Durkheim sieht Anomie als einen Zustand der sozialen Desintegration. Aufgrund eines weitreichenden gesellschaftlichen Wandels (hier: Industrialisierung, Einführung des Strukturprinzips der Arbeitsteilung) treten zunehmend gesellschaftliche Differenzierungen zu Tage (z.B. arm – reich, Stadtbewohner – Landbewohner, religiös – säkularisiert usw.). Das Schwinden alter Struktur- und Ordnungsprinzipien schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Als Folge dessen finden allgemeine soziale Regeln keine Beachtung mehr; die kollektive Ordnung löst sich auf und ein Zustand der Anomie tritt zutage. Die Folgen hiervon sind erhöhte Selbstmord- und Kriminalitätsraten.
Merkzettel
Der Anomiebegriff nach Durkheim
Hauptvertreter: David Émile Durkheim
Erstveröffentlichung: 1893
Land: Frankreich
Idee/ Annahme: Kriminalität ist ein normales gesellschaftliches Phänomen. Besteht jedoch ein Übermaß an Kriminalität droht ein Zustand der Anomie (Regellosigkeit).
Grundlage für: Anomietheorie nach Merton
Theorie
Durkheims entwickelte den Begriff der Anomie in seinem erstmals 1893 erschienen Werk „Über die soziale Arbeitsteilung“ und konkretisierte den Begriff in seinem Werk „Der Selbstmord“ weiter. Das Konzept der Anomie beschreibt die Auswirkungen der sich im Frühindustrialismus entwickelnden gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die ansteigende Selbstmordrate. Demnach wird in Zeiten sozialer Umwälzung das „Kollektivbewusstsein“ geschwächt und bisherige Normen, moralische Überzeugungen und Kontrollen schwinden. Alte gesellschaftliche Strukturprinzipien, die auf der Gleichförmigkeit der Gesellschaftmitglieder und ihrer Lebensentwürfe beruht, schwinden und werden zunehmend durch das Prinzip der Arbeitsteilung ersetzt. Arbeitsteilung ist hierbei mehr als ökonomisches Prinzip, sondern stellt die zentrale gesellschaftliche Wertebasis dar und ermöglicht erst Solidarität unter den Gesellschaftsmitgliedern. Krisen im Allgemeinen, Selbstmorde oder auch Verbrechen sind ein Anzeichen für sozialpathologische Zustände, die das neue Strukturprinzip der Arbeitsteilung gefährden. Es droht der Zustand der Anomie (Regellosigkeit).
Durkheim stellt fest, dass Kriminalität einen ubiquitären Charakter hat, d.h. es gab und gibt keine Gesellschaft, in der keine Normabweichungen existierten. Insofern ist das Verbrechen zunächst nicht als Sozialpathologie – im Sinne einer grundlegenden Störung des Sozialen– zu verstehen. Im Gegenteil kommt Kriminalität in modernen, durch Arbeitsteilung charakterisierten Gesellschaften eine die Normen verdeutlichende Funktion zu. Erst durch die Abweichung selbst und die Sanktionierung des Normenbruchs wird die Geltung der Norm für alle Gesellschaftsmitglieder sichtbar und bekräftigt deren Gültigkeit. Daher ist Kriminalität in arbeitsteiligen Gesellschaft funktional. und bekräftigt das Kollektivbewusstsein.
Erst ein Übermaß an Kriminalität ist Anzeichen für eine fehlende Beachtung sozialer Regeln und ein schwindendes Kollektivbewusstsein. Wird Abweichung in der Gesellschaft zur Regel und hedonistisch-egoistisches Handeln sowie menschliche Triebe Überhand nehmen, besteht die Gefahr einer Anomie.
Kriminalpolitische Implikation
Offensichtlich muss es nach den Thesen Durkheims politisches Ziel sein, den Zustand der Anomie in einer Gesellschaft zu verhindern. Dies sei dem Staat immerhin möglich, indem für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen geltende Werte und Moralvorstellungen erfolgreich vermittelt werden. Wird seitens der Gesellschaft oder des Staates eine eindeutige und unmissverständliche Normgeltung vorgeschrieben, erkennt der einzelne Mensch diese an und verzichtet auf bestimmte Wünsche beziehungsweise schränkt viele seiner Bedürfnisse stark ein.
Voraussetzung dafür ist jedoch zum Einen, dass die Gesellschaftsmitglieder die gesetzten Normen inhaltlich akzeptieren und nicht nur aus reiner Sanktionsfurcht einhalten (Diese Akzeptanz ist jedoch nur bei einer nicht allzu großen Ungleichverteilung von Gütern in der Sozialstruktur zu erwarten). Zum Anderen ist die Stabilität der normsetzenden Gesellschaft Voraussetzung: Wirtschaftliche oder soziale Zusammenbrüche sowie andere Veränderungen in Zeiten sozialen Wandels schwächen das Kollektivbewusstsein und stellen die bisher geteilten moralischen Grundsätze in Frage.
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass nach Durkheim die eindeutige und unmissverständliche Vermittlung von Sozialnormen einerseits und die Stabilität wirtschaftlicher und sozialer Faktoren in Gesellschaften andererseits das Ausbrechen von erhöhter Kriminalität verhindern können.
Im Übrigen ist nach Durkheim eine gewisse Anzahl an Abweichungen aber normal und zu allen Zeiten in allen Gesellschaften anzufinden (siehe: Durkheim (1895) Die Regeln der soziologischen Methode)
Kritische Würdigung & Aktualitätsbezug
Durkeims Theorie ist als eine gesellschaftliche Erklärung für normabweichendes Verhalten in einer Zeit zu würdigen, in der die Kriminologie noch in den Kinderschuhen stand.
Sowohl Durkheims ausdrückliche Bezugnahme auf die einsetzende Industrialisierung als auch die Annahme einer gesellschaftsübergreifenden moralischen Orientierung erscheinen heute nicht mehr zeitgemäß. Ohne große Anstrengung und Phantasie ließen sich jedoch z.B. mit der Ökonomisierung und Globalisierung zwei zeitgemäße Strukturprinzipien moderner Gesellschaften benennen, die Ursache ungleicher Verteilung sozio-ökonomischer Ressourcen sind und damit auch Ursache für einen Zustand der Anomie sein können.
Zudem ist Anomie für Durkheim nur als Erklärung überhöhter Kriminalitäts- und Selbstmordraten nützlich, wohingegen das alltägliche Verbrechen und seine Ursachen gar nicht thematisiert werden. Erst Merton griff ein halbes Jahrhundert nach Durkheim das Konzept der Anomie erneut auf und formulierte eine Anomietheorie als reine Kriminalitätstheorie.
Literatur
Primärliteratur
- Durkheim, E. (2008): Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
- Durkheim, E. (1999): Die Regeln der soziologischen Methode. 4. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp
- Durkheim, E. (1999): Der Selbstmord. Berlin: Suhrkamp
- Durkheim, E. (1984): Erziehung, Moral und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Sekundärliteratur
- Brown, S., Esbensen, F.-A., Geis, G. (2010): Criminology. Explaining Crime and It’s Context. S. 239-240.
- Kaiser, G. (1989): Kriminologie. S. 219-222
- Vito, G./Maahs, J./Holmes, R. (2007): Criminology. Theory, Research, and Policy. S. 145-146.
Weiterführende Informationen
- zur Begriffsgeschichte siehe auch Eintrag „Anomie“ in der Krimpedia