Kurzdefinition
Kriminologie ist die interdisziplinäre Wissenschaft vom Verbrechen, seinen Ursachen, Erscheinungsformen, gesellschaftlichen Reaktionen und der sozialen Kontrolle von abweichendem Verhalten.
Ausführliche Erklärung
Kriminologie leitet sich aus dem Lateinischen crimen (Verbrechen) und dem Griechischen logos (Lehre) ab. Sie erforscht nicht nur strafrechtlich relevantes Verhalten, sondern alle Formen von abweichendem Verhalten, die sozial oder rechtlich als problematisch wahrgenommen werden. Dabei geht es sowohl um die Entstehung von Kriminalität, deren Verbreitung und Entwicklung als auch um gesellschaftliche Reaktionen wie Bestrafung, soziale Kontrolle oder Prävention. Die Kriminologie ist eine empirisch und theoretisch fundierte Wissenschaft mit Schnittstellen zu Soziologie, Psychologie, Rechtswissenschaft, Medizin und weiteren Disziplinen.
Zentrale Themen sind u.a. die Definition von Verbrechen, Kriminalitätstheorien, Viktimologie, Strafzwecke, Sanktionen, Kriminalitätsmessung sowie Prozesse der Kriminalisierung und Entkriminalisierung. Die disziplinäre Ausrichtung reicht von klassischen Schulen (z. B. Beccaria, Bentham) über die positive Schule (z. B. Lombroso) bis hin zu modernen sozialkonstruktivistischen und kritischen Ansätzen.
Theoriebezug
Kanonische Theoriestränge der Kriminologie:
- Klassische Schule: Cesare Beccaria, Jeremy Bentham – utilitaristische Straftheorie, Abschreckung
- Positive Schule: Cesare Lombroso, Raffaele Garofalo – biologische und deterministische Kriminalitätstheorien
- Kritische Kriminologie: gesellschaftliche Machtverhältnisse, Kriminalisierung als Herrschaftsinstrument
- Labeling Approach: Howard Becker – Etikettierung und sekundäre Devianz
- Kontrolltheorien: Travis Hirschi – soziale Bindungen als Kriminalitätsprävention
- Anomietheorien: Émile Durkheim, Robert K. Merton – strukturelle Spannungen und Regelbrüche
- Subkulturtheorien: Albert Cohen, Cloward & Ohlin – Gruppennormen und Statusabweichung
- Feministische Kriminologie: Gender, Macht und Unsichtbarmachung weiblicher Perspektiven
Interdisziplinäre Einflüsse
- Soziologie: soziale Normen, Rollen, Ungleichheit, soziale Kontrolle (Durkheim, Bourdieu, Parsons)
- Psychologie: Lerntheorien (z. B. Sutherland), Persönlichkeitsmodelle, Trauma, Impulskontrolle
- Rechtsphilosophie: utilitaristische vs. retributive Strafzwecke, Gerechtigkeit, Schuldbegriff
- Ethnologie und Kulturtheorie: Kulturkonflikttheorie (Sellin), kriminologische Anthropologie
Moderne Theorieansätze
- Situational Action Theory: Per-Olof Wikström – Interaktion von Moral, Umfeld und Entscheidung
- Environmental Criminology: CPTED, Broken Windows, Crime Mapping
- Systemtheoretische Kriminologie: abweichendes Verhalten als kommunikativer Code (Luhmann-nah)
- Lebensverlaufsperspektiven: Laub & Sampson, Farrington – kriminelle Karrieren und Turning Points