Rationale Kriminalitätstheorien, oft auch als neoklassische Kriminalitätstheorien bezeichnet, nehmen den Standpunkt ein, dass Kriminalität auf rationalen Entscheidungen basiert, bei denen die Willensfreiheit des Individuums und dessen persönliche Verantwortung für das eigene Handeln im Mittelpunkt stehen. Im Gegensatz zu ätiologischen Theorien, welche einen Determinismus des Individuums betonen, gehen rationale Kriminalitätstheorien davon aus, dass Kriminelles Verhalten das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Abwägung willensfreier Akteure ist.
Die Grundannahme dieser Theorien ist, dass Kriminalität rational ist, wenn der erwartete Nutzen einer kriminellen Handlung die erwarteten Kosten übersteigt. Kriminalpolitisch gesehen bedeutet dies, dass die Kontrolle der Kriminalität durch die Erhöhung der Kosten für Kriminelle erreicht werden kann, zum Beispiel durch die Androhung und Umsetzung härterer und unmittelbarer Strafen.
Ein weiterer zentraler Aspekt rationaler Kriminalitätstheorien ist die Annahme, dass alle Menschen gleich sind und sich somit lediglich durch ihre Handlungen unterscheiden. Kriminelle können also nur aufgrund ihrer begangenen Tat von Nicht-Kriminellen differenziert werden. Daher bezeichnete man schon die rational orientierte, Klassische Schule als tatorientiert und nicht – wie unter ätiologischem Paradigma – als täterorientiert. Das Hauptaugenmerk der rationalen Theorien liegt demnach auf der Situation, in der das Verbrechen begangen wird.
Zusammenfassend ist nach rational orientierter Auffassung also Kriminalität das Ergebnis freier und rationaler Wahlentscheidungen der Menschen in unterschiedlich abzuwägenden Situationen.
Kontext der rationalen Kriminalitätstheorien
Rationale Kriminalitätstheorien reichen geschichtlich in die Entstehungsphase der Kriminologie zurück. Die sogenannte Klassische Kriminologie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird in den meisten modernen kriminologischen Lehrbüchern als der Beginn kriminologischen Denkens bezeichnet. Der klassische Ansatz ist in Ablehnung von im Mittelalter vorherrschenden spiritistischen und dämonologischen Erklärungsmustern, jedoch in Anlehnung an berühmte Staats- und Rechtsphilosophen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts wie Hobbes, Locke, Rousseau und anderen, ein Produkt der Aufklärung. Der Mensch erscheint hier als vernunftbegabtes und eigenverantwortliches Wesen, welches Anspruch auf ein gerechtes und angemessenes Justiz- und Strafsystem hat.
Wer als Vertreter Vertreter der Klassischen Schule der Kriminologie gilt, variiert in der Literatur sehr stark je nach Rezipient, da in dieser geschichtlichen Epoche die Abgrenzungen zwischen Strafrechtler, -dogmatiker, Rechtsphilosoph und Kriminologe noch sehr schwierig ist. Einheitlich lässt sich jedoch Cesare Beccaria als zentrale Figur der Klassischen Schule bezeichnen; des Weiteren sind Howard, Bentham, Romilly, Feuerbach, Peer, Pufendorf und andere zu nennen.
Seit dem Aufkommen der positivistischen Kriminalanthropologie und biologischer Kriminalitätstheorien sind die Ideen der Klassische Schule der Kriminologie und rationale Kriminalitätstheorien immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden.
