Im Gegensatz zum Thema Gewalt gegen Polizeivollzugsbedienstete (PVB) existiert zum Thema der unrechtmäßigen Gewaltanwendung durch die Polizei keine gesonderte, offizielle statistische Auswertung des Phänomens. Da keine allgemein verbindliche Definition von Gewalt existiert, ließe sich unrechtmäßige polizeiliche Gewaltanwendung verstehen als die unrechtmäßige Anwendung physischer Gewalt durch die Polizei, aber auch als Form der Diskriminierung wie z.B. durch Racial Profiling (vgl. z.B. Howe et al., 2022). Im Nachfolgenden wird jedoch ausschließlich die unrechtmäßige Anwendung physischer Gewalt betrachtet.
Grundsätzlich ist die Polizei als Inhaberin des Gewaltmonopols unter bestimmten Voraussetzungen und unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit befugt, Gewalt anzuwenden. Wie oft eine Amtshandlung unter Anwendung von Gewalt (oder auch der Androhung von Gewalt) durchgesetzt wird, wird nicht statistisch erfasst.
Von besonderem Augenmerk sind Fälle, in denen von PVB ungerechtfertigterweise Gewalt angewendet wurde, weil die Gewaltanwendung entweder an sich unverhältnismäßig war oder obwohl der Einsatz von Gewalt grundsätzlich als notwendig angesehen werden kann, die Intensität der Gewaltanwendung ein notwendiges Maß übersteigt.
In den letztgenannten Fällen liegt eine Körperverletzung im Amt vor, die in § 340 StGB wie folgt geregelt ist:
(1) Ein Amtsträger, der während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst eine Körperverletzung begeht oder begehen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe.(2) Der Versuch ist strafbar.(3) Die §§ 224 bis 229 gelten für Straftaten nach Absatz 1 Satz 1 entsprechend.
Unrechtmäßige Gewaltanwendung durch die Polizei im statistischen Hell- und Dunkelfeld
Die Entwicklung der Fallzahlen von Körperverletzungen im Amt gemäß § 340 StGB ist in der Polizeilichen Kriminalstatistik dokumentiert. In den letzten 20 Jahren variierte das Fallaufkommen zwischen 1.400 und 2.300 erfassten Fällen pro Jahr.
Diese Fallzahlen liefern jedoch aus verschiedenen Gründen ein nur unvollständiges Bild über das Phänomen. Zum einen fallen unter die in § 340 StGB benannten Amtsträger nicht ausschließlich PVB, sondern beispielsweise auch Feuerwehrleute und andere Berufsgruppen. Die PKS ist zudem eine Verdächtigenstatistik, die Aufschluss über das Ergebnis des polizeilich geführten Ermittlungsverfahrens, jedoch keine Informationen darüber gibt, ob die Staatsanwaltschaft das Verfahren vielleicht einstellt oder sich Tatverdächtige im Zuge eines Gerichtsprozesses als unschuldig herausstellen. Zum anderen ist von einer nur geringen Anzeigenbereitschaft auszugehen. In einer (nicht repräsentativen) Dunkelfeldstudie zum Thema Körperverletzung im Amt (Abdul-Rahman, Espín Grau, & Singelnstein, 2019) gaben lediglich neun Prozent der Befragten an, nach erlebter und als ungerechtfertigt empfundener Polizeigewalt Anzeige erstattet zu haben. Diese geringe Anzeigebereitschaft hängt auch mit den nur geringen Erfolgsaussicht zusammen. In den vergangenen Jahren haben die Staatsanwaltschaften die ganz überwiegende Anzahl der Verfahren eingestellt (ca. 95 %). In lediglich drei Prozent der Fälle wurde Anklage erhoben (vgl. Singelnstein, 2014). Zudem dürfte bei vielen Betroffenen das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen nachhaltig erschüttert sein. Hinzu kommt, dass ein Gerichtsprozess eine zusätzliche psychische Belastung darstellt, die mit einer sekundären Viktimisierung einhergehen kann. Außerdem müssen die Betroffenen mit einer Gegenanzeige wegen Delikten nach §§ 113, 185 ff., 164 StGB rechnen. Schließlich gehören diejenigen Gesellschaftsmitglieder, die übermäßig häufig Opfer von Polizeigewalt werden, gesellschaftlichen Minderheiten an, die nur über eine geringe Beschwerdemacht verfügen (vgl. ebd., S. 17).
