Die Theorie der differentiellen Kontakte (oder: differentiellen Assoziation) besagt, dass kriminelle Verhaltensweisen erlernt werden. Eine Person wird delinquent, wenn vorrangig Einstellungen vorliegen, die Gesetzesübertretungen begünstigen, gegenüber solchen Einstellungen, die Gesetzesverletzungen negativ bewerten.
Hauptvertreter
Theorie
Edwin Sutherlands Theorie der differentiellen Assoziation geht davon aus, dass kriminelle Verhaltensweisen durch den Kontakt zu Personen, welche ihrerseits kriminell sind, erlernt werden. Sie wird deshalb auch „Theorie der differentiellen Kontakte“ genannt.
Der Begriff „Assoziation“ verfeinert diese Idee jedoch um die Erkenntnis, dass nicht der bloße Kontakt zu kriminellen Personen ausreicht, sondern während dieser Kontakte die kriminellen Definitionen und Einstellungen auch erfolgreich vermittelt werden müssen.
Die Grundthese ist hierbei, dass kriminelles Verhalten dann gelernt wird, wenn mehr Einstellungen, die Gesetzesübertretungen begünstigen, erlernt werden, als solche, die Gesetzesverletzungen negativ bewerten. Im Umkehrschluss wird das Erlernen krimineller Einstellungen, Motive und Definitionen also umso wahrscheinlicher, je mehr Kontakt zu Personen und Gruppen, die Gesetze übertreten, besteht, und je weniger Kontakt zu Personen und Gruppen, die regelkonform leben, besteht.
Vereinfacht könnte man sagen, dass der Kontakt zu Kriminellen bei gleichzeitiger Isolation von Nicht-Kriminellen zu eigenem kriminellem Verhalten führt, indem die entsprechenden Verhaltensweisen modellhaft erlernt werden.
Sutherlands Theorie der differentiellen Kontakte (s. Schaubild) fußt auf neun Thesen, welche die Theorie der differentiellen Assoziation noch einmal zusammenfassen:
- Kriminelles Verhalten ist erlernt.
- Kriminelles Verhalten wird in Interaktion mit anderen Personen in einem Kommunikationsprozess erlernt.
- Die Lernprozesse finden primär in kleinen und intimen Gruppen statt (und somit weniger durch z.B. (Massen-)Medien).
- Das Lernen krimineller Verhaltensweisen schließt das Erlernen von Techniken zur Ausübung eines Verbrechens sowie spezifische kriminelle Motive, Rationalisierungen und Einstellungen mit ein.
- Die spezifische Richtung von Motiven und Trieben wird gelernt, indem Gesetze positiv oder negativ definiert werden.
- Eine Person wird delinquent infolge des Überwiegens der die Verletzung begünstigenden Einstellungen über jene, die Gesetzesverletzungen negativ beurteilen.
- Differentielle Kontakte variieren nach Häufigkeit, Dauer, Priorität und Intensität.
- Der Prozess, in dem kriminelles Verhalten erlernt wird, umfasst alle Mechanismen, die bei jedem anderen Lernprozess auch beteiligt sind.
- Obwohl kriminelles Verhalten ein Ausdruck genereller Bedürfnisse und Werte ist, wird es nicht durch diese erklärt. Auch nicht-kriminelles Verhalten kann nämlich aus genau denselben Werten und Bedürfnissen folgern (z.B. sexuelle Triebe).
Kriminalpolitische Implikationen
Sutherlands Theorie der differentiellen Kontakte steht sicherlich für ein resozialisierendes Strafrecht. Da kriminelle Einstellungen und Aktivitäten erlernt werden können, können logisch geschlussfolgert diese auch wieder verlernt bzw. konforme Verhaltensweisen, Attitüden und Rationalisierungen erlernt werden.
Im Sinne des in der Theorie letztendlich entscheidenden Ungleichgewichts zwischen assoziierten Einstellungen, die Gesetzesübertretungen begünstigen, und Einstellungen, die Gesetzesübertretungen negativ bewerten, muss es also das Ziel von Justiz und Gesellschaft sein, Kriminelle mit Nicht-Kriminellen zu umgeben bzw. soziale Räume aufzulösen, in denen überwiegend Menschen mit abweichenden Motiven und Handlungsmustern leben.
Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug
In der Vergangenheit wurden Sutherland oftmals theoretische Lücken in seinem Konzept vorgeworfen, für die sich dann eigene Theorien bzw. Theorieerweiterungen fanden.
So machte Sutherland selbst auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Neigungen der lernenden Individuen aufmerksam, welche signifikant mit darüber entscheiden, ob deviante Handlungen und Einstellungen akzeptiert werden oder nicht.
Glaser wies indes darauf hin, dass es keine Personenmehrheiten sind, die das Erlernen von Kriminalität hervorrufen, sondern vielmehr das Maß an Identifikation mit diesen Personen.
Cloward & Ohlin vermissten zudem die Beschäftigung mit kriminellen Gelegenheiten, somit also auch den Zugang zu illegitimen Mitteln sowie die Sperrung von legitimen Mitteln.
Akers (und anders auch Eysenck) erweiterten Sutherlands Theorie, um eine detaillierte Analyse der stattfindenden Lernprozesse (Konditionierung, Lernen am Modell, etc.).
Ungeachtet dessen hat Sutherlands kriminalitätsbezogene Lerntheorie mit dem Vorwurf von partieller Tautologie zu kämpfen, da ein Vorhandensein von Delinquenz bereits gegeben sein muss, damit es überhaupt weitergegeben werden kann.
Des Weiteren berücksichtigt die Theorie der differenziellen Assoziationen weder Trieb- und Affektverbrechen noch beachtet sie, dass die Lernfähigkeit unterschiedlicher Individuen auch unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann.
Sutherlands These geht zudem von einer rein behavioristischen Sichtweise aus: Der Mensch reagiere automatisch und reflexhaft auf Reize in der Umwelt. Kognitive oder willensfreie Aspekte werden hier nicht genügend berücksichtigt.
Dennoch lässt sich Sutherlands Theorie als eine einschneidende anti-biologistische Theorie würdigen. Die Berücksichtigung von sozialen Prozessen bei der Suche nach Kriminalitätsursachen hat nach Sutherland erst so richtig seinen Lauf genommen und ist heute neben sozialstrukturellen Aspekten sicherlich längst vorherrschend in der kriminologischen Forschung. Die Vorstellung, dass Kriminalität erlernbar ist, hat den zuvor sehr täterorientierten Blickwinkel zu einem kriminalsoziologischen und -sozialpsychologischen gemacht.