In jüngerer Vergangenheit mehren sich Stimmen – insbesondere aus Reihen der Polizeigewerkschaften, die einen zunehmenden Autoritätsverlust der Polizei bemängeln. Dieser ginge mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft gegen Polizeivollzugsbeamte (PVB) einher und die Politik sei aufgefordert, mehr zum Schutz PVB zu unternehmen. Neben einer breiten gesellschaftlichen Debatte sind diese Forderungen teilweise in Gesetzesänderungen eingeflossen, die im Nachfolgenden beleuchtet werden [für einen hervorragende Überblick über das Thema siehe auch den unten verlinkten Beitrag von Görgen und Hunold (2019)].
Kenntnisse über Gewalthandlungen gegen PVB bietet neben Daten aus Dunkelfeldstudien vor allem die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Seit einigen Jahren bereitet das Bundeskriminalamt relevante Zahlen und Statistiken für ein jährlich erscheinendes Bundeslagebild auf (vgl. Bundeskriminalamt 2020). Zu den Daten aus dem polizeilichen Hellfeld ist anzumerken, dass sie den üblichen Restriktionen unterliegen (siehe ausführlich: Statistische Erfassung von Kriminalität). Insbesondere ist zu erwarten, dass aufgrund der Thematisierung des Themas Gewalt gegen PVB durch die Polizeigewerkschaften eine erhöhte Sensibilisierung der Bediensteten erfolgt ist und die Anzeigebereitschaft entsprechend zugenommen hat.
Deliktsentwicklung
Grundsätzlich ist festzustellen, dass schwere Gewalttaten gegen PVB selten sind. Bei den mehrheitlich erfassten Taten handelt es sich um Widerstandshandlungen. Diese sind nach einem kontinuierlichen aber moderaten Abstieg in den 1990er und frühen 2000er Jahren seit 2008 deutlich gesunken und verharren seither auf etwa gleichbleibendem, niedrigem Niveau. Ungeachtet dieser Entwicklung wurde jedoch das Strafmaß erheblich erhöht.
Mit dem 52. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften vom 23.05.2017 – hat der Gesetzgeber den neuen Straftatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte geschaffen (§ 114 StGB). Die Gesetzesänderung schränkt die Vergleichbarkeit der Hellfelddaten ein, da der bis 2017 in § 113 StGB erfasste tätliche Angriff nunmehr in § 114 StGB geregelt wird. Der in der Zeitreihe deutlich zu sehende Anstieg der Fallzahlen ist auf diese Gesetzesänderungen zurückzuführen.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik des BKA
Kritiker monieren diese Gesetzesänderung, da hier eine bloße Widerstandshandlung (also z.B. bereits das Herauswinden aus einer Umklammerung oder ein reflexhaftes Wegschubsen ohne Verletzungsabsicht) mit dem Strafmaß einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren schwerer geahndet wird, als eine Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe). Die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers, einen „Schutzparagraphen“ für den Bürger zu schaffen, der sich in einer Ausnahmesituation befindet, wird durch die Einführung des § 114 StGB ad absurdum geführt. In einer gemeinsamen Erklärung verurteilen Rechtsexperten die Grundgesetzänderung als Symbolpolitik und „Sonderstrafrecht zum Schutz von Polizisten/-innen“ (Noli, 2017).
Die AutorInnen weisen darauf hin,
dass ein Schubser – ohne jegliche Verletzungsfolge – gegen eine/-n Polizeibeamten/-in mit einer höheren Strafandrohung versehen wäre, als ein Faustschlag ins Gesicht mit Verletzungsfolge gegen eine andere, nicht-polizeiliche Person. Der Schubser gegen den/die Polizeibeamten/-in würde sogar zu mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe führen. Würde sich dabei zufällig noch ein Brotzeitmesser im Rucksack befinden, ohne Absicht dieses einzusetzen, betrüge die Mindeststrafe nach der Neuregelung sechs Monate Freiheitsstrafe. Dieselbe Mindeststrafe übrigens, wie beim sexuellen Missbrauch von Kindern.