Aus den vorgenannten Gründen ist von einem erheblichen Dunkelfeld bei der unrechtmäßigen Gewaltanwendung durch die Polizei auszugehen. Die Autorinnen und Autoren der oben zitierten Dunkelfeldstudie gehen von einer Dunkelzifferrelation von 1:6 aus (Abdul-Rahman, Espín Grau, & Singelnstein, 2019, S. 80). Görgen und Hunold (2020) weisen ergänzend darauf hin, dass eine Anzeigenbereitschaft durch Kolleginnen und Kollegen, die Zeugen einer unrechtmäßigen polizeilichen Gewaltanwendung wurden, ebenfalls gering ausfallen dürfte, da „diese kaum Unterstützung dafür in den eigenen Reihen erfahren“ (siehe hierzu auch: Cop Culture).
Opfer von unrechtmäßiger Polizeigewalt
Die Ergebnisse der Dunkelfeldstudie geben Aufschluss über die Opfer rechtswidriger Polizeigewalt. Danach stellen junge Männer (Durchschnittsalter: 26 Jahre) die statistisch größte Opfergruppe dar (71,6 %). Eine Viktimisierung findet insbesondere im Umfeld von Fußballspielen und politischen Aktionen/ Demonstrationen statt (vgl. Abdul-Rahman, Espín Grau, & Singelnstein, 2019). Die Mehrzahl der Opfer sind deutsch und hoch gebildet. Menschen mit Migrationshintergrund spielen eine statistisch untergeordnete Rolle. Einschränkend muss jedoch angemerkt werden, dass die Stichprobe der Studie nicht repräsentativ ist und verallgemeinernde Aussagen daher methodisch nicht zulässig sind.
Weiterführende Informationen
Videos
Interview mit Prof. Dr. Tobias Singelnstein zum Thema Körperverletzung im Amt
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Interview mit Udo Behrendes zum Thema illegale Polizeigewalt
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Quellen und weiterführende Informationen
- Abdul-Rahman, L.; Espín Grau, H.; Singelnstein, T. (2019): Polizeiliche Gewaltanwendungen aus Sicht der Betroffenen. Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol). Ruhr-Universität Bochum, 17.9.2019. Online verfügbar unter: https://kviapol.rub.de/images/pdf/KviAPol_Zwischenbericht.pdf.
- Alpert, Geoffrey P. & Dunham, Roger G. (2004). Understanding Police Use Of Force. Officers, Suspects, and Reciprocity. Cambridge University Press.
- Howe, C.; Decker, C.; Knobloch, L.; Can, H. & Bosch, A. (2022). Bericht zur Berliner Polizeistudie. Eine diskriminierungskritische, qualitative Untersuchung ausgewählter Dienstbereiche der Polizei Berlin. Herausgegeben vom ZTG (Zentrum Technik und Gesellschaft) der Technischen Universität Berlin.. Online verfügbar unter: https://www.static.tu.berlin/fileadmin/www/10002449/PDF_s/Publikationen/Forschungsberichte/Bericht_Polizeistudie_ZTG_TU_Berlin.pdf
- Luff, J.; Schuster, V. & Röhm, C. (2018). Konflikte im Polizeialltag. Eine Analyse von Beschwerden gegen Polizeibeamte und Körperverletzungen im Amt in Bayern. Müchen: Projektbericht der Kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei (KFG). Online verfügbar unter: https://www.polizei.bayern.de/content/4/3/7/konflikte_im_polizeialltag.pdf
- Singelnstein, T. (2014). Körperverletzung im Amt durch Polizisten und die Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaften – aus empirischer und strafprozessualer Sicht. NK Neue Kriminalpolitik (1/26). S. 15-27.
- vom Hau, S. (2017) Autorität reloaded: Eine Neukonzeption gegen Gewalteskalationen im Polizeidienst. Wiesbaden: Springer.
- Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2022, 28. April). Sachstand: Unabhängige Polizeibeauftragte in den Ländern. https://www.bundestag.de/resource/blob/899854/c703911ae8f6e04a16618f8a85727ad3/WD-3-057-22-pdf-data.pdf