Kurzdefinition
Die Anomietheorie beschreibt gesellschaftliche Zustände, in denen normative Orientierungen und soziale Regeln ihre Verbindlichkeit verlieren, was zu einem Anstieg von abweichendem Verhalten und Kriminalität führen kann.
Ausführliche Erklärung
Die Anomietheorie geht auf den französischen Soziologen Émile Durkheim zurück, der den Begriff Anomie erstmals in seinem Werk Der Selbstmord (1897) verwendete. Durkheim beschrieb Anomie als einen Zustand normativer Orientierungslosigkeit, der in Zeiten sozialen Wandels oder wirtschaftlicher Krisen entstehen kann. Wenn gesellschaftliche Normen ihre Verbindlichkeit verlieren oder unklar werden, steigen die Raten abweichenden Verhaltens und sozialer Desintegration.
Eine Weiterentwicklung erfuhr die Anomietheorie durch den amerikanischen Soziologen Robert K. Merton, der in den 1930er-Jahren die Strain-Theorie formulierte. Merton argumentierte, dass Anomie dann entsteht, wenn ein Ungleichgewicht zwischen kulturell vorgegebenen Zielen (z. B. materieller Wohlstand) und den institutionell legitimierten Mitteln zu deren Erreichung besteht. Individuen, die keinen Zugang zu legalen Mitteln haben, greifen vermehrt auf illegitime Strategien (z. B. Kriminalität) zurück, um gesellschaftlich anerkannte Ziele zu erreichen.
Merton unterschied dabei fünf Anpassungsformen:
- Konformität: Akzeptanz von Zielen und Mitteln.
- Innovation: Akzeptanz der Ziele, Ablehnung der legalen Mittel (z. B. durch Kriminalität).
- Ritualismus: Aufgabe der Ziele, Festhalten an den Mitteln.
- Rückzug: Ablehnung von Zielen und Mitteln (z. B. Drogenabhängigkeit, Obdachlosigkeit).
- Rebellion: Ablehnung und Ersetzung der gesellschaftlichen Normen durch neue Ziele und Mittel.