Nach der Institutionellen Anomietheorie (IAT) ist Kriminalität eine indirekte Folge der Dominanz der Wirtschaft über andere gesellschaftliche Teilbereiche.
Wird eine Gesellschaft vornehmlich von wirtschaftlichen Interessen geprägt, durchdringt die Wirtschaftslogik andere gesellschaftliche Institutionen und Teilbereiche (wie z.B. den Bildungsbereich). Ein utilitaristisch geprägtes Verhalten der Gesellschaftsmitglieder, eine Abnahme der sozialen Kontrolle und ein Anstieg der Kriminalität sind die Folge.
Merkzettel
Institutionelle Anomietheorie nach Messner und Rosenfeld
Hauptvertreter: Steven F. Messner und Richard Rosenfeld
Erstveröffentlichung: 1993
Land: USA
Idee/ Annahme: Die Institutionelle Anomietheorie (IAT) aktualisiert anomietheoretische Überlegungen mit Blick auf die moderne US-amerikanische Gesellschaft. Kriminalität ist nach der IAT Folge der Dominanz der Wirtschaft, der alle anderen gesellschaftlichen Strukturbereiche untergeordnet werden.
Abgrenzungen zu: Die Theorie kann als Erweiterung und Aktualisierung der Anomietheorie nach Merton verstanden werden.
Theorie
Die Institutionelle Anomietheorie stellt eine Erweiterung Mertons Anomietheorie dar. Messners und Rosenfelds Ansatz geht dabei von einer dem Strukturfunktionalismus entliehenen Gesellschaftsbild aus. Gesellschaft lässt sich demnach in vier institutionelle Strukturbereiche unterteilen:
- Familie (Reproduktion, Pflege/ Unterstützung hilfebedürftiger Personen)
- Bildung (Vermittlung von Normen und Werten)
- Politik (Überwachung, Steuerung kollektiver Ziele)
- Wirtschaft (Produktion und Verteilung wirtschaftlicher Güter)
Jede dieser Institutionen kommt eine Funktion zu (siehe Verweis in Klammern). Für ein geregeltes Zusammenleben ist ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Institutionen in der Gesellschaft entscheidend. Stehen die Institutionen aber in einem starken Ungleichgewicht und können nicht mehr gegenseitig regulierend aufeinander einwirken, verändern sich kollektive Handlungsmotive, Werte und Ziele und Kriminalität tritt in Erscheinung.
Durch die Überbetonung des ökonomischen Sektors kommt es zu anomischer Kriminalität. In den 80er Jahren im Zuge des Wunschs nach einem freien Markt kam es zur primären und somit überproportionalen Wirtschaftsförderung, welche ein Ungleichgewicht zu den anderen Institutionen zur Folge hatte. In der Gesellschaft entstand ein ungezügeltes Streben nach finanziellem Gewinn, um dem Druck Wohlstand zu erreichen standzuhalten. Die Beziehungen zu den anderen Institutionen werden immer lockerer und deren Normen und Werte nicht mehr erlernt. Der Fokus liegt auf dem Faktor der Ökonomie. Hieraus entsteht eine Orientierungslosigkeit, denn der Schutz der anderen Institutionen entfällt. Die Folge ist eine anomische Kriminalität.
Den Einfluss der Wirtschaft auf die anderen gesellschaftlichen Institutionen illustrieren Messner und Rosenfeld anhand folgender Entwicklungen:
- Devaluation
Entwertung dessen, was nicht in Verbindung mit Geld steht. Z.B. von Bildung Abstand nehmen - Accomodation
Sektoren, die nicht mit Ökonomie in Berührung kommen, an wirtschaftlichen Effizienzkriterien messen. Universitäten wie Unternehmen - Penetration
Durchdringung des nicht ökonomischen Sektors mit der Sprache und Logik ökonomischer Effizienz: Wortprägungen aus dem Finanzsektor finden Einzug in Alltagssprache.
Die Dominanz des ökonomischen Sektors findet auch Ausdruck in der Idee des „American Dream“, wonach materielle Erfolgsziele oberste Priorität haben („Vom Tellerwäscher zum Millionär“). Die IAT verknüpft Mertons Anomietheorie (Erreichung kultureller Ziele – hier: ökonomischer Erfolg) mit kontrolltheoretischen Annahmen (Einflussnahme anderer gesellschaftlicher Teilbereiche).
