Theorien, die zumeist als Entwicklungstheorien bezeichnet werden (auch unter den Namen kriminologischen Verlaufsforschung oder im Englischen: Life-Course oder Developmental Criminology), haben gemeinsam, Kriminalität und deren Ursache prozesshaft, und nicht als einzelne Ereignisse zu sehen. Die hier vorgestellten Theorien beziehen also, grob gesagt, die Variable „Zeit“ in ihre Überlegungen mit ein.
Demnach sind kriminelle Entwicklungen vom Lebenslauf und vom Alter der entsprechenden Person, aber auch von der ständig sich ändernden Umwelt und deren Einflussfaktoren abhängig. Zudem wird davon ausgegangen, dass viele Verbrechen Folge von sogenannten kriminellen Karrieren sind, welche sich ebenso über längere Zeiträume hinweg erst entwickeln und dabei immer abhängig von der delinquenten Person, sowie abhängig von den Mitmenschen und der Umwelt um jene herum sind.
Entwicklungstheorien sind daher in der Regel Ansätze, die viele verschiedene Faktoren als gemeinsame Ursachen für Kriminalität ausmachen. Dies geschieht jedoch nicht rein additiv (wie bei klassischen Mehrfaktorenansätzen der Fall), sondern entlang einer Zeitachse, auf der bestimmte Faktoren zu anderen führen beziehungsweise erst zu bestimmten Zeitpunkten auftreten können.
Typisch ist auch, dass Ereignisse zu mehreren unterschiedlichen Ergebnissen führen können, wobei es dann Aufgabe der Entwicklungstheorien ist, herauszufinden, wann und warum welches Ergebnis eingetreten ist.
Kontext
Die Entwicklungskriminologie hat ihre Wurzeln unter anderem in den vom Ehepaar Glueck & Glueck durchgeführten Längsschnittstudien. Erstmals wurde hier auf Veränderungen von sowohl abweichenden als auch normkonformen Personen zu unterschiedlichen Lebenszeitpunkten aufmerksam gemacht. Ziel der Studien war es damals jedoch noch, additive Einzelfaktoren für die Entstehung kriminellen Verhaltens ausfindig zu machen.
Die Ursache von Kriminalität liegt in einem Entwicklungsprozess begründet, der vor der Geburt einsetzt und sich über die gesamte Lebensspanne erstreckt. Individuelle und soziale Faktoren sind für den Beginn, das Ende und die Dauer einer kriminellen Karriere verantwortlich.
In der Folgezeit gab es mehrere voneinander unabhängige Studien und Theorien, die sich jedoch genau entgegen dieser statischen Auffassung von Verbrechensursachen für die Entwicklung individueller und für die Veränderung umweltlicher Faktoren interessierten. So verstand beispielsweise David Matza Abweichung und Konformität als Resultate eines zeitabhängigen Hinein- und Hinausgleitens in die und aus der Kriminalität (Delinquency and Drift).
Auf die signifikante Rolle des Alters bei der Entstehung von Devianz machte erstmals Greenberg in seiner Alterstheorie aufmerksam: der anomische Druck (gemäß der Anomietheorie von Merton) variiere je nach Lebensabschnitt und sei im Jungendalter besonders hoch.
Nach Thornberrys Wechselwirkungstheorie ist die hohe Kriminalitätsbelastung im Jugendalter hingegen mit schwachen sozialen Bindungen, wie sie aus Hirschis Bindungstheorie übernommen wurden, zu erklären (low attachment to parents, low commitment to school, no belief in conventional values). Kriminelles Verhalten beeinflusse diesen Mangel an sozialen Bindungen und es komme somit zu einer Wechselwirkung zwischen Kriminalität und der Integration in die Gesellschaft, welche sich jedoch in höherem Alter verfestige und damit kriminalitätshemmend wirke.
Die unbestritten bekannteste Entwicklungstheorie stellt die Age-Graded Theory von Sampson & Laub dar, welche als Fortführung von Thornberrys Wechselwirkungsansatz gesehen werden kann und an die Ergebnisse von Glueck & Glueck anknüpft. Mit ihren Ausführungen zur altersabhängigen informellen Sozialkontrolle und der Möglichkeit zur stetigen Veränderung im individuellen Lebenslauf übten Sampson & Laub Kritik an Hirschis Bindungstheorie, welche besagt, dass die Freiheit der Jugendlichen früh genommen werden und eine schnelle Einbindung in Institutionen geschehen müsse, damit keine Gelegenheit zur Delinquenz gegeben sei, sowie an der ebenfalls mit der Entwicklungskriminologie verwandten Two-Path Theory von Terri Moffit, welche der Auffassung ist, dass Kriminalität entweder kontinuierlich oder phasenweise geschehe, beides jedoch nicht möglich sei.
Im Zuge der Labeling-Theorien und vor allem durch ihre Vertreter Becker und Lemert entstanden ab den 70er Jahren neue und andere Formen von Entwicklungsansätzen, welche sich den so genannten „kriminellen Karrieren“ von Abweichlern widmen. Im deutschen Sprachraum sind hier vor allem Stephan Quensels und Henner Hess‘ Karrieremodelle zu nennen, wobei letztere später zur allgemeinen sozialkonstruktivistischen Theorie verarbeitet wurde, in der der Lebenslauf des handelnden Individuums nur einen kleinen Teil der zu erklärenden Faktoren rund um das Thema Kriminalität darstellt.
Dieter Hermann verknüpft indes die Variable Alter mit unterschiedlichen Wertorientierungen, welche für kriminelle Handlungen entscheidend seien. Sein voluntaristisches Modell kann demnach auch in die Lebenslauftheorien eingeordnet werden.
Weiterführende Informationen
- Boers, K. (2019). Delinquenz im Altersverlauf. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 102(1), S. 3-42.
- Carlsson, C.; Sarnecki, Jerzy (2015). An Introduction to Life-Course Criminology. London u.a.: Sage.
- Stelly, W.; Thomas, J. (2005). Kriminalität im Lebenslauf. Eine Reanalyse der Tübinger-Jungtäter-Vergleichsuntersuchung (TJVU). TOBIAS-lib, Universitätsbibliothek Tübingen.