Kurzdefinition
Soziale Desorganisation beschreibt den Zusammenbruch sozialer Bindungen, Normen und Werte innerhalb einer Gemeinschaft oder eines sozialen Raumes. Dieser Verlust an sozialer Kontrolle wird als eine Ursache für abweichendes Verhalten und Kriminalität betrachtet.
Ausführliche Erklärung
Der Begriff der sozialen Desorganisation geht auf die Chicago School der Soziologie zurück, insbesondere auf die Arbeiten von Clifford Shaw und Henry D. McKay in den 1920er und 1930er Jahren. Die Theorie wurde entwickelt, um die Konzentration von Kriminalität in bestimmten urbanen Gebieten zu erklären. Shaw und McKay untersuchten Kriminalitätsraten in Chicago und stellten fest, dass bestimmte Stadtteile – vor allem solche mit hoher Fluktuation, Armut und ethnischer Heterogenität – eine überproportionale Häufung von Kriminalität aufwiesen.
Die Theorie argumentiert, dass Armut, Bevölkerungsfluktuation und ethnische Diversität die sozialen Bindungen und die kollektive Kontrolle in diesen Vierteln schwächen. Es entsteht ein Zustand der Desorganisation, in dem Normen und soziale Regeln an Verbindlichkeit verlieren und die Fähigkeit der Bewohner, abweichendes Verhalten zu kontrollieren, abnimmt.
Merkmale sozialer Desorganisation:
- Geringe soziale Kontrolle
- Verlust gemeinschaftlicher Bindungen
- Fehlende informelle Überwachung (Nachbarschaftskontrolle)
- Hohe Mobilitätsraten der Bevölkerung
- Soziale Isolation und Anonymität
Folgen:
- Höhere Kriminalitätsraten
- Anstieg von Vandalismus und Gewalt
- Geringe soziale Kohäsion und kollektives Vertrauen
Theoriebezug
- Chicago School (Shaw und McKay): Ursprüngliche Entwicklung der Theorie zur Erklärung urbaner Kriminalität.
- Collective Efficacy (Sampson, Raudenbush, Earls): Weiterentwicklung der Theorie, wobei die kollektive Fähigkeit zur Kontrolle abweichenden Verhaltens hervorgehoben wird.
- Broken Windows Theorie (Wilson und Kelling): Verknüpft soziale Desorganisation mit sichtbaren Zeichen von Verfall und Kriminalität.