Anomietheorien beschäftigen sich mit der Frage, warum in bestimmten Gesellschaften oder historischen Epochen Normbrüche deutlicher auftreten als in anderen. Im Augenmerk der Betrachtung steht die Verknüpfung von Kriminalität mit der Sozialstruktur der Gesellschaft. Kriminalität entsteht gemäß der Anomietheorien insbesondere als Folge des Drucks, der von der Ungleichverteilung der sozio-ökonomischen Ressourcen in der Gesellschaft ausgeht. Anomie (wörtlich: Gesetzlosigkeit) lässt sich somit als gestörte Stabilität in der Gesellschaft aufgrund deren Ungleichheit in der Sozialstruktur bzw. fehlenden individuellen oder kollektiven Anpassungsstrategien an sich verändernde soziale Tatbestände bezeichnen.
Kontext
Als Wegbereiter der Anomietheorie gilt Emile Durkheim, der 1893 erstmals den Begriff der Anomie in die Soziologie einführte und darunter eine Form der Regellosigkeit in Gesellschaften verstand. Durkheim prägte den Begriff Anomie, um die pathologischen Auswirkungen der sich im Frühindustrialismus rasch entwickelnden Sozial- und Arbeitsteilung zu beschreiben. Die damit einhergehende Schwächung der Normen und Regeln für die Allokation von Waren führe zu einem verschärften Wettbewerb um die steigenden Prosperitätsgewinne.
Besteht eine Diskrepanz zwischen kulturellen (vorrangig ökonomischen) Zielen und gegebenen Möglichkeiten diese Ziele zu verwirklichen, erwächst hieraus eine strukturelle Belastung. Normschwächung, Anomie und schließlich eine erhöhte Kriminalitätsrate sind die Folge.
Als Hauptvertreter der Anomietheorie gilt hingegen Robert Merton, dessen Erläuterungen zur Anomie 1938 unter dem Einfluss der Theoretiker der Chicagoer Schule entstanden. Diese führten Merton zur Auseinandersetzung mit dem Thema „soziale Integration“ und der Notwendigkeit von Kontrolle menschlichen Verlangens. Anders als Durkheim rückte Merton die Diskrepanz vorgegebener Ziele und sozialstrukturell nur bedingt vorhandener Mittel in den Vordergrund seiner Überlegungen. Seine Thesen sind bis heute die mit am meist beachtesten in der Kriminologie und Kriminalsoziologie. So wurden sie häufig in andere Kriminalitätstheorien integriert (wie bei Cohens Subkulturtheorie, Cloward & Ohlins Theorie der differentiellen Gelegenheiten oder Greenbergs Alterstheorie) oder aber beispielhaft für alle Arten der ätiologischen Kriminalitätserklärung kritisiert (wie durch den Labeling Approach geschehen).
Zudem erfuhr die Anomietheorie einige Neuformulierungen und erweiternden Interpretationen: Rosenfeld & Messner beschäftigten sich mit dem Thema der Anomie, weil sie Mertons Ausführungen nicht befriedigend empfanden: In ihrer Institutionellen Anomietheorie erweitern sie das Anomiekonzept um die Einflüsse von Ökonomie und gesellschaftlicher Institutionen.
Auch Robert Agnews Ausführungen zur General Strain Theory basieren auf Mertons Anomietheorie. Im Gegensatz zu Merton, der das Auftreten anomischer Zustände ausschließlich von der Verteilung und dem Zugang zu ökonomischen Ressourcen abhängig erklärt, benennt Agnew auch andere, vielfältige Faktoren, die ursächlich für Stress und Belastung (strain) und somit für Kriminalität sein können.