelt so glücklich wie ich, denn er hat 4 Glück.“ ergibt keinen Sinn.
Die Forschenden müssen jetzt also nach geeigneten Indikatoren suchen, von denen sie überzeugt sind, dass sie Ausdruck von Glücklich- bzw. Nicht-Glücklich-Sein sind. So könnte vermutet werden, dass die Höhe des Einkommens in einem Zusammenhang mit dem Glücksempfinden steht. Einkommen ließe sich als metrisch verteiltes Merkmal erheben und berechnen. Aussagen wie, „Mein Nachbar verdient x Euro und damit doppelt soviel wie ich.“, sind zulässig. Allerdings haben wir jetzt einen Indikator beschrieben, von dem wir meinen, dass er im Zusammenhang mit unserem eigentlichen Untersuchungsgenstand „Glück“ steht. Unsere Forschungsarbeit wäre somit mit Sicherheit noch nicht valide, da wir zwar vorgeben Glück gemessen zu haben – tatsächlich jedoch nur eine Einkommensverteilung erhoben haben. Daher wäre es erforderlich weitere Indikatoren zu ermitteln, die einen Einfluss auf das Glücksempfinden haben. Dies könnten vielleicht Gesundheit/ Krankheit; die soziale Situation; berufliche Situation; Zukunftsaussichten usw. sein.
Forschungsfragen dieser Art sind aber auch gut geeignet, für qualitative Forschungsarbeiten. So ließen sich in einer explorativen Forschung im Rahmen von Interviews Indikatoren ermitteln
Weiterführende Informationen
- Hollenberg, S. & Kaup, C. (2023). Empirische Sozialforschung für die Polizei- und Verwaltungswissenschaften. Wiesbaden: Springer.