Broken Windows, zerbrochene Fensterscheiben, ist ein von James Q. Wilson und George L. Kelling geprägter Begriff. Den beiden Autoren zufolge muss die zerbrochene Fensterscheibe schnellstmöglich repariert werden, damit weitere Zerstörungen im Stadtteil und ein Ansteigen der Kriminalitätsrate verhindert werden. Verwüstungen in Stadtgebieten stehen demnach in unabdingbarer Verknüpfung mit Kriminalität und bedingen diese. Ein scheinbar harmloses Phänomen kann somit gravierende Folgen mit sich bringen.
Hauptvertreter
George L. Kelling, James Q. Wilson
Theorie
Wilson und Kelling nahmen mit Ihren Ausführungen großen Einfluss auf die amerikanischen Policing-Strategien jener Zeit. In Ihren Studien legten sie ihr Augenmerk auf polizeiliche Fußstreifen als Methode des Policings. Auch wenn ihre Studien belegt haben, dass Fußstreifen keinerlei Einfluss auf die Kriminalitätsraten ausübten, haben sie demonstriert, dass die Stadtteilbewohner durch die Anwesenheit der Polizei ein größeres Sicherheitsgefühl aufgebaut haben. Um ihre Sichtweisen zu veranschaulichen entwickelten sie die sog. Broken-Windows-Theorie:
Die Autoren nehmen in der Broken Windows Theorie Bezug auf ein Experiment des Psychologen Philip Zimbardo (1969). Er stellte in der New Yorker Bronx und dem Stadtteil Palo Alto in Kalifornien jeweils ein Auto mit abmontierten Kennzeichen und geöffneter Motorhaube ab. Im Stadtteil Bronx begannen die Bewohner bereits nach Minuten, verwertbare Teile des Autos abzumontieren und anschließend den Wagen komplett zu zerstören. Im Gegensatz hierzu blieb der PKW in Palo Alto unangetastet. Ein besorgter Passant schloss lediglich die geöffnete Motorhaube. Erst als Zimbardo in das Experiment eingriff und den Wagen mit einem Vorschlaghammer selbst demolierte, wurde das Auto auch in Kalifornien von den Anwohnern schließlich ausgeschlachtet. Zimbardo schloss daraus, dass der Vandalismus zum einen auf eine sichtbare Vorbeschädigung und zum anderen mit der Erfahrung mit sozialer Unordnung/ Verwahrlosung im Stadtteil zurückzuführen sei. Er schreibt:
We might conclude from these preliminary studies that to initiate such acts of destructive vandalism, the necessary ingredients are the acquired feelings of anonymity provided by the life in a city like New York, along with some minimal releaser cues. Where social anonymity is not a “given” of one’s everyday life, it is necessary to have more extreme releaser cues, more explicit models for destruction and aggression, and physical anonymity—a large crowd or the darkness of the night.
(Zimbardo, 1969, S. 292)
Wilson und Kelling greifen das Studienergebnis Zimbardos auf und schlussfolgern:
Untended property becomes fair game for people out for fun or plunder and even for people who ordinarily would not dream of doing such things and who probably consider themselves law-abiding. Because of the nature of community life in the Bronx—its anonymity, the frequency with which cars are abandoned and things are stolen or broken, the past experience of „no one caring“—vandalism begins much more quickly than it does in staid Palo Alto, where people have come to believe that private possessions are cared for, and that mischievous behavior is costly. But vandalism can occur anywhere once communal barriers—the sense of mutual regard and the obligations of civility—are lowered by actions that seem to signal that „no one cares.“
(Kelling & Wilson, 1982)
Anknüpfend an das Experiment von Zimbardo übertragen Wilson und Kelling mit dem Broken Windows Ansatz die Studienergebnisse auf Verfallserscheinungen im sozialen Raum. Als Auslöser für kriminelles Handeln sehen Wilson und Kelling den städtebaulichen Verfall („urban decay“) wie z.B. zerbrochene Fenster (Broken Windows). Die zerbrochenen Fenster stehen dabei als bildhaftes Symbol für heruntergekommene Teile der Stadt. Der sichtbare Verfall signalisiert den Bewohnern des Stadtteils eine mangelnde Kontrolle, die auch andere (unerwünschte) Besucher des Stadtteils registrieren. Die Anwesenheit dieser Personen und die Anzeichen physischer Verwahrlosung schüren eine Kriminalitätsfurcht bei den alteingesessenen Bewohnern, die aufgrund dieser Veränderungen jetzt beginnen, den Stadtteil zu verlassen. Der Wegzug der „anständigen Bürger“ sorgt für ein Absinken der sozialen Kontrolle, womit die Begehung von Straftaten objektiv erleichtert wird. Weitere Bewohner verlassen nun den Stadtteil und setzen einen Verstärkerkreislauf in Gang.