Eine derartige Sonderbehandlung verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG). Die eklatanten Wertungswidersprüche, insbesondere der Verzicht auf einen ›minderschweren Fall‹ bei geringer Schuld, widersprechen dem Schuldprinzip und damit auch dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3GG).
Noli, 2017, S. 2f.
Opfer
Einblick in schwere Gewalthandlungen gegen PVB gibt die Statistik über Opfer auf Seiten der Polizei. Diese statistische Erfassung erfolgt seit dem Jahr 2011. Hervorzuheben ist hierbei, dass hier auch versuchte Taten erfasst werden, die einen erheblichen Anteil der registrierten Delikte ausmachen (bei nahezu allen erfassten Fällen von Mord und Totschlag, aber auch bei schwerer oder gefährlicher Körperverletzung beträgt der Anteil teilweise über fünfzig Prozent. Ausgenommen sind Bedrohungen, da hier keine Versuchsstrafbarkeit existiert). Zudem weist das BKA selbst darauf hin, dass es bei der Opfererfassung und Opfer-Fall-Zuordnung zu einer Verzerrung der Ergebnisse kommt. Eine Mehrfachzählung von Opfern und eine fehlerhafte Zuordnung der Eigenschaft „Beruf“ bei mehreren tatbeteiligten Opfern kann nicht ausgeschlossen werden (vgl. BKA, 2020, S. 7).
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik des BKA
Deutlich erkennbar ist der Rückgang der Opferzahlen bei einfacher Körperverletzung. Es ist hier zu vermuten, dass entsprechende Fälle dem neu geschaffenen § 114 StGB zugerechnet werden.
Das Bundeslagebild weist darüber hinaus auch Informationen zu den Opfern aus. Demnach beträgt der Anteil der männlichen PVB unter den Gewaltopfern 80%. Der Wert ist jedoch nur bedingt aussagekräftig, da keine Aussagen darüber getroffen werden können, wie viele weibliche und männliche Bedienstete jeweils an den Einsatzgeschehnissen beteiligt waren, bei denen es zu den entsprechenden Tathandlungen kam.
Aussagekräftiger ist hier die Angabe zum Alter der Opfer: knapp die Hälfte (47,4 %) gehören der Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen an. Auffällig ist hier zudem, dass annähernd Dreiviertel der weiblichen Opfer (76,9 %) dieser Altersgruppe angehören.
Nähere Einblicke zum Zusammenhang demographischer und sonstiger Merkmale und der Opfererfahrung bietet eine 2010 durchgeführte Dunkelfeldstudie zum Thema (Ellrich, Baier & Pfeiffer, 2012 sowie Ellrich & Baier, 2014). Die Studie, der Antworten von 20.938 BeamtInnen aus 10 Bundesländer zugrunde liegen, verfolgt unter anderem das Ziel, in Erfahrung zu bringen, „inwieweit die Persönlichkeit des Beamten mit Gewaltopfererfahrungen in Zusammenhang steht“ bzw. „wie sich Faktoren des Arbeitsumfeldes sowie arbeitsbezogene Einstellungen und Erfahrungen der Beamten darauf auswirken, Gewalt im Dienst zu erfahren“ (ebd., S. 9).
Görgen und Hunold (2019, S. 130) fassen die dort berichteten Prävalenzen folgendermaßen zusammen:
50,7 Prozent hatten demnach im Verlauf des Jahres 2009 im Dienst körperliche Gewalt in Form von Treten, Schlagen, Stoßen oder Festhalten erfahren; 1,9 Prozent waren in diesem Zeitraum mit einer Schusswaffe bedroht worden, gegen 0,4 Prozent der Befragten war eine Schusswaffe eingesetzt worden. 12,9 Prozent der Befragten waren in den Jahren 2005–2009 mindestens einmal durch einen Gewaltübergriff dienstunfähig geworden; bei 5,0 Prozent hatte die gewaltbedingte Dienstunfähigkeit über mindestens 7 Tage bestanden.
