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Sozialwissenschaftliche Theorien

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Rational Choice

Broken Windows (Wilson & Kelling)

Broken Windows, zerbrochene Fensterscheiben, ist ein von James Q. Wilson und George L. Kelling geprägter Begriff. Den beiden Autoren zufolge muss die zerbrochene Fensterscheibe schnellstmöglich repariert werden, damit weitere Zerstörungen im Stadtteil und das Steigen der Kriminalitätsrate verhindert werden. Verwüstungen in Stadtgebieten stehen demnach in unabdingbarer Verknüpfung mit Kriminalität und bedingen diese. Ein scheinbar harmloses Phänomen kann somit gravierende Folgen mit sich bringen.

Hauptvertreter

George L. Kelling, James Q. Wilson

Theorie

Wilson & Kelling nahmen mit Ihren Ausführungen großen Einfluss auf die amerikanischen Policing-Strategien jener Zeit. In Ihren Studien legten sie ihr Augenmerk auf polizeiliche Fußstreifen als Methode des Policings. Auch wenn ihre Studien belegt haben, dass Fußstreifen keinerlei Einfluss auf die Kriminalitätsraten ausübten, haben sie demonstriert, dass die Stadtteilbewohner durch die Anwesenheit der Polizei ein größeres Sicherheitsgefühl aufgebaut haben. Um ihre Sichtweisen zu veranschaulichen entwickelten sie die sog. Broken-Windows-Theorie:

Die Autoren nehmen in der Broken Windows Theorie Bezug auf ein Experiment des Psychologen Philip Zimbardo, das dieser 1969 durchführte. Er stellte jeweils in der New Yorker Bronx und dem Stadtteil Palo Alto in Kalifornien ein Auto mit abmontierten Kennzeichen und geöffneter Motorhaube ab. Im Stadtteil Bronx begannen die Bewohner bereits nach Minuten, verwertbare Teile des Autos abzumontieren und anschließend den Wagen komplett zu zerstören. Im Gegensatz hierzu blieb der PKW in Palo Alto unangetatst. Ein besorgter Passant schloss lediglich die geöffnete Motorhaube. Erst als Zimbardo in das Experiment eingriff und den Wagen mit einem Vorschlaghammer selbst demolierte, wurde auch in Kalifornienen das Auto von den Anwohnern schließlich ausgeschlachtet. Zimbardo schloss darsu, dass der Vandalismus zum einen auf eine sichtbare Vorbeschädigung zurückzuführen ist und zum anderen mit der Erfahrung mit sozialer Unordnung/ Verwahrlosung im Stadtteil.

Wilson und Kelling greifen das Studienergebnis Zimbardos auf und schlussfolgern:

Untended property becomes fair game for people out for fun or plunder and even for people who ordinarily would not dream of doing such things and who probably consider themselves law-abiding. Because of the nature of community life in the Bronx—its anonymity, the frequency with which cars are abandoned and things are stolen or broken, the past experience of „no one caring“—vandalism begins much more quickly than it does in staid Palo Alto, where people have come to believe that private possessions are cared for, and that mischievous behavior is costly. But vandalism can occur anywhere once communal barriers—the sense of mutual regard and the obligations of civility—are lowered by actions that seem to signal that „no one cares.“
(Kelling & Wilson, 1982)

Anknüpfend an das Experiment von Zimbardo übertragen Wilson und Kelling mit dem Broken Windows Ansatz die Studienergebnisse auf Verfallserscheinungen im sozialen Raum. Als Auslöser für kriminelles Handeln sehen Wilson und Kelling den städtebaulichen Verfall („urban decay“) wie z.B. zerbrochene Fenster (Broken Windows). Die zerbrochenen Fenster stehen dabei als bildhaftes Symbol für heruntergekommene Teile der Stadt. Der sichtbare Verfall signalisiert den Bewohnern des Stadtteils eine mangelnde Kontrolle, die auch andere (unerwünschte) Besucher des Stadtteils registrieren. Die Anwesenheit dieser Personen und die Anzeichen physischer Verwahrlosung schüren eine Kriminalitätsfurcht bei den alteingesessenen Bewohnern, die aufgrund dieser Veränderungen jetzt beginnen, den Stadtteil zu verlassen. Der Wegzug der „anständigen Bürger“ sorgt für ein Absinken der sozialen Kontrolle, womit die Begehung von Straftaten objektiv erleichtert wird. Weitere Bewohner verlassen nun den Stadtteil und setzen einen Verstärkerkreislauf (betshend aus Anzeichen des Verfalls -> Kriminalitätsfurcht -> Abnahme der sozialen Kontrolle)  in Gang.

Als Anzeichen mangelnder formeller sowie informeller sozialer Kontrolle (auch Incivilities genannt) unterscheiden Wilson und Kelling zwischen:

  1. physical disorder (wie z.B. verfallende Gebäude, verlassene Grundstücke, beschmierte Wände, etc.) und
  2. social disorder (auf den Straßen streunende Gruppen, Obdachlose, aggressive Bettler, Drogenszene, etc.).

Schema der "Funktionsweise" der Broken Windows Theorie von Wilson und Kelling

Kriminalpolitische Implikation

Das New Yorker Polizeimodell „Zero Tolerance” von William Bratton basiert auf der Broken Windows Theorie. Sie hat die Unterbrechung des Verstärkerkreislaufes nach Shaw und McKay zum Inhalt. Bratton verdeutlicht seine Gedanken am Beispiel der New Yorker Polizei. Hiernach werden die kleinsten Vergehen wie z.B. öffentliches Urinieren, Drogenbesitz oder das Sprühen von Graffiti geahndet (qualify of life offenses). Dies soll zum Zweck der Prävention zeigen, dass auch größere Vergehen geahndet werden. In New York hatte diese Strategie in den 90ern einen großen Erfolg. Es wird auch von einem „problem oriented policing“ gesprochen. Kernelemente dieses waren:

  1. Eine strategisch neue Vorgehensweise
  2. Stärkung des Community Policings durch
    • Dezentralisierung der Kommandostrukturen ( Benennung von Leitern für einzelne Reviere, die nur für ihren Bezirk zuständig sind (Precinat Commanders)
    • Zusammenarbeit mit der Bevölkerung
  3. Erstellung eines Aktionsplans (Benennung von 6 Problembereichen und Zielen)
  4. Erstellung von Lageplänen von Kriminalität (Wann und wie war die Polizei im Einsatz)
  5. Detaillierte Statistikerstellung (z.B. Wie viele Patronen verschossen)
  6. Computer-Compstat-Meetings: Kontinuierliche Erfolgskontrolle der einzelnen Bezirke durch Computer gestützte Analysen
  7. Stärkung des Community Policings durch – Dezentralisierung der Kommandostrukturen – Zusammenarbeit mit Bürgern

Als kriminalpolitische Implikation des Zero-Tolerance-Modells wiederum lässt sich das „Crime Mapping“ sehen. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte Kriminologische Regionalanalyse (KRA) – eine Dokumentation von Kriminalität in bestimmten Regionen.

