Grundgedanke der Anomietheorie nach Robert K. Merton ist, dass die meisten Menschen nach der Erreichung kulturell anerkannter Ziele streben. Ein Zustand der Anomie entwickelt sich demnach, wenn der Zugang zu diesen Zielen ganzen Menschengruppen oder Individuen versperrt bleibt. Die Folge ist ein abweichendes Verhalten, welches sich durch Rebellion, Rückzug, Ritualismus, Innovation und/oder Konformität auszeichnet. Kriminalität resultiert überwiegend aus der Innovation.
Hauptvertreter
Theorie
Mertons Anomietheorie wurde 1938 veröffentlicht, stellte jedoch aufgrund des nicht geweckten gesellschaftlichen Interesses eine sogenannte „Sleepertheorie dar“. Erst die erneute Veröffentlichung im Jahre 1954 sorgte für öffentliches Interesse. Merton verfeinert die Ausführungen von Durkheim, indem er die fehlenden gesellschaftlichen Regeln, die zu Anomie führen, beschreibt und die Verknüpfung dieser mit dem Aspekt der Wert-Mittel-Diskrepanz durchführt. Anomische Bedingungen werden hier nicht mehr in der Kluft zwischen Bedürfnislage und Befriedigungsmöglichkeiten, sondern in der Diskrepanz zwischen Zielen und Mittel gesehen.
Hauptannahme
Kriminalität entsteht durch das Auseinanderklaffen der als legitim anerkannten gesellschaftlichen Ziele und der reduzierten Zugangsmöglichkeiten zu den zur Erreichung dieser Ziele erforderlichen Mittel. Diese Diskrepanz zwischen Zielen und Mitteln gestaltet sich schichtspezifisch unterschiedlich, ist aber in allen Schichten möglich. Die Diskrepanz hat eine Desorientierung des Einzelnen zur Folge und verursacht psychische Belastungen sowie soziale Konflikte. Im Mittelpunkt seines Interesses steht nicht die Abweichung einzelner Individuen (Mikroebene), sondern die Suche nach der Erklärung von unterschiedlichen Abweichungsraten unterschiedlicher Gesellschaften und Gruppen. (Betrachtung: Makroebene)
Anpassungsreaktionen
Um mit diesem Druck umgehen zu können, findet ein individuelles Zurückgreifen auf einer der folgenden 5 Verhaltensmuster statt
- Konformität
Akzeptanz kultureller Ziele und Anpassung an sozialen Wandel - Innovation
Akzeptanz kultureller Ziele, Nichtanerkennung legaler Mittel zur Erreichung der Ziele. - Ritualismus
Herunterschrauben / Aufgabe der kulturellen Ziele und Beibehaltung legaler Mittel zur Erreichung dieser. - Rückzug
Ablehnung kultureller Ziele und legaler Mittel - Rebellion
Bekämpfung der Ziele sowie der Mittel mit dem Ziel, soziale Strukturen zu verändern.
Merton zufolge greifen Menschen aus unteren sozialen Schichten eher zu solchen Mitteln, da sie weniger Möglichkeiten haben als höhere Schichten, die kulturellen Ziele zu erreichen.
Die unterschiedlichen Anpassungsreaktionen und die Zustimmung/ Verfügbarkeit (+) bzw. Ablehnung (-) von kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln lässt sich in folgender tabellarischen Übersicht darstellen:
Arten der Anpassung | Kulturelle Ziele | Institutionalisierte Mittel |
---|---|---|
Konformität | + | + |
Innovation | + | – |
Ritualismus | – | + |
Rückzug | – | – |
Rebellion | (+/-) | (+/-) |
Kriminalpolitische Implikation
Mertons Anomietheorie verweist auf den viel zitierten Zusammenhang von Sozial- und Kriminalpolitik ( „Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik“, Franz von Liszt). Denn da ja Kriminalität in Form von Innovation (oder auch Rückzug und Rebellion) Ergebnis sozialstruktureller Ungleichheiten ist, muss es Aufgabe der Kriminalpolitik sein, diese aufzulösen. Ökonomisch schwächer gestellten Personen muss der Aufstieg in höhere Schichten ermöglicht oder ihnen zumindest bei einer entsprechend angemessenen Zielerreichung geholfen werden.