Jedoch findet die Vorstellung des freien, rationalen und autonomen Menschen ihre zeitgemäße Entsprechung in der ursprünglich ökonomischen Theorie der rationalen Wahlhandlung („Rational Choice Theory“), welche längst auch Einzug in die Soziologie und Kriminologie gefunden hat. Vertreter der sogenannten Abschreckungstheorien benutzen indes für ihre kriminalpolitisch angelegten Ansätze genau jene Axiome der rationalen Theorien: der Kriminelle handle aus freiem Willen und wägt rational die Kosten und Nutzen seiner Tat ab. Vergleichbar argumentiert hier auch der „Routine Activity Approach“, wobei hier situations- und tatorientierte Merkmale betont werden und die individuelle Abwägung eines Täters eine untergeordnete Rolle spielt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die rational-situationsbezogene Kriminologie, die sich auf den freien Willen und die Rationalität des Menschen stützt, einen wichtigen Platz in der Geschichte der Kriminologie einnimmt. Auch heute noch wird sie häufig diskutiert, obwohl die positivistisch, ätiologische Ansätze die Suche nach den Ursachen von Kriminalität seit vielen Jahren dominieren. Zudem gibt es Autoren, die Beccaria als einen Vorläufer des Labeling Approach bezeichnen, da sowohl in der klassischen als auch in der kritischen Kriminologie die rein ätiologische Sichtweise abgelehnt und betont auf die Gleichheit aller Menschen hingewiesen wird.
Abschließend sei noch eine andere Gruppe neoklassischer Theorien angedeutet: In der Literatur werden Begriffe wie „Neoklassik“ oder „Neoklassizismus“ zumeist als Oberbegriffe für die oben erwähnten, rationalen Theorien (Rational Choice Ansatz, Abschreckungstheorie, Routine Activity Approach) verwendet. Ab und an wird jedoch auch von einer davon unabhängigen neoklassischen Schule des neunzehnten Jahrhunderts gesprochen, welche ausgehend von der Annahme eines freien Willens des Menschen damit begann, zusätzliche (z.B. äußere) Faktoren, die die individuelle Entscheidung beeinflussen können, ebenfalls zu berücksichtigen. Das aktuell geltende Strafrecht kann durchaus als Ergebnis dieser neoklassischen Theorien gesehen werden: Verurteilt werden grundsätzlich freie und rational denkende Menschen, die mitunter jedoch von inneren und äußeren Einwirkungen einen Teil ihrer Autonomie verlieren können.
Theorie | HauptvertreterInnen | Kernaussage |
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Klassische Schule der Kriminologie | ||
Cesare Beccaria Jeremy Bentham | Menschen verfügen über einen freien Willen und handeln rational. Demnach ist ein Handeln wahrscheinlich, wenn es mehr Nutzen/ Lust als Kosten/ Schmerz verspricht. Gesetzliche Strafen dürfen nur so streng sein, dass sie den Einzelnen davon abhalten, ein Verbrechen zu begehen, und nicht darüber hinaus. | |
Neoklassische Theorien | ||
Rational Choice Theorien | Gary Becker Derek B. Cornish Ronald V. Clarke | Straftäter begehen Straftaten aufgrund des Nutzens, den sie daraus ziehen. Bei der Entscheidung, ob sie eine Straftat begehen, wägen sie ab, ob der potenzielle Nutzen die potenziellen Kosten übersteigt. Da Straftäter nicht immer die Zeit oder die Möglichkeit haben, alle für ihre Entscheidung relevanten Informationen zu sammeln und zu analysieren, ist ihre Entscheidungsfindung manchmal unvollkommen. |
Abschreckungstheorie | Potenzielle und tatsächliche gesetzliche Strafen können von Verbrechen abschrecken. Die allgemeine Abschreckung bezieht sich auf die Abschreckung potenzieller Straftäter, weil sie eine Verhaftung und/oder Bestrafung fürchten; die spezifische Abschreckung bezieht sich auf die Abschreckung verurteilter Straftäter, weil sie nicht noch einmal verhaftet und/oder bestraft werden wollen. | |
Routine Activity Approach | Lawrence E. Cohen Marcus Felson | Verbrechen und Viktimisierung sind wahrscheinlicher, wenn drei Faktoren gleichzeitig vorhanden sind: (1) motivierte Täter, (2) geeignetes Ziele und (3) Fehlen ausreichender Schutzmaßnahmen. Die Entwicklung der Kriminalität lässt sich durch Veränderungen in Bezug auf geeignete Ziele und Überwachung erklären. |