Kriminalpolitische Implikation
Messner & Rosenfelds Ausführungen zur Anomietheorie lassen auf eine Strategie zur Kriminalitätsreduzierung schließen. Die Bevölkerung müsse demnach mit einem gut ausgebauten ökonomischen Sicherheitsnetz (Sozialhilfe, Rente, Pensionen, gut ausgebautes Gesundheitssystem) ausgestattet werden, so dass man sich mit einem geringeren ökonomischen Status als Andere zufrieden geben würde.
Denkbar ist zudem eine politische und massenmediale Betonung der Sektoren Familie, Bildung und Politik, um die in der Gesellschaft verankerte Überbetonung des Wirtschaftssektors auszugleichen und den Menschen somit andere Lebenszwecke als nur rein ökonomische zu geben.
Kritische Würdigung & Aktualitätsbezug
Der ökonomische Sektor findet auch in der heutigen Zeit eine starke Betonung. Aus heutiger Perspektive erscheint damit die Forderung von Messner und Rosenfeld nicht mehr als ein Wunschdenken und mahnender Appell an die Politik der meisten westlichen Länder zu sein. Vielerorts stehen die Gesellschaften unter dem Diktat der Wirtschaft und neoliberaler Gesellschaftsordnungen. Mit Duldung der Politik vermeiden milliardenschwere börsennotierte Unternehmen Steuern zu entrichten, die als Staatseinnahmen für Investitionen in Sozialsysteme fehlen. Disruption (lateinisch: disrumpere – zerreißen, zerbrechen, zerschlagen) – also die Zerschlagung alter Geschäftsmodelle wird zum Maß aller Dinge – ungeachtet des Erhalts von Arbeitsplätzen, dem Einfluss von Gewerkschaften und tradierten Geschäftsbeziehungen.
In den USA steht ein (erfolgreicher) Geschäftsmann an der Spitze des Staates, der sich damit brüstet das Land analog zu einem Wirtschaftsunternehmen führen zu können. Millionen Wähler sind offenbar bereit, dieses Versprechen nicht nur abzunehmen sondern auch erhebliche Einschnitte in das Sozialsystem (z.B. Krankenversicherung) in Kauf zu nehmen.
Während sich global die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander bewegt, verspricht die Werbung Inklusion aller durch Konsum, der auf Raten finanziert auch den Mittellosen Anschluss an den Mittelstand vorgaukelt.
Literatur
Primärliteratur
- Messner, S.; Rosenfeld, R. (1993). Crime and the American Dream (1. Auflage). Belmont: Wadsworth.
- Messner, S.; Rosenfeld, R. (2009). Institutional Anomie Theory: A Macro-sociological Explanation of Crime. In: Handbook on Crime and Deviance. Handbooks of Sociology and Social Research, Part 2, SpringerLink, S. 209-224.
- Messner, S. (2003). Sozialstruktur und Anomie. An institutional Anomie Theory of crime: Continuities and elaborations in the study of social structure and anomie. In: Oberwittler, D./Karstedt, S. (Hrsg.): Soziologie der Kriminalität. S.93-109.
- Messner, S.; Rosenfeld, R. (1996). An Institutional Anomie Theory of the Social Distribution of Crime. In: P. Cordella, L. Siegel (Hrsg.): Readings in Comtemporary Criminological Theory. Boston, S. 143-148.
Sekundärliteratur
- Vito, G./Maahs, J./Holmes, R. (2007): Criminology. Theory, Research, and Policy. S. 158-160.
- Larry J. Siegel 2009: Criminology (10th edition). Thomson Wadsworth; S.177-178.
Weiterführende Informationen
Theorie, Kritik, empirische Bewährungsprüfung und Fortentwicklung im Zusammenhang einer empirischen Studie zum Haftverlauf von Gefangenen des Jugendstrafvollzugs. –Forschungsprojekt Max-Planck-Institut (1979-1997)
http://www.mpicc.de/ww/de/pub/forschung/forschungsarbeit/kriminologie/archiv/anomietheorien.htm
Empirische Überprüfung der IAT
- Chamlin, M. B.; Cochtan, J. (2007). An evaluation of the assumptions that underlie institutional anomie theory. Theoretical Criminology 11(1), S. 39-61.
- Hirtenlehner, H./ Bacher, J. / Oberwittler, D. / Hummelsheim, D. / Jackson, J. (2010). Kultur, Institutionen und Kriminalität. Eine Prüfung der Institutionellen Anomietheorie mit Viktimisierungsdaten aus Europa. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 93(4), S. 274 – 299.