Je weniger sich die Gesellschaft durch soziale Ungleichheit auszeichnet, desto weniger Personen verfallen dem Zustand der Anomie. Ziel muss somit ein echter Sozial- und Wohlfahrtsstaat sein, in dem es für jeden möglich ist, die kulturellen Ziele durch legitime Mittel zu erreichen.
Kritische Würdigung & Aktualitätsbezug
Mertons Anomietheorie ist überwiegend von utilitaristischer Natur: Menschen handeln kriminell, weil ihnen alternative Möglichkeiten fehlen. In diesem Kontext erklärt Merton monetäre Verbrechen wie Raub oder Einbruch, aber nicht Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung. Durch den Mangel an Zugangsmöglichkeiten zu legitimen Mitteln zur Zielerreichung erklärt Merton Kriminalität nur innerhalb der Unterschicht, denn es ist davon auszugehen, dass Mittel- und Oberklasse eigentlich über diese Mittel verfügen. Die Zugangsmöglichkeiten zu illegitimen Mitteln findet keine Betrachtung. Des Weiteren beantwortet Merton nicht die Frage, warum Menschen in belastenden Situationen unterschiedlich reagieren. – Warum wird jemand ausgerechnet zum Ritualist oder Innovator? Zudem findet keine präzise Begriffserklärung statt. Der Terminus ‚Kulturelle Ziele‘ wird nur unzureichend beschrieben.
Zudem betrachtet Merton den Übergang von konformen zu kriminellen Verhalten als einen „Sprung“ anstatt einen Prozess, ohne dass diese „kriminelle Karriere“ näher erläutert würde.
Aus heutiger Perspektive muss zudem das homogene Gesellschaftsbild, von dem Merton ausgerht, als nur noch bedingt zeitgemäß kritisiert werden. Merton schreibt:
It is only when a system of cultural values extols, virtually above all else, certain common symbols of success for the population at large while its social structure rigorously restricts or completely eliminates access to approved modes of acquiring these symbols for a considerable part of the same population, that antisocial behavior ensues on a considerable scale. In other words, our egalitarian ideology denies by implication the existence of noncompeting groups and individuals in the pursuit of pecuniary success.
(Merton, 1938, S. 680)
Die hier angesprochene „egalitarian ideology“ – also das gleichförmige Streben nach Erreichung derselben monetären Ziele („pecuniary success“) – die vielleicht am besten in dem Bild des American Dream/ Vom Tellerwäscher zum Millionär zum Ausdruck kommt – ließe sich mit Blick auf zeitgenössische Gesellschaften und individuelle Lebensentwürfe kritisieren. Wenngleich auch heute viele Menschen ihren Erfolg und ihr Glück von wirtschaftlichen Erfolgen abhängig machen, so existieren auch Gegenentwürfe (Erfolg/ Glück als Zustand von Gesundheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung etc.). Die Kritik an Mertons Anomietheorie könnte demnach lauten, dass sie sich zu stark an einem mittelschichtsbezogenen Gesellschaftsmodell orientiert.
Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
- Brown, S., Esbensen, F.-A., Geis, G. (2010): Criminology. Explaining Crime and Its Context. S. 240-244.
- Kaiser, G. (1989): Kriminologie. S. 219-222
- Ostendorf, H. (2010): Ursachen von Kriminalität. In: Informationen zur politischen Bildung Nr. 306/2010. Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/izpb/7735/ursachen-von-kriminalitaet?p=all.
- Vito, G./Maahs, J./Holmes, R. (2007): Criminology. Theory, Research, and Policy. S. 154-156.