Dimensionen der Kriminalitätsfurcht
Kriminalitätsfurcht setzt sich aus unterschiedlichen Komponenten zusammen. Hierbei spielt ein Wissen um das tatsächliche Kriminalitätsaufkommen ebenso eine Rolle wie eine – begründete oder auch unbegründete – Furcht, Opfer eines Verbrechens zu werden.
Soziale Kriminalitätsfurcht
Die soziale Kriminalitätsfurcht bezieht sich auf die Wahrnehmung von Kriminalität als ein gesellschaftliches Problem. In empirischen Untersuchungen werden zur Einschätzung dieser sozialen Dimension der Kriminalitätsfurcht beispielsweise die Einschätzung der Entwicklung der Kriminalität in Deutschland abgefragt oder das Strafbedürfnis (z.B. Anwendung der Sicherungsverwahrung, Senkung/ Erhöhung von Höchststrafen, usw.) der Befragten ermittelt.
Personale Kriminalitätsfurcht
Im Gegensatz zur sozialen Kriminalitätsfurcht erfasst die personale Kriminalitätsfurcht die Einschätzung, persönlich Opfer einer Straftat zu werden. Hierbei unterscheidet man zu analytischen Zwecken drei Komponenten:
Kognitive Komponente
Die kognitive oder verstandesbezogene Kriminalitätsfurcht umfasst die individuelle Risikoeinschätzung im persönlichen Nahbereich Opfer einer Straftat zu werden.
Affektive Komponente
Die affektive oder gefühlsbezogene Komponente der Kriminalitätsfurcht umfasst ein latentes, d.h. deliktsunspezifisches Unsicherheitsgefühl oder auch die Furcht, Opfer eines spezifischen Deliktes zu werden. Das Unsicherheitsgefühl kann dabei unabhängig von der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung im sozialen Nahbereich sein.
Konative Komponente
Mit der konativen Komponente wird zum einen das Ergreifen konkreter Schutzmaßnahmen (z.B. Einbau von technischen Diebstahlssicherungen, Kauf einer Waffe zum Zweck der Selbstverteidigung) und zum anderen ein Vermeideverhalten beschrieben. Beispielweise kann infolge einer Viktimisierungsfurcht ein bestimmter Ort gemieden werden.
Zusammenhang der Ebenen und Relevanz der Begriffe Brennpunkt und Angstraum
In der Praxis spielen die drei Ebenen der personalen Kriminalitätsfurcht oft ineinander. Wer Kenntnis über eine starke Kriminalitätsbelastung eines Raumes hat (kognitive Ebene), bei dem wird sich dieses Wissen in der Regel auch auf sein emotionales Erleben auswirken und der Raum mit einem unguten, mulmigen Gefühl aufgesucht (affektive Ebenen). Auch ist denkbar, dass der besagte Raum von nun an weitestgehend gemieden (konative Ebene – Vermeideverhalten) oder aber nur in Begleitung oder gar bewaffnet betreten wird (konative Ebene – Schutzverhalten).
Das Zusammenspiel der drei Ebenen ist aber keine Zwangsläufigkeit. Ebenso ist vorstellbar, dass trotz des Wissens um die relative Gefährlichkeit eines Ortes dieser völlig unvoreingenommen und angstfrei aufgesucht wird. Dies gilt vermutlich für die meisten Besucher von Amüsiervierteln und Partymeilen. Aufgrund des gehäuften Vorkommens von Delikten wie Taschendiebstahl, Körperverletzungen, aber auch Sexualdelikten können diese sehr wohl gefährliche Orte darstellen. Dennoch hält dieses Wissen um eine relativ größere Gefährlichkeit dieser Orte die meisten Menschen nicht von einem Besuch ab. Andere Orte wiederum können objektiv als sehr sicher erachtet werden; den Aufenthalt an diesen Orten assoziieren aber dennoch viele Menschen mit Furcht und einem unguten Gefühl (z.B. Friedhöfe, Wald, generell Dunkelheit).