Kritische Würdigung & Aktualitätsbezug

Die Broken Windows Theorie zählt zu den bekanntesten und meist zitierten Annahmen unter den kriminologischen Kriminalitätstheorien.  Ihren Erfolg verdankt die Theorie sicherlich der simplen unterstellten Kausalbeziehung von Ordnung im öffentlichen Raum auf der einen und Kriminalitätserscheinungen auf der anderen Seite.

Kritiker, wie die amerikanischen Kriminologen (Sampson & Raudenbush, 1999), kritisieren jedoch, dass eben jene unterstellte kausale Beziehung einer Fehlannahme unterliege. Der postulierte direkte Zusammenhang zwischen (Un-)Ordnung und Kriminalität sei vielmehr vermittelt durch das Maß der soziale Kohäsion einer Gemeinschaft und der geteilten Erwartung hinsichtlich der sozialen Kontrolle im Wohnumfeld.

Zur Kritik des Broken Window Ansatzes siehe entsprechende ausführliche Ausführungen in der Krimpedia

Literatur

Primärliteratur

  • Kelling, George L; Coles, Catherine M (1997): Fixing broken windows. Restoring order and reducing crime in our communities. New York: Simon & Schuster.
  • Kelling, George L.; Wilson, James Q. (1982): Broken Windows. The police and Neighborhood Safety. The Altlantic. [Volltext]

Sekundärliteratur

  • Dreher, G.; Feltes, T. (Hrsg.) (1997). Das Modell New York: Kriminalprävention durch „Zero Tolerance“?: Beiträge zur aktuellen kriminalpolitischen Diskussion. Veröffentlicht in Empirische Polizeiforschung 12. Online verfügbar unter: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/78229/epf_12.pdf?sequence=1&isAllowed=y
  • Hess, H. (2004): Broken Windows: Zur Diskussion um die Strategie des New York Police Department. Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft. Band 116, Heft 1, Seiten 66–110.
  • Sampson, Robert J.; Raudenbush, Stephen W (1999): Systematic Social Observation of Public Spaces: A New Look at Disorder in Urban Neighborhoods. American Journal of Sociology. 105 (3): 603–651.
  • Schwind, H.-D. (2008): Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. S. 326-330.

Weiterführende Informationen

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[YouTube Video: Broken Windows Theory – Criminology]

You Tube Video: Applying the Broken Window Theory to Cars

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How A Theory Of Crime And Policing Was Born, And Went Terribly Wrong (NPR, 01.11.2016)

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  • Artikel zu „Broken Windows“ auf Criminologia.de

Kategorie: Kriminalitätstheorien Tags: 1982, ätiologisch, Broken Windows, Kontrolle, Makro, Rational Choice, Shaw und McKay, soziale Desorganisation, Soziologie, USA, Zero Tolerance Policing

Routine Activity Approach

Der Routine Activity Approach besagt, dass es für Kriminalität einen motivierten Täter und ein geeignetes Tatobjekt, bei gleichzeitiger Abwesenheit von ausreichendem Schutz für das Tatobjekt, geben muss.

Hauptvertreter

Lawrence E. Cohen, Marcus Felson, Ronald V. Clarke

Theorie

Nach Cohen und Felson sind Kriminalitätsraten abhängig von den sich ständig verändernden Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen der Bevölkerung. Je nach Zeit und Ort variieren drei für Cohen und Felson entscheidende Faktoren, die für das Eintreten oder Ausbleiben krimineller Verhaltensweisen verantwortlich sind (s. Schaubild).

Schaubild: Routine Activity Approach

Demnach ist die Voraussetzung für Kriminalität ein zu einer Straftat motivierter Täter, wobei diese Motivation ganz unterschiedlicher Natur sein kann.

Zudem muss es ein für den Täter geeignetes Tatobjekt (potenzielles Opfer, verlockender Gegenstand u.a.) geben. Dabei gibt es verschiedene Faktoren, die beeinflussen, ob das Objekt auch geeignet ist: Wert, Größe/Gewicht und Sichtbarkeit des Objektes sowie Zugang zum Objekt.

Zu guter Letzt ist das Fehlen informeller oder formeller Kontrolle als Schutz für das Tatobjekt zu nennen. Dabei kann es sich um personale, aber auch technische Kontrolle handeln: Polizeibeamte und Sicherheitsleute, Videoüberwachung und Alarmanlagen, aufmerksame Passanten, Nachbarn, Freunde und Personal.

Zusammenfassend beschreibt der Routine Activity Approach also Kriminalität als situatives Ereignis, welches weniger von der Persönlichkeit und Sozialisation des Täters als vielmehr und zum großen Teil von der Situation, in der sich der Täter befindet, abhängt.

Kriminalpolitische Implikationen

Kriminalpolitische Folge aus dem Rational Choice, aus den Deterrence Theories, vor allem aber aus dem Routine Activity Approach ist die so genannte Situational Crime Prevention.

Diese Form der Kriminalpolitik versucht nicht, durch Resozialisierung, Abschreckung oder Segregation des Täters zukünftige Kriminalität zu verhindern, sondern setzt ausschließlich auf eine Reduktion der kontextuellen und situativen Möglichkeiten für Kriminalität. Die kriminalpolitische Aufgabe besteht demnach darin, die Lebensumwelt so zu verändern, dass sich die Zahl der Tatgelegenheiten verringert.

