Die Theorie der differentiellen Gelegenheiten verbindet Lern-, Subkultur-, Anomie- und Theorien der sozialen Desorganisation und erweitert diese um die Erkenntnis, dass für kriminelles Verhalten auch der Zugang zu illegitimen Mitteln bestehen muss.
Hauptvertreter
Richard A. Cloward und Lloyd E. Ohlin
Theorie
Eine Art Bindeglied zwischen Lern-, Sozialraum-, Subkultur- und Anomietheorien stellt Cloward & Ohlins Theorie der differentiellen Gelegenheiten dar.
Der Ansatz stützt sich zum einen auf Sutherland, indem von dem Erlernen krimineller Motive, Techniken und Rationalisierungen durch kriminelle Assoziationen ausgegangen wird. Zum anderen teilen sich Cloward und Ohlin mit Merton und Cohen die Vorstellung, dass abweichendes Verhalten Folge des schichtspezifischen Anpassungsdrucks, genauer des versperrten Zugangs zu legitimen Mitteln ist, und dass diese Anpassung (nach Cohen) typischerweise kollektiv durch Interaktionsprozesse in Gruppen verläuft.
Die Antwort, weshalb aber nicht alle Personen, die unter Anpassungsproblemen leiden, kriminell werden, sehen Cloward und Ohlin darin, dass für kriminelles Handeln auch der Zugang zu illegitimen Mitteln versperrt sein kann. So ist beispielsweise der Drogenhandel in manchen Stadtteilen schwerer zugänglich als in anderen.
Auch die Gelegenheit, Autos aufzubrechen, hängt von der sozialen Situation des Umfeldes, des Autobesitzers und dem Vorhandensein möglicher Komplizen ab. Sozial desorganisierte Stadtteile bieten somit, ganz nach der Theorie von Shaw und McKay, mehr Zugänge zu kriminellem Verhalten als andere.
Die Theorie der differentiellen Gelegenheiten ist aber auch innerhalb subkultureller Strukturen anwendbar. So erscheint es offensichtlich, dass delinquente Banden und Gangs nur Verbrechen begehen können, sofern sie auch über die dafür notwendigen Mittel verfügen.
Sowohl auf makrosozialer wie auch auf subkultureller Ebene kann es nach Cloward und Ohlin nun auch passieren, dass einem Individuum weder legitime noch illegitime Mittel zur Verfügung stehen. Da in so einem Falle die erfolgreiche Lebensgestaltung weder im sozial institutionalisierten noch im sozial abweichenden Bereich möglich ist, sprechen die Autoren über die betroffenen Personen von Doppelversagern.
Mitglieder von Subkulturen in solch einem Dilemma reagieren laut Cloward und Ohlin mit wahlloser Gewalt und verschärfter Reviererweiterung.
Alles in allem kann gesagt werden, dass Cloward und Ohlin mehr auf die Tatgelegenheit und weniger auf die Tatmotivation abzielen. Kriminalität ist nur möglich, wenn die Gesellschaft, wenn bestimmte Stadtteile oder Nachbarschaften, oder wenn delinquente Subkulturen illegitime Mittel bereitstellen. Eine gewisse Verwandtschaft ist somit auch zum routine activity approach nicht zu übersehen, bei dem beispielsweise die Anwesenheit einer Alarmanlage die Tatgelegenheit verhindert.
Kriminalpolitische Implikationen
So wie die Theorie selbst sind auch die politischen Forderungen und Schlussfolgerungen ein Gemisch aus unterschiedlichen Ansätzen.
Nach der Theorie der differentiellen Gelegenheiten sind Resozialisierung durch Erlernen konformer Verhaltensweisen, eine gute Sozialpolitik, Wert- und Moralerziehung, das Auflösen problematischer Stadtteile, aber auch in gewissem Maße Abschreckung und situationale Kriminalprävention denkbar.
Aktiv forderten Cloward und Ohlin vor allem mehr Bildung und Verbesserung der ökonomischen Bedingungen für die US-amerikanische Unterschicht, um kulturellen und finanziellen Erfolg für alle Mitglieder der Gesellschaft zu ermöglichen. Dazu zählte auch die Etablierung sozialer und politischer Strukturen innerhalb kriminell anfälliger oder sozial benachteiligter Nachbarschaften und Umgebungen.
Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug
Cloward und Ohlin teilen sich sowohl einige Stärken als auch einige Schwächen der von ihnen verbundenen Theorien, welche sich durch deren Zusammenführung zum Teil jedoch gegenseitig auflösen.
Übrig bleibt in jedem Fall die Kritik, dass nicht jedes Delikt spezifische Gelegenheiten oder bestimmte illegitime Mittel zu seiner Ausführung benötigt. Pure Gewalt oder kleptomanische Verhaltensweisen sind offensichtlich immer und an jedem Ort möglich. Diskutabel ist und bleibt somit die Grundannahme Cloward und Ohlins, kriminelle Handlungen seien prinzipiell immer Reaktionen auf Status- und Anpassungsprobleme. Diese enge Sicht konnte bereits Merton, Cohen u.a. vorgeworfen werden.
Dennoch gelingt es der Theorie der differentiellen Gelegenheiten, den für die meisten Delikte notwendigen Tatzugang deutlich zu machen. Dadurch werden zum einen situationale Elemente in der kriminologischen Diskussion unterstrichen, und zum anderen mit dem Gedanken gespielt, ob nicht am Ende ein jeder kriminell handeln würde, wenn er die dafür notwendigen Zugänge hätte.