Die kognitive und die affektive Ebene der Kriminalitätsfurcht stehen in einem Zusammenhang mit den Begriffen Brennpunkt (oder englisch: hot spot) und Angstraum. Der Begriff Brennpunkt umschreibt eine Örtlichkeit an der objektiv feststellbar eine Häufung von Delikten auftritt. Insofern steht dieser Begriff mit der kognitiven Komponente der Kriminalitätsfurcht in einem Zusammenhang. Ein Angstraum steht hingegen für die affektive Komponente. Der Begriff steht für ein subjektiv empfundenes Unsicherheitsgefühl, dass nicht durch eine objektiv bestehende erhöhte Viktimisierungswahrscheinlichkeit gedeckt sein muss.
Messung von Kriminalitätsfurcht
Zur Messung der Kriminalitätsfurcht wird in deutschen wie auch internationalen kriminologischen Studien auf den sog. Standardindikator zurückgegriffen. Dahinter verbirgt sich die folgende Frage:
Wie sicher fühlen Sie sich in Ihrer Wohngegend, wenn Sie abends bei Dunkelheit allein auf die Straße gehen [oder gehen würden]? bzw.
How safe do you feel or would you feel being out alone in your neighborhood at night?
Die Befragten erhalten üblicherweise folgende vierstufige Antwortvorgaben zur Auswahl: „Sehr sicher, ziemlich sicher, ziemlich unsicher, sehr unsicher“ (vgl. hierzu auch: Reuband, 2000).
Der Standardindikator wurde vielfach kritisiert, da zum einen Zweifel bestehen, ein komplexes Phänomen wie Furcht anhand eines einzelnen Indikators messen zu können. Zudem sei die Frage suggestiv und bezieht sich ausschließlich auf eine affektive Ebene. Der Verzicht auf die explizite Erwähnung von Kriminalität lässt es offen, was das Unsicherheitsgefühl verursacht (z.B. Opfer eines Verkehrsunfalls zu werden). Bezieht man die Frage auf ein Viktimisierungsrisiko suggeriert die Fragestellung eine Furcht vor gewaltsamer Straßenkriminalität (Wer nachts alleine durch die Straßen läuft, wird sich in diesem Moment kaum davor fürchten, Opfer eines Enkeltrick-Betrügers zu werden oder Leidtragender von Umweltverschmutzung oder Steuerhinterziehung zu werden). Schließlich würde das hier skizzierte Szenario (nachts, alleine, auf der Straße) an der Lebenswirklichkeit vieler Befragter vorbeigehen (zur Kritik am Standardindikator siehe ausführlich: Noack, 2015).
Trotz dieser Unzulänglichkeit wird auch in aktuellen Studien zum Zwecke der Vergleichbarkeit am Standardindikator festgehalten.
Viktimisierung, Kriminalitätsfurcht-Paradox und Vulnerabilität
Mit dem Kriminalitätsfurcht-Paradox wird eine Diskrepanz zwischen objektivem Viktimisierungsrisiko und der personalen Kriminalitätsfurcht beschrieben. Kriminalitätsstatistiken weisen regelmäßig junge Männer als diejenige demographische Gruppe aus, deren Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, am höchsten ist. In eben jener Gruppe ist jedoch die Kriminalitätsfurcht am geringsten ausgeprägt.
Im Gegensatz hierzu ist die Kriminalitätsfurcht bei älteren Menschen und Frauen am stärksten ausgeprägt, obwohl diese Bevölkerungsgruppen in polizeilichen Kriminalstatistiken am seltensten als Opfer von Straftaten ausgewiesen werden.
Diese scheinbar irrationale Kriminalitätsfurcht lässt sich jedoch durch eine höhere Verletzbarkeit (Vulnerabilität) der Personengruppen erklären. Die physischen und psychischen Folgen einer Viktimisierung wiegen sowohl für ältere Menschen als auch für Frauen schwerer als für andere Personengruppen. Ältere Menschen sind weniger widerstandsfähig und sie müssen eine schwerwiegendere gesundheitliche Verletzung befürchten. Frauen hingegen sind dem objektiv höheren Risiko einer gravierenden Viktimisierung (Sexualdelikte) ausgesetzt, deren physische aber vor allem psychische Folgen schwerwiegend sein können.
