Die Neutralisierungsthese bzw. die These der Neutralisierungstechniken besagt, dass kriminelles Verhalten nach ihrem Begehen durch ihre Täter rationalisiert beziehungsweise gerechtfertigt wird.
Hauptvertreter
Gresham M. Sykes und David Matza
Theorie
Einen Sonderfall innerhalb der Lernansätze stellt Sykes’ und Matzas Neutralisierungsthese dar. Im Blickpunkt stehen hier erlernte Rechtfertigungen des Kriminellen für seine bereits begangene Tat: die sogenannten Techniken der Neutralisation.
Abweichler suchen demzufolge nach Schlupflöchern und Erklärungen, um ihre eigene deviante Handlung zu rechtfertigen bzw. zu neutralisieren. Sykes und Matza unterscheiden dabei zwischen fünf Typen:
- Ablehnung von Verantwortung: Der Täter nimmt sich als Opfer widriger gesellschaftlicher Verhältnisse oder sozialer Umstände wahr. Nicht er selbst, sondern andere seien für sein Handeln verantwortlich.
- Verneinung des Unrechts: Der Täter verharmlost oder bagatellisiert sein Handeln; erkennt es nicht als unmoralisch an.
- Ablehnung des Opfers: Der Täter glaubt, das Opfer habe die an ihm begangene Tat verdient (z.B. aufgrund ethnischer oder sexueller Zugehörigkeit).
- Verdammung der Verdammenden: Der Täter beschuldigt die Polizei und andere staatliche Kontrollen als korrupt, fehlerhaft, eigennützig und ungerecht.
- Berufung auf höhere Instanzen: Der Täter beteuert, im Interesse anderer oder aufgrund von Befehlen oder Gruppenzwang, nicht aber nach dem eigenen Willen gehandelt zu haben.
Die Neutralisierungsthese stellt somit keine eigentliche Kriminalitätstheorie dar, sondern beschreibt das rationalisierende Verhalten der Täter nach der begangenen Tat.
Entgegen der Subkulturtheorien geht die Neutralisierungsthese von einer Internalisierung gesamtgesellschaftlicher Normen aus. Diese werden im Zuge der an die Tat anschließenden Neutralisierungstechniken lediglich verändert, geschwächt oder verdreht.
Die Ursache abweichenden Verhaltens liegt also nicht in der unterschiedlich hohen Normenakzeptanz (so jedoch bei den Subkulturtheorien), sondern in der hohen Flexibilität des Normensystems, die es demnach paradoxerweise erlaubt, die herrschenden Normen zu verinnerlichen, aber gleichzeitig gegen sie zu verstoßen.
Kriminalpolitische Implikationen
Die Neutralisierungsthese umfasst keine konkreten politischen Forderungen durch die Autoren. Jedoch impliziert jede der fünf Techniken verschiedene kriminalpolitische Denkanstöße.
So kann die Ablehnung der Verantwortung als Aufruf zu besserer Sozialpolitik verstanden werden, da der Täter in einer nicht mehr negativ und ungerecht empfundenen Umwelt nur die eigene Person für das eigene Fehlverhalten verantwortlich machen kann.
Die Verneinung des Unrechts impliziert eine zu schwache oder zumindest in bestimmten Bereichen unzureichende Internalisierung von Normen, wodurch die Forderung nach mehr Moral- und Werterziehung durch Eltern oder schulische Einrichtungen geschlussfolgert werden kann. In bestimmten Fällen ist auch eine angemessene Klarstellung des geltenden Rechts bei Unwissenheit oder zu vager Vorstellung des Gesetzes erforderlich.
Die Ablehnung des Opfers lässt indes eine Verbindung zu mittlerweile etablierten Konzepten wie dem Täter-Opfer-Ausgleich oder der Restorative Justice erkennen. In diesen werden offenkundig die Leiden des Opfers dem Täter nähergebracht und somit eine entsprechende Opferablehnung und Tatbeschönigung erschwert.