Als Anzeichen mangelnder formeller sowie informeller sozialer Kontrolle (auch Incivilities genannt) unterscheiden Wilson und Kelling zwischen:
- physical disorder (wie z.B. verfallende Gebäude, verlassene Grundstücke, beschmierte Wände, etc.) und
- social disorder (auf den Straßen streunenden Gruppen, Obdachlose, aggressive Bettler, Drogenszene, etc.).
Kriminalpolitische Implikation
Das New Yorker Polizeimodell „Zero Tolerance” von William Bratton basiert auf der Broken Windows Theorie. Sie hat die Unterbrechung des Verstärkerkreislaufes nach Shaw und McKay zum Inhalt. Bratton verdeutlicht seine Gedanken am Beispiel der New Yorker Polizei. Hiernach werden die kleinsten Vergehen wie z.B. öffentliches Urinieren, Drogenbesitz oder das Sprühen von Graffiti geahndet (qualify of life offenses). Dies soll zum Zweck der Prävention zeigen, dass auch größere Vergehen geahndet werden. In New York hatte diese Strategie in den 90ern (vordergründig) einen großen Erfolg. Es wird auch von einem „problem oriented policing“ gesprochen. Kernelemente dieses waren:
- Eine strategisch neue Vorgehensweise
- Stärkung des Community Policings durch
- Dezentralisierung der Kommandostrukturen ( Benennung von Leitern für einzelne Reviere, die nur für ihren Bezirk zuständig sind (Precinct Commanders)
- Zusammenarbeit mit der Bevölkerung
- Erstellung eines Aktionsplans (Benennung von 6 Problembereichen und Zielen)
- Erstellung von Lageplänen von Kriminalität (Wann und wie war die Polizei im Einsatz)
- Detaillierte Statistik-Erstellung (z.B. Wie viele Patronen verschossen)
- Computer-Compstat-Meetings: Kontinuierliche Erfolgskontrolle der einzelnen Bezirke durch Computer gestützte Analysen
- Stärkung des Community Policings durch – Dezentralisierung der Kommandostrukturen – Zusammenarbeit mit Bürgern
Als kriminalpolitische Implikation des Zero-Tolerance-Modells wiederum lässt sich das „Crime Mapping“ sehen. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte Kriminologische Regionalanalyse (KRA) – eine Dokumentation von Kriminalität in bestimmten Regionen.
Ebenfalls im Kontext der Broken Windows Theorie sind Maßnahmen der städtebaulichen Kriminalprävention zu nennen. Vielen dieser Maßnahmen ist gemein, dass sie auf eine infrastrukturelle Aufwertung setzen mit dem Ziel, Angsträume abzubauen und die soziale Kontrolle im öffentlichen Raum zu erhöhen.
Kritische Würdigung & Aktualitätsbezug
Die Broken Windows Theorie zählt zu den bekanntesten und meist zitierten Annahmen unter den kriminologischen Kriminalitätstheorien. Ihren Erfolg verdankt die Theorie sicherlich der simplen unterstellten Kausalbeziehung von Ordnung im öffentlichen Raum auf der einen und Kriminalitätserscheinungen auf der anderen Seite.