In der ursprünglichen Konzeption der Situational Crime Prevention unterscheidet Ronald Clarke zwischen drei Techniken der situationalen Kriminalprävention, die sich unmittelbar auf die drei Elemente des Routine Activity Ansatzes beziehen:

  1. Erhöhung des Tataufwandes für den Täter, zum Beispiel durch die Kontrolle von Tatwerkzeugen oder die Ab- und Umlenkung des Täters weg vom Tatobjekt,
  2. Erhöhung des Risikos für den Täter, vor allem durch verschiedene Formen der Überwachung,
  3. Reduzierung des Nutzens aus der Tat für den Täter, zum Beispiel durch Beseitigung der Tatobjekte oder durch Minderung des Anreizes, die Tat zu begehen.

In einer späteren Erweiterung erweitern Clarke und Eck (2005) den Ansatz auf 25 Techniken der situativen Kriminalprävention. Neben den benannten theoretischen Fundierungen ist hier v.a. der Bezug zu Sykes‘ und Matzas Techniken der Neutralisierung auffällig (siehe 5. Spalte der Tabelle: Remove Excuses).

25 Techniken der situativen Kriminalprävention

Increase the effortIncrease the risksReduce the rewardsReduce provocationsRemove excuses
1. Target harden

  • Steering column locks and ignition immobilizers

  • Anti-robbery screens

  • Tamper-proof packaging

6. Extend guardianship

  • Go out in group at night

  • Leave signs of occupancy

  • Carry cell phone

11. Conceal targets

  • Off-street parking

  • Gender-neutral phone directories

  • Unmarked armoured trucks

16. Reduce frustrations and stress

  • Efficient lines

  • Polite service

  • Expanded seating

  • Soothing music/muted lighting

21. Set rules

  • Rental agreements

  • Harassment codes

  • Hotel registration

2. Control access to facilities

  • Entry phones access

  • Electronic card

7. Assist natural surveillance

  • Improved street lighting

  • Defensible space design

  • Support whistle-blowers

12. Remove targets

  • Removable car radio

  • Women's shelters

  • Pre-paid cards for pay phones

17. Avoid disputes

  • Separate seating for rival soccer fans

  • Reduce crowding in bars

  • Fixed cab fares

22. Post instructions

  • ‘No Parking’

  • ‘Private Property’

  • ‘Extinguish camp fires’

3. Screen exits

  • Ticket needed for exit

  • Export documents

  • Electronic merchandise tags

8. Reduce anonymity

  • Taxi-driver IDs

  • ‘How's my driving?’ deals

  • School uniforms

13. Identify property

  • Property marking

  • Vehicle licensing and parts marking

  • Cattle branding

Reduce temptation and arousal

  • Controls on violent pornography

  • Enforce good behaviour on soccer field

  • Prohibit racial slurs

23. Alert conscience

  • Roadside speed display boards

  • Signatures for customs declarations

  • `Shoplifting is stealing’

4. Deflect offenders

  • Street closures

  • Separate facilities for women

  • Disperse pubs

9. Use place managers

  • CCTV for double-deck buses

  • Two clerks for convenience stores

  • Reward vigilance

14. Disrupt markets

  • Monitor pawn shops

  • Controls on classified ads

  • Licensed street vendors

19. Neutralize peer pressure

  • ‘Idiots drink and drive’

  • ‘It's OK to say No’

  • Disperse trouble-makers at school

24. Assist compliance

  • Easy library checkout

  • Public lavatories

  • Litter receptacles

5. Control tools/weapons

  • ‘Smart’ guns

  • Restrict spray-paint sales to juveniles

  • Toughened beer glasses

10. Strengthen formal surveillance

  • Red-light cameras

  • Burglar alarms

  • Security guards

15. Deny benefits

  • Ink merchandise tags

  • Graffiti cleaning

  • Disabling stolen cell phones

20. Discourage imitation

  • Rapid repair of vandalism

  • V-chips in TVs

  • Censor details of modus operandi

25. Control drugs and alcohol

  • Breathalysers in bars

  • Server intervention programs

  • Alcohol-free events

(Clarke, 2005, S. 46f.)

Erwähnenswert bleibt noch die Forderung von Clarke, das Justizsystem nur im äußersten Falle zu benutzen. Im Vordergrund sollten natürliche Strategien zur situationalen Kriminalprävention stehen, sodass es für die Menschen in den einzelnen Situationen als bequem und sinnvoll erscheint, sich legal zu verhalten. Als Beispiel wäre hier eine angemessene Parkplatzpolitik mit dem Ziel, Falschparken zu verhindern, zu nennen.

Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug

Der Routine Activity Approach ist zunächst als theoretische Grundlage für das erstmals nicht mehr rein täterorientierte Konzept der Situational Crime Prevention zu würdigen.

Deren Erfolge bezüglich Kriminalitätsverringerung sind in einer Vielzahl von Studien belegt worden. Jedoch hat die situative Kriminalitätsprävention mit dem Vorwurf der Deliktsverlagerung zu kämpfen, nach dem Kriminalität nicht sinkt, sondern lediglich auf zeitlicher, räumlicher, methodischer u.a. Dimension verlagert wird. Kritiker mahnen zudem an, dass durch die Konzentration auf situative Faktoren die eigentlichen Ursachen, die Kriminalität zugrunde liegen, unangetastet bleiben.

Darüber hinaus leidet der Routine Activity Approach unter den gleichen Schwächen wie die Rational Choice Theory und die Deterrence Theories, da auch dort von einem stets rational agierenden Menschen ausgegangen wird, der sich durch die benannten kriminalpräventiven Maßnahmen von seinem Tatentschluss abringen lässt. Dabei werden jedoch emotionale, psychische, soziale und entwicklungsbedingte Faktoren außer Acht gelassen werden.

