Die Theorie der sozialen Desorganisation ist auch bekannt unter den Namen Social Ecology, Ökologischer Ansatz, Kriminalökologie, Area Approach, kulturelle Transmission.
Soziale Raumtheorien gehen davon aus, dass in Gebieten mit bestimmten ökologischen Bedingungen wie z.B. hohen Arbeitslosenraten, Bevölkerungsbeweglichkeit oder materiellem Verfall, die Kriminalitätsraten konstant sind. Solche Bedingungen verhindern soziale Organisation und Zusammenhalt im Stadtviertel und somit eine informelle soziale Kontrolle von Delinquenz. Wenn Kriminalität erst einmal verbreitet ist, werden kriminelle Normen und Werte, die mit normativen Werten konkurrieren, auf kulturellem Weg weitergegeben. Menschen werden somit in ihrem Handeln von einem bestimmten Umfeld beeinflusst.
Hauptvertreter
Theorie
Juvenile Delinquency and Urban Areas (1929 durch Clifford Shaw entwickelt, 1942 in Zusammenarbeit mit seinem Assistent Henry McKay veröffentlicht.)
Shaw hatte 1929 im Rahmen seiner Studie „Juvenile Delinquency and Urban Areas“ in Chicago die Wohnsitze von 60.000 männlichen Jugendlichen, die seitens der Stadt, durch Polizei oder Gerichte als Schulschwänzer (sogenannte „school truants“) oder Rechtsbrecher (sogenannte „offenders“) registriert worden waren, zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Die Gegenden, in denen eine große Anzahl der zu untersuchenden jungen Männer lebten, nannte er „delinquency areas“.
Shaw führte einen weiteren Begriff, den der „natural areas“, Gebiete, die sich durch besondere geografische, soziale und kulturelle Merkmale von ihrer Umgebung abgrenzen und Gebiete, die sich im Verlauf des natürlichen Städtewachstums gebildet haben.
Shaws Grundthese besagt, dass sich die ‚delinquency areas‘ weitgehend mit den ‚natural areas‘ decken, da sich jede beliebige Stadt in auf natürliche Art und Weise entstandene Gebiete einteilen ließe und dadurch bestimmte Strukturen entstünden, die sich zur Beschreibung und Messung von unterschiedlichen Faktoren eignen würden.
In den 30er Jahren weitete Shaw in Zusammenarbeit mit McKay seine Untersuchungen auf weitere nordamerikanische Städte, mit dem Erklärungsversuch, aus welchem Grund sich sozial abweichendes Verhalten in bestimmten Stadtteilen konzentriert, aus (auch ökologischer Ansatz genannt). Demnach beeinflusst die ökologische Situation eines Wohngebietes (Infrastruktur, Qualität der Wohnungen, Versorgung mit Geschäften, etc.) die räumliche Verteilung kriminellen Verhaltens, indem sie sowohl Einfluss auf die Täterpersönlichkeit als auch auf unterschiedliche Gelegenheiten zur Begehung von Straftaten hat.
Shaw und McKay bezogen sich in ihren Studien auf jugendliche Tatverdächtige und Delinquente im Alter von 16-18 Jahren. Durchgeführt in vier Städten Amerikas kamen die Forscher zu folgendem Ergebnis: In jeder dieser Städte gab es Gebiete mit besonders hohen Kriminalitätsraten. Diese ‚delinquency areas‘ charakterisierten sie folgendermaßen:
- höhere Delinquenz- und Schulschwänzerraten,
- z.T. hohe Säuglingssterblichkeit,
- hohe Anzahl an Tuberkuloseerkrankten,
- Überbevölkerung,
- hohe Anzahl an Familien, die von staatlicher Unterstützung leben,
- ungünstige Sozialstruktur, bedingt durch mangelnde Angebote zur Freizeitgestaltung, aber auch durch hohe Bevölkerungsmobilität.
Weiterführend kamen sie zu dem Ergebnis, dass die hohen Kriminalitätsraten unabhängig von der ethnischen Zusammensetzung der Bewohner anzusehen seien und äußerten die Annahme, dass der Raum selbst Kriminalität hervorbringe. Daraus könnte geschlossen werden, dass in diesen Gegenden bestimmte Faktoren über Jahrzehnte hinaus bestehen, die unabhängig von der Kultur und Wertvorstellung der jeweiligen Bewohner, Jugendliche immer wieder kriminell ‚infizieren‘.
Ein zweiter Erklärungsansatz wäre die Annahme, dass der Raum Kriminelle anzuziehen vermag. – Die Delinquenzgebiete lagen dort, wo die Stadtteile am verfallensten waren und aufgrund billiger Mieten vor allem von Armut betroffene Menschen anzogen. In diesen Wohngebieten kam es unter dem Druck sozial zersetzender Kräfte zu einer Auflösung gesellschaftlicher Bindungen und daher zu höherer Kriminalität (geringe soziale Kontrolle).
Bezüglich der unterschiedlichen sozialen Strukturen entstanden mehrere Ringe, die sich um die Innenstadt gruppierten. Entsprechend dieser Verteilung von innen nach außen nahmen auch die Kriminalitätszahlen ab.
Kriminalpolitische Implikation
Die Beobachtungen zur sozialen Desorganisation durch Shaw & McKay dienen als Ausgangspunkt für kommunale Regionalanalysen und führten u.a. zur Broken Windows Theorie und zur Null-Toleranz-Strategie (Zero Tolerance Policing).
Die makrosoziologischen Beobachtungen der Theorie der sozialen Desorganisation mit ihrer Fokussierung auf Formen der informellen Kontrolle stehen zudem im Zusammenhang mit Kontrolltheorien. Schließlich lässt sich eine Verbindungslinie zwischen der postulierten Weitergabe kultureller Werten und der Theorie des differentiellen Lernens ziehen.
Kritische Würdigung & Aktualitätsbezug
Hauptkritikpunkt an der Theorie der sozialen Desorganisation als Erklärung für abweichendes Verhalten und Kriminalität lautet, dass die Verantwortung für individuelles Handeln von dem Einzelnen weg, hin zur Gesellschaft verlagert werden würde.
Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
- Vito, G./Maahs, J./Holmes, R. (2007): Criminology. Theory, Research, and
Policy, S. 146-154. - Schwind, H.-D. (2008):Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit
Beispielen. S. 140-143. - Lamnek, S. (2007): Theorien abweichenden Verhaltens I „klassische Ansätze“.
S. 98, 311. - McLaughlin, E., Muncie, J. ( 2006): The Sage Dictionary of Criminology. Sage Publications, London: S.39
Weiterführende Informationen
- siehe: Kriminalpolitik im Städtebau