Eine „Verdammung der Verdammenden“ ist durch offene und nachvollziehbare Verfahrensgerechtigkeit (procedural justice) zu bekämpfen. Außerdem ist hier bereits die später vom Labeling Approach konkretisierte Forderung nach einem Paradigmenwechsel erkennbar: Nicht nur der Täter, auch die urteilenden Instanzen sollten Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung sein, da auch sie kriminell oder zumindest fehlerhaft sein können.
Schließlich verbirgt sich hinter der Berufung auf höhere Instanzen eine allgemeine Kritik an hierarchischen Strukturen, in denen befohlene Verhaltensweisen unkritisch durchgeführt und somit auch kriminelle Verhaltensweisen ohne eigenes Motiv des Täters auftreten können. Speziell innerhalb des Militärs und in Kriegszuständen sind Personen oftmals sogar gezwungen, sich zwischen Befehlen, die u.U. von friedensbetonten Normen abweichen, und Befehlsverweigerungen, welche jedoch rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können, zu entscheiden.
Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug
Die Neutralisierungsthese hat in der Kriminologie einen einzigartigen, unter den Kriminalitätstheorien oftmals schwierigen Stand. Vordergründig beschreibt sie lediglich das auf eine kriminelle Tat folgende Verhalten des Täters. Somit erscheint es zweifelhaft, ob sie wirklich die Ursache von Kriminalität thematisiert. Eine Erklärung kriminellen Verhaltens ist sicherlich weniger in den Neutralisationstechniken selbst, als vielmehr in der These implizit vertretenen Annahme einer flexiblen Auslegung von Normen zu suchen. Geht man davon aus, dass eine oder mehrere der Rechtfertigungen vor der Tat ausgebildet wurden und somit als eine Art Motiv fungierten, ließe sich die Neutralisierungsthese als eine ätiologische Kriminalitätstheorie darstellen, in der kognitive Überwindungen innerer Hemmungen und internalisierter Moralvorstellungen Kriminalitätsursachen sind.
Empirisch konnte jedoch der Entstehungszeitpunkt der Rationalisierungen nie genau ermittelt werden. So kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Techniken zur Neutralisation erst nach der begangenen Tat entwickelt werden. Eine gewisse ätiologische Erklärung abweichenden Verhaltens bleibt jedoch insofern erhalten, als dass die erfolgreiche Ablehnung der eigenen Schuld zukünftiges kriminelles Handeln verstärken kann.
Wenig konkret bleibt bei Sykes und Matza jedoch die Erklärung, wann und wie genau welche Neutralisationstechnik angewandt wird und wie stark oder wie schwach die Internalisierung der bestehenden Normen gegeben sein muss, damit der Täter diese zwar an sich noch akzeptiert, gleichzeitig aber in der Lage ist, gegen sie zu verstoßen.
Genauso bedarf es einer Erklärung, wie und wo konkret diese Rechtfertigungstechniken erlernt werden können.
In einigen Fällen, wie beispielsweise bei politischen Extremisten, ist es außerdem äußerst fragwürdig, ob überhaupt noch gesamtgesellschaftliche Normen internalisiert wurden. Ist dem nicht der Fall, müssen davon abweichende Verhaltensweisen auch nicht neutralisiert werden.
Trotz all dieser Einwände findet man die Neutralisierungsthese regelmäßig rezipiert. Die fünf erwähnten Techniken erscheinen als nahezu ort- und zeitloses Konzept, die Rechtfertigungen können nach wie vor auf eine ganze Reihe von Delikten angewendet werden (Kriegsverbrechen, Wirtschaftskriminalität, Unterschichtkriminalität, sexuelle Gewalt, Mord, etc.). Zudem zeigen diverse Untersuchungen, dass die Veränderung beziehungsweise Ausschaltung solcher Rechtfertigungstechniken tatsächlich zu Kriminalitätsreduzierung führt. Es kann somit von einer fast schon einzigartigen Aktualität und Bedeutung der These Sykes und Matzas gesprochen werden.
Literatur
Primärliteratur
- Gresham M. Sykes and David Matza: (1958): Techniques of Neutralization: A theory of Delinquency. In: American Sociological Review, 22, S.664-670.
Sekundärliteratur