Die klassische Kriminalitätstheorie sieht kriminelles Handeln als das Ergebnis willensfreier und rationaler Entscheidungen der handelnden Individuen.
Hauptvertreter
Cesare Beccaria, John Howard, Jeremy Bentham, Samuel Romilly, John Anselm von Feuerbach, Sir Robert Peel, Samuel Pufendorf u.a.
Theorie
Die klassische Kriminalitätstheorie, insbesondere nach Beccaria, geht von einem willensfreien und dadurch vollständig eigenverantwortlichen Menschen aus, dem auch rational abwägende Fähigkeiten zugesprochen werden. Kriminalität ist demnach das Ergebnis willensfreier und rationaler Entscheidungen der handelnden Individuen.
Zwar werden in der Klassik auch die gesellschaftlichen Bedingungen als Ursachen von Verbrechen genannt, jedoch interessieren sich Beccaria und Co. vor allem für die Tat und weniger für den Täter. Dies liegt in der Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen begründet, sowie in der Tatsache, dass ein jeder gesellschaftlichen (oder zu Beginn der Klassik auch übernatürlichen) Umständen gleichermaßen begegnen kann, was zur Folge hat, dass nur die Tat selbst den Kriminellen vom Nicht-Kriminellen unterscheidet.
Kriminalpolitische Implikationen
Die zentrale Forderung der klassischen Schule ist die Verhältnismäßigkeit der Sanktionen zu ihren vorangegangenen Verbrechen. Das Strafmaß müsse, so Beccaria, anhand des angerichteten Schadens festgelegt werden. Justizwillkür sowie zu harte und unangemessene Strafen seien abzulehnen. Es gelte, klare, gesetzliche und für jedermann gleiche Regelungen bezüglich Strafe und Strafmaß einzuführen, welche nicht an der Person des Verbrechers, sondern nur an der Tat selbst zu orientieren sind. Demnach müsse es für die gleichen Verbrechen auch konsequent die gleichen Strafen geben, welche wiederum streng an die niedergeschriebenen, genauen Definitionen von den verschiedenen Verbrechen und ihren entsprechenden Strafregelungen gebunden sein müssen.
Der Aufruf zu Strafangemessenheit und weniger Grausamkeit kam nicht nur von Beccaria. Romilly stellte sich gegen willkürliche Verhängungen harter und unverhältnismäßiger Strafen, Peel forderte die dazu notwendige Säkularisierung und Rationalisierung des Strafrechts, Feuerbach machte sich für die Abschaffung der Folter stark, Pufendorf führte den Begriff der Würde des Menschen in das Strafrecht ein, und Howard erwirkte Gefängnisreformen, die die Gesundheit und Hygiene der Gefangenen berücksichtigten.
Fast alle Klassiker forderten zudem die mehr oder weniger weitgehende Abschaffung der Todesstrafe. Jedoch bezogen sich Beccaria und Co. dabei vor allem auf die oftmalige Unverhältnismäßigkeit dieser Sanktion zu ihrer Tat. Viele Menschen wurden damals für weniger schwere Straftaten exekutiert oder gar zu Unrecht getötet. Diesen Missstand wollte Beccaria bekämpfen.
Eine prinzipiell ablehnende Haltung gegenüber der Todesstrafe – so wie sie heute in vielen, vor allem europäischen Ländern vorherrscht – kann mit den Klassikern jedoch nicht in Verbindung gebracht werden, auch wenn sie in der Vergangenheit häufig so ausgelegt wurden. Denn immerhin wurden von Romilly, Feuerbach und auch Beccaria Delikte genannt, die nach wie vor für eine Todesstrafe in Frage kämen.
Dieses Phänomen lässt sich mit der kriminalpolitisch damals hervortretenden Forderung nach präventiver Wirkung des Strafrechts begründen. Nach Beccaria darf Strafe nur dann, und auch nur dann eingesetzt werden, wenn sie präventiv ist. Da der Mensch als willensfreies und verantwortliches Wesen gesehen wird, ist die Abschreckung (deterrence) die einzig denkbare Kriminalprävention.
Daraus folgt zunächst, dass Geheimprozesse abgeschafft und die Gerichtsverfahren beschleunigt werden müssen, um vor der scheinbar hohen Verbrechensaufklärung und effektiven Strafaussetzung der Justiz abzuschrecken. Zudem folgt hieraus jedoch auch, dass gewisse, besonders schwere Straftaten weiterhin mit der Todesstrafe belegt sein müssen, um auch hier die Forderungen nach Verhältnismäßigkeit und Prävention zu wahren.
