Die in der Kriminologie angewandte Version der Rational Choice Theory versteht Kriminalität als Folge individuellen rationalen Abwägens zwischen dem erwarteten Nutzen und den erwarteten Kosten der kriminellen Handlung.
Hauptvertreter
Gary S. Becker, Derek Cornish, Ronald Clarke, u.a.
Theorie
Die These des ‚Rational Choice’ ist eine ökonomisch geprägte, allgemeine Handlungstheorie. Generell besagt dieser sowohl wirtschaftswissenschaftliche als auch sozialwissenschaftliche Ansatz, dass jegliches Handeln durch Ziele, Wünsche und Bedürfnisse sowie durch den menschlichen Versuch, diese Ziele in höchstmöglichem Ausmaß zu realisieren, bedingt ist. Eine Handlung wird demnach umso wahrscheinlicher begangen, je größer der persönliche Nutzen ist und je geringer die persönlichen Kosten dieser Handlung sind.
Da es sich bei der Rational Choice Theory um eine allgemeine Handlungstheorie handelt, beschränken sich Nutzen und Kosten nicht nur auf finanzielle oder sonstige wirtschaftliche Faktoren, sondern können auch psychische oder soziale Nutzen und Kosten implizieren. Die eigenen Vor- und Nachteile einer Handlung werden kalkuliert und sich dementsprechend für oder gegen die Handlung entschieden.
In der Kriminologie wurde dieses allgemein handlungstheoretische, aber auch bereits in der klassischen Schule angedeutete Modell des ‚Rational Choice’ genutzt, um auch das Phänomen von Kriminalität beziehungsweise Abweichung zu erklären. Demnach erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer delinquenten Handlung, wenn der Nutzen einer solchen Tat schwerer wiegt als die Kosten – beispielsweise wenn die Beute größer eingeschätzt wird als die Gefahr, gefasst zu werden.
Nach Cornish und Clarke ist zudem zwischen genereller und situativer Entscheidung zu kriminellem Verhalten zu differenzieren. Menschen können somit aufgrund einer hohen persönlichen Nutzenerwartung prinzipiell bereit sein, Verbrechen zu begehen, unterliegen jedoch vor der konkreten Handlung noch situativen Faktoren (Polizeigegenwart, Größe der Beute, Ort des möglichen Verbrechens), unter denen sie sich für den eigentlichen kriminellen Akt nochmals aktiv entscheiden müssen.
Kriminalpolitische Implikationen
Da die Theorie der rationalen Wahlhandlung auf der Annahme individueller Nutzenmaximierung beruht, ergibt sich kriminalpolitisch die Aufgabe, konformes Verhalten so zu belohnen und gleichzeitig kriminelles Verhalten so zu bestrafen, dass ersteres für den Einzelnen rationaler wird. Die Gesellschaft, der Staat und ihr Strafrecht müssen also so konzipiert werden, dass es nutzenmaximierender, also rationaler für den Einzelnen ist, konformes Handeln dem kriminellen Handeln vorzuziehen.
Konkret bedeutet dies erstens, dass Anreize zu legalem Verhalten geschafft werden müssen. Zweitens müssen Zugänge zu kriminellem Handeln gesperrt werden, um quasi die Entscheidungssituation von vornherein auf konforme Alternativen zu beschränken. Drittens fordert die Rational Choice Theory ein abschreckendes Strafrecht.
Sie ist somit eng mit den Abschreckungstheorie sowie – aufgrund der engen Verwandtschaft mit dem Routine Activity Approach – mit dem Konzept der Situational Crime Prevention verbunden.
Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug:
Bei einem Theoriegebilde, welches die Rationalität der Menschen zum Gegenstand hat, fällt sicherlich als Erstes die mangelnde Erklärungskraft für emotionale, affektive und triebgesteuerte Handlungen ins Auge. Der klassische „Totschlag“ ist mit ‚rational choice’ wohl kaum zu begründen.
Sinnvoll erscheint die Theorie der rationalen Wahlhandlung jedoch vor allem im Bereich der Wirtschaftskriminalität, da sie die in Chefetagen und Managerkreisen durchgeführten Kosten-Nutzen-Kalkulationen zugunsten devianter Handlungen als den Ursprung krimineller Machenschaften darzustellen vermag.
Jedoch schafft es die rational choice theory in ihrer Grundkonzeption nicht, Kriminalität jenseits wirtschaftlicher Motive zu erklären, denn offensichtlich gibt es weit mehr als Geld, für das es sich (delinquent) zu handeln lohnt.
Der daraus folgende Versuch, den Nutzenbegriff um nicht-finanzielle, soziale und psychologische Aspekte zu erweitern, erscheint auf den ersten Blick zwar sinnvoll, endet schlussendlich jedoch in einer theoretischen Konzeption ohne jedweden Erklärungsgehalt. Geht man nämlich davon aus, dass für den einen Dinge nützlich sind, die für den anderen vielleicht unnütz oder sogar kostspielig sind, drängt sich bei der Suche nach Handlungsursachen die alles entscheidende Frage auf, was denn eigentlich für wen Kosten und Nutzen ist. Viel wichtiger erscheint es nun plötzlich, die situativen, persönlichen und Sozialisationsbedingungen zu untersuchen, welche für diese uneinheitlichen Definitionen von Kosten und Nutzen verantwortlich sind.
Eine rationale Kosten-Nutzen-Kalkulation bleibt inhaltlich leer, solange nicht klar ist, was denn überhaupt kalkuliert wird beziehungsweise solange man annimmt, jedes Individuum kalkuliere gänzlich verschiedene Nutzen- und Kostenfaktoren. Zu ergänzen ist hier zudem die Tatsache, dass die rational choice theory keinen Versuch unternimmt, Sozialnormen in ihren Ansatz zu integrieren. Diese können aber durchaus auch für die weit reichenden Unterschiede individueller Kosten- und Nutzenkalküle verantwortlich sein. Kurz: Die Theorie der rationalen Wahlhandlung liefert in ihrer erweiterten Fassung keine Erklärung von Kriminalität, sondern beschreibt lediglich einen Mechanismus, dessen Elemente jedoch nicht fest bestimmbar sind.
Des Weiteren muss kritisiert werden, dass der Ansatz des ‚rational choice’ lediglich das Vorhandensein eines rational motivierten Täters berücksichtigt. Die Tatgelegenheit, also beispielsweise die notwendige Anwesenheit eines Opfers, wird bei hiesigem Ansatz nicht erwähnt. Zu verweisen ist an dieser Stelle auf den Routine Activity Approach.
Literatur
- Homans, George Caspar (1968): Elementarformen sozialen Verhaltens. Opladen. [Allgemeine Grundlagen zu Rational Choice]
- Derek B. Cornish and Ronald V. Clarke (1985): Crime as rational choice. In: The Reasoning Criminal. New York, 1986.
- Gary S. Becker (1968): Crime and punishment: An economic approach. In: Essays in the economics of crime and punishment. New York, 1974.