Schließlich ließe sich zur Entkräftung des Kriminalitätsfurcht-Paradox fragen, ob nicht gerade der Umstand, dass ältere Menschen und Frauen zu einer pessimistischeren Risikoeinschätzung kommen, dazu führt, dass sie sich seltener in Situationen bzw. an Orte begeben, von denen eine potentiell erhöhte Viktimisierungswahrscheinlichkeit ausgeht (konative Ebene der Kriminalitätsfurcht).
Wie lässt sich einer Kriminalitätsfurcht entgegenwirken?
Die Folgen von Kriminalitätsfurcht – egal ob objektiv begründet oder nicht – können schwerwiegend sein. Ein übersteigertes Schutz- und Vermeideverhalten hätte zur Folge, dass erstens sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger bewaffnen (tatsächlich ist die Zahl der ausgestellten sog. kleinen Waffenscheine in den letzten Jahren angestiegen). Zweitens hätte ein Vermeideverhalten die Konsequenz, dass mehr und mehr Menschen öffentliche Räume meiden. Dies führte zu einem Absinken der sozialen Kontrolle und letztendlich dazu, dass die Begehung von Straftaten infolge der gesunkenen Sozialkontrolle objektiv leichter ist und das Entdeckungsrisiko sinkt (ganz ähnlich argumentieren beispielsweise die Autoren des Broken Windows Ansatzes). Schlussendlich unterminiert eine stark steigende Kriminalitätsfurcht das Vertrauen in den Rechtsstaat und die Effizienz polizeilicher Arbeit. Diese Entwicklung könnte einen Anstieg von Selbstjustiz und die Gründung von Bürgerwehren zur Folge haben.
Die Entstehung und Verfestigung von Kriminalitätsfurcht lässt sich durch eine Stärkung des Sicherheitsgefühl verhindern. Hierbei ist vor allem an Maßnahmen der städtebaulichen Kriminalprävention zu denken. Die bessere Ausleuchtung des öffentlichen Raums, die Herstellung von Sichtachsen und der Rückbau von verwinkelten Nischen und „dunklen Ecken“ ist sicherlich geeignet, Angsträume abzubauen und so die soziale Kontrolle zu erhöhen.
Als weitere Maßnahme zur Bestärkung des Sicherheitsgefühls wird auch immer wieder die Erhöhung der Polizeipräsenz angeführt. Der Effekt ist jedoch umstritten. Eine erhöhte polizeiliche Präsenz kann neben dem gewünschten, sichheitsbestärkenden Effekt auch Gegenteiliges bewirken und zu einer Verunsicherung führen („Hier muss es wohl gefährlich sein, ansonsten wäre nicht so viel Polizei vor Ort.“).
Quellen
- Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle (2006) Individuelle und sozialräumliche Determinanten der Kriminalitätsfurcht. Sekundäranalyse der Allgemeinen Bürgerbefragungen der Polizei in Nordrhein-Westfalen. Forschungsberichte Nr. 4/2006. Düsseldorf: Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen. Online verfügbar unter: https://lka.polizei.nrw/sites/default/files/2016-11/Kriminalitaetsfurcht%20%28lang%29.pdf
- Noack, M. (2015) Messung von Kriminalitätsfurcht. In: Methodische Probleme bei der Messung von Kriminalitätsfurcht und Viktimisierungserfahrungen. Kriminalität und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, S. 87-92.
- Reuband, K.-H. (2000). Die Messung der Kriminalitätsfurcht im lokalen Kontext: Modifikationen des ‚Standardindikators‘ für Kriminalitätsfurcht und Folgen für das Antwortmuster. Soziale Probleme, 11(1/2), 177-185.