Jedoch betont Beccaria, dass ein überwiegender Großteil der kriminellen Delikte mit Gefängnisstrafen belegt sein sollten, da eine zu häufige Anwendung der Todesstrafe zu Verrohung der Gesellschaft führe und daher keine abschreckende Wirkung mehr entfalte.
Die Abschreckungsthese einerseits und die dieser zugrunde liegende Annahme der Rationalität und Verantwortlichkeit des Menschen andererseits zeigen sich auch in Benthams Idee des Panoptikums, einem Gefängnis, in dem die Insassen aufgrund der Bauweise des Gebäudes zu jedem Zeitpunkt unter visueller Bewachung der Aufseher stehen beziehungsweise davon ausgehen müssen, dass dem der Fall ist. Bentham geht ganz nach Tradition der Klassischen Kriminologie davon aus, dass diese Form des ständigen Überwachens zu einer konformen Lebensweise der Inhaftierten innerhalb der Mauern führen müsse, da es als äußerst irrational anzusehen wäre, sich in bewusster Anwesenheit eines Wärters kriminell zu verhalten. Noch mehr als Beccaria ist Bentham hier als impliziter Vorläufer des ‚Rational Choice’ zu sehen.
Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug
Problematisch ist sicherlich, dass die Frage nach dem Phänomen „Kriminalität“ in der klassischen Periode wohl eher noch ein Beiprodukt des politischen und literarischen Umgangs mit Strafe und Gerechtigkeit darstellte. Eine eigens erstellte Theorie, wie hier betitelt, gab es so nicht. Die Klassische Kriminalitätstheorie ist vielmehr eine durch Rezipienten im Nachhinein dargestellte und interpretierte Zusammenfassung der zumeist politischen Ideen eines Beccaria und seiner Zeitgenossen. So gibt es nicht wenige, die nicht die klassische, sondern die positivistische Kriminologie als eigentlichen Beginn der heutigen Kriminologie datieren, da dort der Gegenstand „Kriminalität“ klar umrissen ist.
Jedoch lässt sich die Bedeutung von Beccaria und der klassischen Schule (neben ihren kriminalpolitischen Einflüssen) vor allem durch ihre diversen aktuellen Rezeptionen (Rational Choice, Deterrence, Routine Activity) begründen. Die Klassische ist somit nicht nur die älteste Schule, sondern wohl auch die beständigste, deren Aktualität sich in den neoklassischen Untersuchungen immer wieder bestätigt.
Inhaltlich schwächelt die Klassische Theorie an der Unvereinbarkeit der Annahmen, die Menschen seien zwar frei und selbstverantwortlich für ihr Tun, unterlägen aber gleichzeitig (übernatürlichen, später gesellschaftlichen) Ursachen, die ihr abweichendes Verhalten hervorrufen. Dieser Widerspruch ist jedoch erneut darauf zurückzuführen, dass Beccaria und Co. keine Darstellung einer in sich stimmigen Kriminalitätstheorie verfolgten, sondern ihre politischen und strafrechtlichen Forderungen theoretisch zu begründen versuchten. Dafür war zum Einen die Erwähnung der Gesellschaft als Herd krimineller Aktivitäten notwendig, um ein gewisses Verständnis für den Täter und dadurch eine Abkehr von zu harten Strafen zu erreichen (damit in Verbindung stand auch die Kritik an den Richtern und den justiziellen Verfahren). Zum anderen war aber eben auch die Betonung der Gleichheit und Freiheit aller Menschen von Bedeutung, um den damals vorherrschenden utilitaristischen und aufklärerischen Gedanken zu unterstreichen und im Strafrecht zu etablieren.
Eine theoriebezogene Kritik kann daher besser anhand der Abschreckungs- und rationalen Wahlhandlungstheorien durchgeführt werden.
Literatur
- Cesare Beccaria (1764): Dei delitti e delle pene [Volltext im italienischen Original auf WikiSource]
- Cesare Beccaria (1798): Des Marchese Beccaria’s Abhandlung über Verbrechen und Strafen. Leipzig : Beygang
- Cesare Beccaria (1819): On Crime and Punishment [Volltext in englischsprachiger Übersetzung]
- Cesare Beccaria (1766): Über Verbrechen und Strafen. Hrsg. von Wilhelm Alff. Frankfurt am Main, 1988
- Jeremy Bentham (1787): Panopticon or the Inspection-house. In: The Panopticon Writings. Hrsg. von Miran Bozovic. London/New York, 1995. [Volltext]