Schließlich ließe sich argumentieren, dass die situative Kriminalpolitik für eine konservative Weltsicht steht, die durch den Ruf nach mehr Überwachung, Exklusion von gesellschaftlichen Randgruppen gekennzeichnet ist. Der „nüchterne“ Blick auf Kriminalität als Ergebnis einer unzureichenden Absicherung situativer Gefahren, lässt zudem keine empathische Haltung gegenüber den Kriminalitätsopfern zu (die nach dieser Sichtweise gescheiter sind, die Kriminalitätsgefahren ausreichen „gemanagt“ zu haben).

Primärliteratur

  • Clarke, R. V. (2005). Seven misconceptions of situational crime prevention. In: Tiiley, N. (Hrsg.). Handbook of Crime Prevention and Community Safety (S. 39-70).  London: Routledge. Online verfügbar unter: https://www.routledgehandbooks.com/doi/10.4324/9781843926146.ch3
  • Clarke, R. V. & Eck, J. E. (2005). Crime analysis for problem solvers: In 60 small steps. Washington DC: Office of Community Oriented Policing.
  • Clarke, R. V. (1995). Situational crime prevention. In: Michael Tonry (Hrsg.). Building a safer society: strategic approaches to crime prevention. Chicago: University of Chicago Press.
  • Clarke, R. V. (1993). Routine activity and rational choice. New Brunswick, NJ: Transaction Publishers.
  • Cohen, L. E.; Felson, M. (1979). Social change and crime rate trends: a routine activity approach. In: American Sociological Review, Vol.44, Nr.4, S.588-608.

Kategorie: Kriminalitätstheorien Tags: 1979, ätiologisch, Kontrolle, Makro, Rational Choice, Routine Activity Approach, Situation, Soziologie, USA

Abschreckungstheorien (deterrence theories)

Abschreckungstheorien gehen davon aus, dass die Bestrafung von Verbrechen dazu führt, dass sowohl tatsächliche als auch potenzielle Täter Straftaten in Zukunft vermeiden.

Hauptvertreter

Cesare Beccaria, Jeremy Bentham, Franz von Liszt, Jack P. Gibbs, Alex Piquero, Raymond Paternoster, Stephan Tibbetts, M.C. Stafford, M. Warr, u.a.

Theorie

Schädelbalken
Ein sog. Schädelbalken: Im 15./ 16. Jahrhundert wurden zur Abschreckung die Köpfe hingerichteter Piraten auf einen Balken genagelt und öffentlich sichtbar ausgestellt.
Quelle: Von Bullenwächter – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20898787

Die Deterrence Theories basieren auf den klassischen und neoklassischen Annahmen eines willensfreien und rational denkenden Individuums, welches nach utilitaristischem Prinzip nach Lustgewinn und Schmerzvermeidung (beziehungsweise nach rationalem Wahlhandlungsprinzip nach Nutzenmaximierung und Kostenreduzierung) strebt. Sofern kriminelle Handlungen diesem Streben entgegenkommen (wenn also durch Kriminalität die eigene Lust gesteigert werden kann), liegt es nahe, sie zu wählen. Ist die Handlung jedoch mit einer Strafe belegt, so ist es wahrscheinlich, dass die zu erwartenden Kosten gegenüber dem zu erwartenden Nutzen überwiegen. Entscheidend ist zudem, mit welcher Wahrscheinlichkeit und mit welcher zeitlichen Verzögerung die Sanktion auch tatsächlich auf die kriminelle Handlung erfolgt.

Die Abschreckungsthese besagt demnach, dass Menschen von kriminellen Handlungen abgehalten werden können, wenn angedrohte Strafen der delinquenten Handlung mit Sicherheit und ohne zeitliche Verzögerung folgen und diese so schwer oder so hart sind, dass der zu erwartende Schmerz (Kosten) durch die Strafe größer ist als der zu erwartende Lustgewinn (Nutzen) durch die kriminelle Handlung.
Zu unterscheiden ist dabei zwischen der generellen Abschreckung (entspricht der negativen Generalprävention im deutschen Strafrecht) und der spezifischen Abschreckung (entspricht der negativen Spezialprävention im deutschen Strafrecht):

  • Erstere bewirkt das Unterlassen von kriminellen Handlungen durch die Allgemeinheit, also von potenziellen Tätern. Die öffentliche Sichtbarmachung der Sanktion ist daher äußerst entscheidend, damit die Allgemeinheit auch weiß, was „ihr blühen würde“ und daher delinquentes Verhalten unterlässt.
  • Die spezifische Abschreckung bezeichnet indes die Wirkung der Sanktion auf den Bestraften, welcher nun aus Angst vor erneuter Strafe von weiteren kriminellen Handlungen abgehalten wird. Von Liszt sieht diese Form der Bestrafung für den so genannten Gelegenheitsverbrecher vor, dem ein Denkzettel verpasst werden müsse, um ihm die Grenze zwischen Konformität und Kriminalität für die Zukunft zu verdeutlichen.

Kriminalpolitische Implikationen

Offensichtlich besteht nach Meinung der Abschreckungstheoretiker die Forderung, auf Kriminalität immer und ohne zeitliche Verzögerung in der Schwere zu reagieren, sodass es irrational wird, kriminell zu handeln.
Zu bedenken ist dabei jedoch, dass nicht die tatsächlichen Strafen abschreckend wirken, sondern die Strafen, die von den Menschen erwartet werden (perceived deterrence), welche wiederum von den eigentlich durchgeführten Sanktionen und deren medialer Berichterstattung beeinflusst werden.
Außerdem beziehen sich Abschreckungstheorien nicht nur auf strafrechtliche Sanktionen, sondern zeigen sich auch in anderen politisch präventiven Konzepten wie Videoüberwachung und Personenkontrollen. Im Vordergrund steht hier also weniger die Antizipation einer harten Strafe als vielmehr das erhöhte Entdeckungsrisiko, ein Teil einer Situational Crime Prevention.

Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug

In der Kriminalpolitik wird seit vielen Jahren die abschreckende Wirkung von Sanktionen diskutiert. In den USA, wo sich die Deterrence Theories einer großen Anhängerschaft erfreuen, ist mit der Todesstrafe eine vergleichsweise extreme Form des Abschreckungsgedankens Realität. Fragwürdig ist, ob der Durchführung von strafrechtlichen Exekutionen tatsächlich der Abschreckungsgedanke zugrunde liegt, oder ob hier nicht Konzepte wie ‚just deserts‘, ‚retribution‘ (Vergeltung) oder ‚incapacitation‘ (Unschädlichmachung) die eigentliche Begründung liefern.
Selbst die Annahme, die Verhängung von Todesstrafen wirke abschreckend, ist in den letzten Jahren vielfach untersucht und häufig empirisch widerlegt worden. Allerdings gibt es auch Studien, die die abschreckende Wirkung der Todesstrafe belegen.
Insgesamt erscheint es jedoch äußerst zweifelhaft, ob die deterrence theories zu halten sind. So mehren sich auch bezüglich der Videoüberwachung Stimmen, die eine abschreckende Wirkung von Kameras leugnen und vielmehr von einer räumlichen Kriminalitätsverlagerung in Verbindung mit der Verringerung subjektiver Kriminalitätsfurcht sprechen.

Literatur

Primärliteratur

  • Beccaria, C. (1766): Über Verbrechen und Strafen. Hrsg. von Wilhelm Alff. Frankfurt am Main, 1988.
  • von Liszt, F. (1882/83): Der Zweckgedanke im Strafrecht. Frankfurt am Main, 1943.
  • Paternoster, R.; Piquero, A. (1995): Reconceptualizing Deterrence: An empirical test of personal and vicarious experiences. In: Journal of Research in Crime and Delinquency 32, S. 251-258.
  • Piquero, A.; Tibbetts, S. (1996): Specifying the direct and indirect effect of low self-control and situational factors in offenders’ decision. In: Justice Quarterly 13, S.481-510
  • Stafford, M. C.; Warr, M. (1993): A reconceptualization of general and specific deterrence. In: Journal of Research in Crime and Delinquency 30, S.123-135.

 

Weiterführende Informationen

  • Piquero, A.; Pogarsky, G. (2002): Beyond Stafford and Warr’s Reconceptualization of Deterrence: Personal and Vicarious Experiences, Impulsivity, and Offending Behavior. Journal of Research in Crime and Delinquency, Vol. 39, No. 2, 153-186.
  • Auflistung von Spielfilmen, die sich thematisch mit der Todesstrafe befassen (Wikipedia)

Kategorie: Kriminalitätstheorien Tags: Abschreckung, Deterrence, Deutschland, Italien, Kontrolle, Mikro/Makro, pönologisch, Rational Choice, Sanktionierung, Situation, USA

Rational Choice Theory

Die in der Kriminologie angewandte Version der Rational Choice Theory versteht Kriminalität als Folge individuellen rationalen Abwägens zwischen dem erwarteten Nutzen und den erwarteten Kosten der kriminellen Handlung.

Hauptvertreter

Gary S. Becker, Derek Cornish, Ronald Clarke, u.a.

Theorie

Die These des ‚Rational Choice’ ist eine ökonomisch geprägte, allgemeine Handlungstheorie. Generell besagt dieser sowohl wirtschaftswissenschaftliche als auch sozialwissenschaftliche Ansatz, dass jegliches Handeln durch Ziele, Wünsche und Bedürfnisse sowie durch den menschlichen Versuch, diese Ziele in höchstmöglichem Ausmaß zu realisieren, bedingt ist. Eine Handlung wird demnach umso wahrscheinlicher begangen, je größer der persönliche Nutzen ist und je geringer die persönlichen Kosten dieser Handlung sind.

Da es sich bei der Rational Choice Theory um eine allgemeine Handlungstheorie handelt, beschränken sich Nutzen und Kosten nicht nur auf finanzielle oder sonstige wirtschaftliche Faktoren, sondern können auch psychische oder soziale Nutzen und Kosten implizieren. Die eigenen Vor- und Nachteile einer Handlung werden kalkuliert und sich dementsprechend für oder gegen die Handlung entschieden.

In der Kriminologie wurde dieses allgemein handlungstheoretische, aber auch bereits in der klassischen Schule angedeutete Modell des ‚Rational Choice’ genutzt, um auch das Phänomen von Kriminalität beziehungsweise Abweichung zu erklären. Demnach erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer delinquenten Handlung, wenn der Nutzen einer solchen Tat schwerer wiegt als die Kosten – beispielsweise wenn die Beute größer eingeschätzt wird als die Gefahr, gefasst zu werden.

Nach Cornish und Clarke ist zudem zwischen genereller und situativer Entscheidung zu kriminellem Verhalten zu differenzieren. Menschen können somit aufgrund einer hohen persönlichen Nutzenerwartung prinzipiell bereit sein, Verbrechen zu begehen, unterliegen jedoch vor der konkreten Handlung noch situativen Faktoren (Polizeigegenwart, Größe der Beute, Ort des möglichen Verbrechens), unter denen sie sich für den eigentlichen kriminellen Akt nochmals aktiv entscheiden müssen.

Kriminalpolitische Implikationen

Da die Theorie der rationalen Wahlhandlung auf der Annahme individueller Nutzenmaximierung beruht, ergibt sich kriminalpolitisch die Aufgabe, konformes Verhalten so zu belohnen und gleichzeitig kriminelles Verhalten so zu bestrafen, dass ersteres für den Einzelnen rationaler wird. Die Gesellschaft, der Staat und ihr Strafrecht müssen also so konzipiert werden, dass es nutzenmaximierender, also rationaler für den Einzelnen ist, konformes Handeln dem kriminellen Handeln vorzuziehen.

Konkret bedeutet dies erstens, dass Anreize zu legalem Verhalten geschafft werden müssen. Zweitens müssen Zugänge zu kriminellem Handeln gesperrt werden, um quasi die Entscheidungssituation von vornherein auf konforme Alternativen zu beschränken. Drittens fordert die rational choice theory ein abschreckendes Strafrecht.

Sie ist somit eng mit den deterrence theories sowie – aufgrund der engen Verwandtschaft mit dem Routine Activity Approach – mit dem Konzept der Situational Crime Prevention verbunden.

Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug:

Bei einem Theoriegebilde, welches die Rationalität der Menschen zum Gegenstand hat, fällt sicherlich als Erstes die mangelnde Erklärungskraft für emotionale, affektive und triebgesteuerte Handlungen ins Auge. Der klassische „Totschlag“ ist mit ‚rational choice’ wohl kaum zu begründen.