Eine weitere Studie zur Gewalterfahrung von PVB bezieht sich ausschließlich auf nordrhein-westfälische Beamtinnen und Beamte (Jager, Klatt & Bliesener, 2013). Hierbei wurden knapp 18.500 PVB im Jahr 2012 im Rahmen einer Online-Studie schriftlich befragt. 43,3 Prozent der Befragten berichten hier von einem tätlichen Angriff innerhalb des Vorjahres und 63,4 Prozent von einem nicht-tätlichen Angriff (ebd. S. 48). Hierbei ist allerdings die Operationalisierung des Gewaltbegriffs zu beachten (auch im Vergleich zu anderen Studien). In der NRW-Studie wurde beispielsweise ein sehr weiter Begriff verwendet, der bereits das Anschreien, das Androhen einer Gegenanzeige oder das Fotografiert-/ Videographiert-Werden u.ä. als Gewalterfahrung wertet (vgl. ebd., S. 11f).
Ein zentrales Ergebnis der NRW-Studie ist, dass Gewalterfahrungen stark vom Dienstalter der PVB, aber auch vom Geschlecht abhängt. Vor allem dienstjüngere Polizisten, aber auch Polizistinnen berichten häufiger von tätlichen wie auch nicht-tätlichen Angriffen (vgl. ebd. 62). Eine mögliche Erklärung für diesen Befund ist, dass jüngere PVB eher in Organisationseinheiten mit Bürgerkontakt beschäftigt werden und dort potentiell gefährlichere Einsatzsituationen zu bewältigen haben (z.B. bei der Bereitschaftspolizei).
Bodycams als Mittel der Gewaltprävention
Ebenfalls in dem Kontext von Gewalthandlungen gegen PVB ist eine Evaluationsstudie zum Einsatz von sog. Bodycams durch die Polizei NRW zu nennen (vgl. Kersting et al., 2017, 2019). Eine durch die Studienautoren verfolgte Arbeitshypothese lautet, dass sich durch den zuvor angekündigten Technikeinsatz potentielle GewalttäterInnen abschrecken lassen und den Bodycams daher eine deeskalierende Wirkung zugeschrieben werden kann.
Entgegen dieser Erwartung ist jedoch festzustellen, dass der Einsatz einer Bodycam mit einer vermehrten Gewalterfahrung im Zusammenhang steht. Die Studienautoren führen dies darauf zurück, dass den Einsatzkräften gegenwärtig ist, dass ihre Handlungen und v.a. die Kommunikation zu einem späteren Zeitpunkt Gegenstand einer Begutachtung ist. Dies beeinflusst insbesondere die Kommunikation und führt dazu, „dass einzelne Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte eine auffallend formalisierte Ausdrucksweise an den Tag legten“ (Kersting et al., 2019, S. 65). Dieser Verlust der kommunikativen Anschlussfähigkeit an das polizeiliche Gegenüber steht in den dokumentierten Fällen am Beginn einer körperlichen Konfrontation.
Nimmt Gewalt gegen PVB wirklich zu?
Die offiziellen Hellfelddaten der PKS bzw. des Bundeslagebilds “ Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen/-beamte“ weisen einen deutlichen Anstieg der Gewalt gegen PVB aus. Aufgrund fehlender Daten und aktuelleren Gesetzesänderungen (s.o.) ist eine Langzeitbetrachtung der Gewaltdelikte jedoch nicht möglich. Zudem spiegeln die offiziellen Daten des polizeilichen Hellfeldes das Anzeigeverhalten der Geschädigten wider. Hier muss vermutet werden, dass aufgrund der breiten öffentlichen Thematisierung des Themas, die Schwelle eine Anzeige zu erstatten – auch bei geringfügigen Tathandlungen/ Versuchen – gestiegen ist. Hinzu kommt, dass auch die gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung hinsichtlich Gewalt in den letzten Jahren und Jahrzehnten gestiegen ist. Wir sind zunehmend weniger bereit, Gewalt zu akzeptieren – sei es partnerschaftliche Gewalt (Gewaltschutzgesetz), Gewalt im Rahmen der Kindererziehung (Züchtigungsverbot), Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, sexualisierte Gewalt (Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe) usw. Es ist plausibel anzunehmen, dass diese erhöhte Sensibilisierung sich auch auf das Gewaltempfinden von Personen im Polizeidienst niederschlägt.
