Lerntheorien gehen davon aus, dass sowohl abweichende wie auch konforme Verhaltensweisen in Interaktionen mit anderen Gesellschaftsmitgliedern erlernt werden.
Als Kriminalitätstheorien erklären lerntheoretische Ansätze Delinquenz als Verhaltensweisen, die prozesshaft in Gruppen und Gemeinschaften weitergegeben werden. Kriminelle Verhaltensweisen werden somit genauso und durch die gleichen Mechanismen erlernt wie jede andere Verhaltensweise auch. Zu unterscheiden ist lediglich der Inhalt dessen, was erlernt wird. Diese Vorstellung kann als Gegenposition zu einer rein statischen Annahme des entweder kriminell Seins oder Nicht-Seins bezeichnet werden.
Der Ursprung von kriminellem Verhalten liegt also in dem Erlernen von kriminellen Trieben, Rationalisierungen und Techniken, aber auch abweichenden Motiven und Ideologien. Abweichendes Verhalten erfordert demnach auch vorausgehende Übung.
Die meisten Lerntheorien der Kriminologie ähneln sich in der Weise, insofern das Lernen anhand eines Modells oder verschiedener mehrerer Modelle stattfindet. Entscheidend sind demnach die Personen, von denen Verhalten erlernt wird, und das soziale Umfeld, in dem diese Prozesse stattfinden.
Kontext
Lerntheorien in der Kriminologie sind historisch betrachtet das Ergebnis der Chicago School einerseits und erster Erkenntnisse aus der lernpsychologischen Forschung andererseits.
Schon im 19. Jahrhundert gab es durch Gabriel Tardes Theorie der Imitation Versuche, Kriminalität mit Lern- und Nachahmungsprozessen zu erklären.
Kriminelles Verhalten wird (ebenso wie normenkonformes) erlernt. Der Lernprozess findet in sozialen Gruppen, Subkulturen oder auch durch die Medien vermittelt statt. Neben Fähig- und Fertigkeiten, die kriminelles Verhalten ermöglichen, werden auch Rechtsfertigungsstrategien und Neutralisationstechniken erlernt.
Doch erst Edwin Sutherlands Theorie der differentiellen Assoziationen aus den 1930er Jahren brachte die Theorien des sozialen Lernens in die kriminologische Diskussion. Sutherland war direkt beeinflusst von den sozialökologischen Überlegungen der Chicago School um Park, Burgess, Shaw, McKay und anderen, welche die Ursache von Kriminalität nicht in der Biologie oder Persönlichkeit des Täters suchten, sondern in deren Umfeld. Noch mehr als jene wandte sich Sutherland entschieden gegen die biologische Sichtweise und postulierte, kriminelles Verhalten sei prozesshaft erlernt und nicht geerbt.
Seine zentrale These (Abweichendes Verhalten wird dann gelernt, wenn Einstellungen überwiegen, die Gesetzesübertretungen begünstigen) steht in direkter Verbindung zur Theorie der sozialen Desorganisation, in denen von Wohngebieten die Rede ist, in denen überwiegend kriminelle Einstellungen vorzuliegen scheinen. Sutherland beschreibt somit, welche Prozesse es sind (nämlich: Soziales Lernen), die delinquentes Verhalten in desorganisierten Sozialräumen – aber auch sonst – letztendlich entstehen lassen.
Erweiterungen und Veränderungen hat Sutherlands Theorie über die Jahre hinweg durch ihn selbst, durch Glasers These der differentiellen Identifikation und vor allem durch Cloward & Ohlins Theorie der differentiellen Gelegenheiten erhalten.
Akers soziale Lerntheorie, einige Jahrzehnte später entstanden, bezieht die nunmehr in der Lernpsychologie etablierten Konzepte der operanten Konditionierung, des Lernens am Modell nach Bandura und des Behaviorismus nach Skinner in die Überlegungen von Kriminalität als erlerntes Phänomen mit ein.
Eysencks biosoziale Thesen beziehen hingegen Prozesse der Klassischen Konditionierung bei der Suche nach dem Entstehen kriminellen Verhaltens mit ein.
Ebenfalls zu den Lerntheorien werden in der Regel die sogenannten Subkulturtheorien gerechnet, da auch hier von Lern- und Imitationsprozessen innerhalb von Subkulturen und hinsichtlich der Gründung solcher ausgegangen wird.
Thrasher und Whyte machten (ebenfalls im Zuge der Chicago School) als Erste darauf aufmerksam, dass in instabilen Stadtteilen nicht soziale Desorganisation, sondern Subkulturen vorherrschen: Von der Gesamtgesellschaft losgelöste Systeme mit ganz eigenen Strukturen, Werten und Normen, welche somit auch kriminelle Verhaltensweisen als normal betrachten können. Nach heutiger Ansicht kommt jedoch Cohen das Verdienst zu, sich als erster mit devianten Subkulturen im Rahmen einer Kriminalitätstheorie auseinandergesetzt zu haben. Abänderungen erfuhr sie unter anderem durch Miller und Yablonski.
Einen Sonderfall stellt zudem Sykes und Matzas Neutralisierungsthese dar, welche weniger eine Kriminalitätstheorie als vielmehr ein Konzept ist, daß Techniken und Strategien zur Rechtfertigung von Straftaten durch die Straftäter in den Mittelpunkt rückt. Unter die Lerntheorien wird die These zumeist deshalb eingeordnet, weil sie Sutherlands Begriff der Rationalisierungen aufgreift, welcher nahe legt, daß eben auch die Techniken zur Neutralisation begangener Straftaten erlernt und geübt werden müssen.