Kritiker, wie die amerikanischen Kriminologen Sampson und Raudenbush (1999), kritisieren jedoch, dass eben jene unterstellte kausale Beziehung einer Fehlannahme unterliege. Der postulierte direkte Zusammenhang zwischen (Un-)Ordnung und Kriminalität sei vielmehr vermittelt durch das Maß der soziale Kohäsion einer Gemeinschaft und der geteilten Erwartung hinsichtlich der sozialen Kontrolle im Wohnumfeld. Ähnlich argumentieren auch Vertreter der Cultural Criminology, die kritisieren, dass die Incivilities in erster Linie als ästhetisches Werturteil aufgefasst würden und der Erklärungszusammenhang zur sozialen Kontrolle und Kriminalität oft unterschlagen würden. Zudem sei die Bewertung von als Unordnungserscheinungen bezeichneten Phänomenen vielschichtiger und mehrdeutiger (z.B. Graffiti).
Auch der unterstellte Zusammenhang von Incivilities und Kriminalitätsfurcht wird kritisiert, da die Wahrnehmung der Unordnungserscheinungen selektiv wäre und v.a. Menschen beträfe, die von vornherein ein höheres Maß an Kriminalitätsfurcht hätten. Damit sei die Argumentation tautologisch.
Gegenstand vehementer Kritik war und ist das Zero Tolerance Policing. Kritiker wie z.B. Hess (2004) zweifeln die Wirksamkeit der Policing-Methode an. Sie sehen den Rückgang der Kriminalität in New York in anderen – v.a. sozialen Faktoren – begründet. Wieder andere Kritiker bemängeln, dass die Policing-Methode rassistisch und diskriminierend sei, da sozial schwache Menschen, nicht-weißer Hautfarbe in ärmeren Stadtteilen in besonderem Maße von polizeilichen Maßnahmen betroffen wären (vgl. z.B. Harcourt, 2001).
Zur ausführlichen Kritik des Broken Window Ansatzes siehe entsprechende Ausführungen in der Krimpedia
Literatur
Primärliteratur
- Kelling, George L; Coles, Catherine M (1997): Fixing broken windows. Restoring order and reducing crime in our communities. New York: Simon & Schuster.
- Kelling, George L.; Wilson, James Q. (1982): Broken Windows. The police and Neighborhood Safety. The Altlantic. [Volltext]
Sekundärliteratur
- Dreher, G.; Feltes, T. (Hrsg.) (1997). Das Modell New York: Kriminalprävention durch „Zero Tolerance“?: Beiträge zur aktuellen kriminalpolitischen Diskussion. Veröffentlicht in Empirische Polizeiforschung 12. Online verfügbar unter: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/78229/epf_12.pdf?sequence=1&isAllowed=y
- Harcourt, B. E. (2001). Illusion of Order: The False Promise of Broken Windows Policing. Harvard University Press.
- Hess, H. (2004): Broken Windows: Zur Diskussion um die Strategie des New York Police Department. Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft. Band 116, Heft 1, Seiten 66–110.
- Sampson, Robert J.; Raudenbush, Stephen W (1999): Systematic Social Observation of Public Spaces: A New Look at Disorder in Urban Neighborhoods. American Journal of Sociology. 105 (3): 603–651.
- Schwind, H.-D. (2008): Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. S. 326-330.
- Zimbardo, P. G. (1969). The Human Choice: Individuation, Reason, and Order versus Deindividuation, Impulse and Chaos. In: Arnold, W. J. & Levine, D. (Hrsg.). Nebraska Symposium on Motivation. Lincoln: University of Nebraska Press. S. 237-307.
Weiterführende Informationen
Videos
[YouTube Video: Broken Windows Theory – Criminology]
You Tube Video: Applying the Broken Window Theory to Cars
How A Theory Of Crime And Policing Was Born, And Went Terribly Wrong (NPR, 01.11.2016)
Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von www.npr.org zu laden.