Literatur und weiterführende Informationen
- Bundeskriminalamt (2020). Bundeslagebild. Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen/-beamte 2019. Wiesbaden: BKA. Online verfügbar unter: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/GewaltGegenPVB/GewaltGegenPVBBundeslagebild2019.pdf?__blob=publicationFile&v=9
- Ellrich, K., & Baier, D., Pfeiffer, C. (2012). Polizeibeamte als Opfer von Gewalt. Ergebnisse einer Befragung von Polizeibeamten in zehn Bundesländern. Baden Baden: Nomos. Online verfügbar unter: https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/12-06-01/Anlage20.pdf?__blob=publicationFile&v=2
- Ellrich, K., & Baier, D. (2014). Gewalt gegen niedersächsische Beamtinnen und Beamte aus dem Einsatz- und Streifendienst: Zum Einfluss von personen-, arbeits- und situationsbezogenen Merkmalen auf das Gewaltopferrisiko (KFN-Forschungsberichte No. 123). Hannover: KFN. Online verfügbar unter: https://kfn.de/wp-content/uploads/Forschungsberichte/FB_123.pdf
- Görgen, T.; Hunold, D. (2019). Gewalt durch und gegen Polizistinnen und Polizisten. In: Dieter Kugelmann (Hrsg.). Polizei und Menschenrechte. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. S. 121-135. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/innere-sicherheit/321874/gewalt-durch-und-gegen-polizistinnen-und-polizisten
- Hermanutz, M. (2015). Gewalt gegen Polizisten – sinkender Respekt und steigende Aggression?: Eine Beleuchtung der Gesamtumstände. Verlag für Polizeiwissenschaft.
- Jager, J.; Klatt, T. & Bliesener, T. (2013). NRW‐Studie. Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte. Die subjektive Sichtweise zur Betreuung und Fürsorge, Aus‐ und Fortbildung, Einsatznachbereitung, Belastung und Ausstattung. Kiel: Institut für Psychologie, Christian‐Albrechts‐Universität zu Kiel. Online verfügbar unter: https://polizei.nrw/artikel/nrw-studie-gewalt-gegen-polizeibeamtinnen-und-beamte
- Noli, M. (2017, 20. März). Gemeinsame Stellungnahme zum Gesetzentwurf Drs. 18/11161 ›Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs –Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften‹. Online verfügbar unter: https://www.vdj.de/fileadmin/user_upload/Stellungnahme_GE_Staerkung_des_Schutzes_von_Vollstreckungsbeamten_und_Rettungskraeften-1.pdf
- Kersting, S.; Naplava, T.; Reutemann, M. & Scheer-Vesper, C. (2017). Die deeskalierende Wirkung von Bodycams im Wachdienst der Polizei Nordrhein-Westfalen: Zwischenbericht. Gelsenkirchen: Institut für Polizei- und Kriminalwissenschaft der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW. Online verfügbar unter: https://www.hspv.nrw.de/fileadmin/Newsletter/2018_05_Mai/Zwischenbericht_OnlineVersion.pdf
- Kersting, S., Naplava, T., Reutemann, M., Heil, M. & Scheer-Vesper, C. (2019). Die deeskalierende Wirkung von Bodycams im Wachdienst der Polizei Nordrhein-Westfalen: Abschlussbericht. Gelsenkirchen: Institut für Polizei- und Kriminalwissenschaft der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW.Online verfügbar unter: https://www.hspv.nrw.de/fileadmin/user_upload/190429_Bodycam_NRW_Abschlussbericht.pdf
- Kersting, S.; Naplava, T.; Reutemann, M. (2021). Polizeiarbeit im Lichte gesellschaftlicher Entwicklungen – Ein Plädoyer für die Erforschung von Kommunikationsstrategien im polizeilichen Wachdienst. Die Polizei, 111(5), S. 185-228.