Sinnvoll erscheint die Theorie der rationalen Wahlhandlung jedoch vor allem im Bereich der Wirtschaftskriminalität, da sie die in Chefetagen und Managerkreisen durchgeführten Kosten-Nutzen-Kalkulationen zugunsten devianter Handlungen als den Ursprung krimineller Machenschaften darzustellen vermag.

Jedoch schafft es die rational choice theory in ihrer Grundkonzeption nicht, Kriminalität jenseits wirtschaftlicher Motive zu erklären, denn offensichtlich gibt es weit mehr als Geld, für das es sich (delinquent) zu handeln lohnt.

Der daraus folgende Versuch, den Nutzenbegriff um nicht-finanzielle, soziale und psychologische Aspekte zu erweitern, erscheint auf den ersten Blick zwar sinnvoll, endet schlussendlich jedoch in einer theoretischen Konzeption ohne jedweden Erklärungsgehalt. Geht man nämlich davon aus, dass für den einen Dinge nützlich sind, die für den anderen vielleicht unnütz oder sogar kostspielig sind, drängt sich bei der Suche nach Handlungsursachen die alles entscheidende Frage auf, was denn eigentlich für wen Kosten und Nutzen ist. Viel wichtiger erscheint es nun plötzlich, die situativen, persönlichen und Sozialisationsbedingungen zu untersuchen, welche für diese uneinheitlichen Definitionen von Kosten und Nutzen verantwortlich sind.

Eine rationale Kosten-Nutzen-Kalkulation bleibt inhaltlich leer, solange nicht klar ist, was denn überhaupt kalkuliert wird beziehungsweise solange man annimmt, jedes Individuum kalkuliere gänzlich verschiedene Nutzen- und Kostenfaktoren. Zu ergänzen ist hier zudem die Tatsache, dass die rational choice theory keinen Versuch unternimmt, Sozialnormen in ihren Ansatz zu integrieren. Diese können aber durchaus auch für die weit reichenden Unterschiede individueller Kosten- und Nutzenkalküle verantwortlich sein. Kurz: Die Theorie der rationalen Wahlhandlung liefert in ihrer erweiterten Fassung keine Erklärung von Kriminalität, sondern beschreibt lediglich einen Mechanismus, dessen Elemente jedoch nicht fest bestimmbar sind.

Des Weiteren muss kritisiert werden, dass der Ansatz des ‚rational choice’ lediglich das Vorhandensein eines rational motivierten Täters berücksichtigt. Die Tatgelegenheit, also beispielsweise die notwendige Anwesenheit eines Opfers, wird bei hiesigem Ansatz nicht erwähnt. Zu verweisen ist an dieser Stelle auf den Routine Activity Approach.

Literatur

  • Homans, George Caspar (1968): Elementarformen sozialen Verhaltens. Opladen. [Allgemeine Grundlagen zu Rational Choice]
  • Derek B. Cornish and Ronald V. Clarke (1985): Crime as rational choice. In: The Reasoning Criminal. New York, 1986.
  • Gary S. Becker (1968): Crime and punishment: An economic approach. In: Essays in the economics of crime and punishment. New York, 1974.

Weiterführende Informationen

  • Artikel „Rational Choice“ in der Krimpedia

Kategorie: Kriminalitätstheorien Tags: ätiologisch, Kontrolle, Mikro/Makro, Rational Choice, Situation, Soziologie, USA

Klassische Kriminalitätstheorie

Die klassische Kriminalitätstheorie sieht kriminelles Handeln als das Ergebnis willensfreier und rationaler Entscheidungen der handelnden Individuen.

Hauptvertreter

Cesare Beccaria, John Howard, Jeremy Bentham, Samuel Romilly, John Anselm von Feuerbach, Sir Robert Peel, Samuel Pufendorf u.a.

Theorie

Die klassische Kriminalitätstheorie, insbesondere nach Beccaria, geht von einem willensfreien und dadurch vollständig eigenverantwortlichen Menschen aus, dem auch rational abwägende Fähigkeiten zugesprochen werden. Kriminalität ist demnach das Ergebnis willensfreier und rationaler Entscheidungen der handelnden Individuen.

Zwar werden in der Klassik auch die gesellschaftlichen Bedingungen als Ursachen von Verbrechen genannt, jedoch interessieren sich Beccaria und Co. vor allem für die Tat und weniger für den Täter. Dies liegt in der Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen begründet, sowie in der Tatsache, dass ein jeder gesellschaftlichen (oder zu Beginn der Klassik auch übernatürlichen) Umständen gleichermaßen begegnen kann, was zur Folge hat, dass nur die Tat selbst den Kriminellen vom Nicht-Kriminellen unterscheidet.

Kriminalpolitische Implikationen

Cesare Beccaria (1738-1794)
Cesare Beccaria (1738-1794)

Die zentrale Forderung der klassischen Schule ist die Verhältnismäßigkeit der Sanktionen zu ihren vorangegangenen Verbrechen. Das Strafmaß müsse, so Beccaria, anhand des angerichteten Schadens festgelegt werden. Justizwillkür sowie zu harte und unangemessene Strafen seien abzulehnen. Es gelte, klare, gesetzliche und für jedermann gleiche Regelungen bezüglich Strafe und Strafmaß einzuführen, welche nicht an der Person des Verbrechers, sondern nur an der Tat selbst zu orientieren sind. Demnach müsse es für die gleichen Verbrechen auch konsequent die gleichen Strafen geben, welche wiederum streng an die niedergeschriebenen, genauen Definitionen von den verschiedenen Verbrechen und ihren entsprechenden Strafregelungen gebunden sein müssen.

Der Aufruf zu Strafangemessenheit und weniger Grausamkeit kam nicht nur von Beccaria. Romilly stellte sich gegen willkürliche Verhängungen harter und unverhältnismäßiger Strafen, Peel forderte die dazu notwendige Säkularisierung und Rationalisierung des Strafrechts, Feuerbach machte sich für die Abschaffung der Folter stark, Pufendorf führte den Begriff der Würde des Menschen in das Strafrecht ein, und Howard erwirkte Gefängnisreformen, die die Gesundheit und Hygiene der Gefangenen berücksichtigten.

Fast alle Klassiker forderten zudem die mehr oder weniger weitgehende Abschaffung der Todesstrafe. Jedoch bezogen sich Beccaria und Co. dabei vor allem auf die oftmalige Unverhältnismäßigkeit dieser Sanktion zu ihrer Tat. Viele Menschen wurden damals für weniger schwere Straftaten exekutiert oder gar zu Unrecht getötet. Diesen Missstand wollte Beccaria bekämpfen.

Eine prinzipiell ablehnende Haltung gegenüber der Todesstrafe – so wie sie heute in vielen, vor allem europäischen Ländern vorherrscht – kann mit den Klassikern jedoch nicht in Verbindung gebracht werden, auch wenn sie in der Vergangenheit häufig so ausgelegt wurden. Denn immerhin wurden von Romilly, Feuerbach und auch Beccaria Delikte genannt, die nach wie vor für eine Todesstrafe in Frage kämen.

Dieses Phänomen lässt sich mit der kriminalpolitisch damals hervortretenden Forderung nach präventiver Wirkung des Strafrechts begründen. Nach Beccaria darf Strafe nur dann, und auch nur dann eingesetzt werden, wenn sie präventiv ist. Da der Mensch als willensfreies und verantwortliches Wesen gesehen wird, ist die Abschreckung (deterrence) die einzig denkbare Kriminalprävention.

Daraus folgt zunächst, dass Geheimprozesse abgeschafft und die Gerichtsverfahren beschleunigt werden müssen, um vor der scheinbar hohen Verbrechensaufklärung und effektiven Strafaussetzung der Justiz abzuschrecken. Zudem folgt hieraus jedoch auch, dass gewisse, besonders schwere Straftaten weiterhin mit der Todesstrafe belegt sein müssen, um auch hier die Forderungen nach Verhältnismäßigkeit und Prävention zu wahren.

Jedoch betont Beccaria, dass ein überwiegender Großteil der kriminellen Delikte mit Gefängnisstrafen belegt sein sollten, da eine zu häufige Anwendung der Todesstrafe zu Verrohung der Gesellschaft führe und daher keine abschreckende Wirkung mehr entfalte.

Skizze Panopticon nach einer Skizze von Jeremy Bentham (1791)
Entwurf Panopticon nach einer Skizze von Jeremy Bentham (1791)

Die Abschreckungsthese einerseits und die dieser zugrunde liegende Annahme der Rationalität und Verantwortlichkeit des Menschen andererseits zeigen sich auch in Benthams Idee des Panoptikums, einem Gefängnis, in dem die Insassen aufgrund der Bauweise des Gebäudes zu jedem Zeitpunkt unter visueller Bewachung der Aufseher stehen beziehungsweise davon ausgehen müssen, dass dem der Fall ist. Bentham geht ganz nach Tradition der Klassischen Kriminologie davon aus, dass diese Form des ständigen Überwachens zu einer konformen Lebensweise der Inhaftierten innerhalb der Mauern führen müsse, da es als äußerst irrational anzusehen wäre, sich in bewusster Anwesenheit eines Wärters kriminell zu verhalten. Noch mehr als Beccaria ist Bentham hier als impliziter Vorläufer des ‚Rational Choice’ zu sehen.

Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug

Problematisch ist sicherlich, dass die Frage nach dem Phänomen „Kriminalität“ in der klassischen Periode wohl eher noch ein Beiprodukt des politischen und literarischen Umgangs mit Strafe und Gerechtigkeit darstellte. Eine eigens erstellte Theorie, wie hier betitelt, gab es so nicht. Die Klassische Kriminalitätstheorie ist vielmehr eine durch Rezipienten im Nachhinein dargestellte und interpretierte Zusammenfassung der zumeist politischen Ideen eines Beccaria und seiner Zeitgenossen. So gibt es nicht wenige, die nicht die klassische, sondern die positivistische Kriminologie als eigentlichen Beginn der heutigen Kriminologie datieren, da dort der Gegenstand „Kriminalität“ klar umrissen ist.

Jedoch lässt sich die Bedeutung von Beccaria und der klassischen Schule (neben ihren kriminalpolitischen Einflüssen) vor allem durch ihre diversen aktuellen Rezeptionen (Rational Choice, Deterrence, Routine Activity) begründen. Die Klassische ist somit nicht nur die älteste Schule, sondern wohl auch die beständigste, deren Aktualität sich in den neoklassischen Untersuchungen immer wieder bestätigt.

Inhaltlich schwächelt die Klassische Theorie an der Unvereinbarkeit der Annahmen, die Menschen seien zwar frei und selbstverantwortlich für ihr Tun, unterlägen aber gleichzeitig (übernatürlichen, später gesellschaftlichen) Ursachen, die ihr abweichendes Verhalten hervorrufen. Dieser Widerspruch ist jedoch erneut darauf zurückzuführen, dass Beccaria und Co. keine Darstellung einer in sich stimmigen Kriminalitätstheorie verfolgten, sondern ihre politischen und strafrechtlichen Forderungen theoretisch zu begründen versuchten. Dafür war zum Einen die Erwähnung der Gesellschaft als Herd krimineller Aktivitäten notwendig, um ein gewisses Verständnis für den Täter und dadurch eine Abkehr von zu harten Strafen zu erreichen (damit in Verbindung stand auch die Kritik an den Richtern und den justiziellen Verfahren). Zum anderen war aber eben auch die Betonung der Gleichheit und Freiheit aller Menschen von Bedeutung, um den damals vorherrschenden utilitaristischen und aufklärerischen Gedanken zu unterstreichen und im Strafrecht zu etablieren.

Eine theoriebezogene Kritik kann daher besser anhand der Abschreckungs- und rationalen Wahlhandlungstheorien durchgeführt werden.

Literatur

  • Cesare Beccaria (1764): Dei delitti e delle pene [Volltext im italienischen Original auf WikiSource]
  • Cesare Beccaria (1798): Des Marchese Beccaria’s Abhandlung über Verbrechen und Strafen. Leipzig : Beygang
  • Cesare Beccaria (1819): On Crime and Punishment [Volltext in englischsprachiger Übersetzung]
  • Cesare Beccaria (1766): Über Verbrechen und Strafen. Hrsg. von Wilhelm Alff. Frankfurt am Main, 1988
  • Jeremy Bentham (1787): Panopticon or the Inspection-house. In: The Panopticon Writings. Hrsg. von Miran Bozovic. London/New York, 1995. [Volltext]

Kategorie: Kriminalitätstheorien Tags: 1764, Cesare Beccaria, Großbritannien, Italien, Jeremy Bentham, Kontrolle, Makro, pönologisch, Rational Choice, Sanktionierung, Soziologie

Rational Choice

Rationale, oft auch als neoklassisch bezeichnete, Kriminalitätstheorien gehen erstens von der Willensfreiheit des Individuums und somit von dessen persönlicher Verantwortung für das eigene Handeln aus. Hierin unterscheiden sie sich wesentlich von den ätiologischen Theorien, welche von einem Determinismus des Individuums sprechen.

Kriminalität ist das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Abwägung willensfreier Akteure. Kriminelles Verhalten ist rational, wenn der erwartete Nutzen höher ist als die erwarteten Kosten. Eine Kontrolle der Kriminalität kann durch Erhöhung der Kostenseite erfolgen (z.B. durch die Androhung einer harten und unmittelbar erfolgenden Strafe).

Zweitens gehen rationale Theorien von der Rationalität des Menschen aus, worunter sich eine Vorstellung von Kriminalität verbirgt, welche nur dann auftritt, wenn der Nutzen der kriminellen Handlung die Kosten jener überwiegen.

Laut rationalem Ansatz sind alle Menschen gleich und unterscheiden sich somit lediglich durch ihre Handlungen. Kriminelle können also nur aufgrund ihrer begangenen Tat von Nicht-Kriminellen differenziert werden. Daher bezeichnete man schon die rational orientierte, klassische Schule als tatorientiert und nicht – wie unter ätiologischem Paradigma – als täterorientiert. Das Hauptaugenmerk der rationalen Theorien liegt demnach auf der Situation.

Zusammenfassend ist nach rational orientierter Auffassung also Kriminalität das Ergebnis freier und rationaler Wahlentscheidungen der Menschen in unterschiedlich abzuwägenden Situationen.

Kontext

Rationale Theorien reichen geschichtlich in die Entstehungsphase der Kriminologie zurück. Die sogenannte Klassische Kriminologie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird in den meisten modernen kriminologischen Lehrbüchern als der Beginn kriminologischen Denkens bezeichnet. Der klassische Ansatz ist in Ablehnung von im Mittelalter vorherrschenden spiritistischen und dämonologischen Erklärungsmustern, jedoch in Anlehnung an berühmte Staats- und Rechtsphilosophen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts wie Hobbes, Locke, Rousseau und anderen, ein Produkt der Aufklärung. Der Mensch erscheint hier als vernunftbegabtes und eigenverantwortliches Wesen, welches Anspruch auf ein gerechtes und angemessenes Justiz- und Strafsystem hat.

Die Vertreter der klassischen Schule variieren in der Literatur sehr stark je nach Rezipient, da in dieser geschichtlichen Epoche die Abgrenzungen zwischen Strafrechtler, -dogmatiker, Rechtsphilosoph und Kriminologe noch sehr schwierig ist. Einheitlich lässt sich jedoch Cesare Beccaria als zentrale Figur der klassischen Schule bezeichnen; des Weiteren sind Howard, Bentham, Romilly, Feuerbach, Peer, Pufendorf und andere zu nennen.

Seit dem Aufkommen der positivistischen Kriminalanthropologie und -biologie sind die klassischen Ideen und Ansätze immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden.

Jedoch findet die Vorstellung des freien, rationalen und autonomen Menschen ihre zeitgemäße Entsprechung in der ursprünglich ökonomischen Theorie der rationalen Wahlhandlung („Rational Choice Theory“), welche längst auch Einzug in die Soziologie und Kriminologie gefunden hat. Vertreter der sogenannten Abschreckungstheorien benutzen indes genau jene Axiome der rationalen Theorien – der Kriminelle handle aus freiem und rational die Kosten und Nutzen abwägendem Willen – für ihre kriminalpolitisch angelegten Ansätze, und ebenfalls situations- und tatorientiert kommt der so genannte „Routine Activity Approach“ daher.

So lässt sich zusammenfassend sagen, dass der tatorientierten und rational-situationsbezogenen Kriminologie große Bedeutung in der Geschichte der Kriminologie zugeschrieben werden kann, aber auch heute noch häufig Erwähnung findet, obwohl seit vielen Jahren die positivistische Suche nach den Ursachen von Kriminalität die Kriminalwissenschaften beherrscht. Zudem gibt es Autoren, die Beccaria als einen Vorläufer des Labeling Approach bezeichnen, da sowohl in der klassischen als auch in der kritischen Kriminologie die rein ätiologische Sichtweise abgelehnt und betont auf die Gleichheit aller Menschen hingewiesen wird.

Abschließend sei noch eine andere Gruppe neoklassischer Theorien angedeutet: In der Literatur werden Begriffe wie „Neoklassik“ oder „Neoklassizismus“ zumeist als Oberbegriffe für die oben erwähnten, rationalen Theorien (Rational Choice, Deterrence, Routine Activity) verwendet. Ab und an wird jedoch auch von einer davon unabhängigen neoklassischen Schule des neunzehnten Jahrhunderts gesprochen, welche ausgehend von der Annahme eines freien Willens des Menschen damit begann, zusätzliche (z.B. äußere) Faktoren, die die individuelle Entscheidung beeinflussen können, ebenfalls zu berücksichtigen. Das aktuell geltende Strafrecht kann durchaus als Ergebnis dieser neoklassischen Theorien gesehen werden: Verurteilt werden grundsätzlich freie und rational denkende Menschen, die mitunter jedoch von inneren und äußeren Einwirkungen einen Teil ihrer Autonomie verlieren können.

Kategorie: Kriminalitätstheorien Tags: Rational Choice

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