Dieser Beitrag stellt den Auftakt einer geplanten Artikelserie dar, die das Forschungsprojekt „Rap und Polizei. Die Darstellung der Polizei in deutschsprachiger Rapmusik (2015-2022)“ begleiten soll.
Mit den Beiträgen verfolge ich zwei Ziele: zum einen möchte ich meine Forschungsergebnisse dokumentieren und sie auf diesem Wege einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Zum anderen erhoffe ich mir, Studierenden eine praxisnahe Anleitung an die Hand geben zu können und zu eigenen empirischen Forschungsarbeiten zu ermutigen.
Im ersten Teil der Serie geht es um die Forschungsplanung und die Festlegung des Forschungsdesigns.
Die Themenfindung
Am Anfang eines Forschungsprojektes steht die Wahl des Themenbereiches. In der Praxis wird dieser oft durch den Mittelgeber (also z.B. das BMBF oder die DFG oder auch eine private Stiftung) vorgegeben. Wenn man, wie in meinem Fall, nicht auf einen Geldgeber angewiesen ist, spricht nichts dagegen, wenn man sich hierbei von seinen persönlichen Interessen leiten lässt. Immerhin wird ein Forschungsprojekt sehr viel Zeit beanspruchen und einiges an Motivation abverlangen. In meinem Fall fiel die Wahl des Themenbereiches leicht. Ich möchte ein altes Forschungsprojekt erneut angehen. Als Musikfan und jahrelanger Hörer von u.a. Hip Hop/ Rap lag es nahe, mich näher mit aktuellen deutschsprachiger Rapmusik zu beschäftigen – eine Musikrichtung, die ich ansonsten privat heute allerdings nur noch selten höre bzw. eher die Platten, die ich mir vor 15, 20 Jahren gekauft habe.
Dieses Interesse an Musik möchte ich verbinden mit meinem Interesse für soziologische aber vor allem kriminologische Fragestellungen, die mich als Professor für eben diese Fächer an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW beschäftigen.
Schließlich kann ich mit dem geplanten Forschungsprojekt auch noch an meine Dissertation [Kriminologie und Musik: Haft und Gefängnis in der englischsprachigen Populärmusik (1954 – 2013)] anknüpfen, die sich ebenfalls mit den Schnittstellen zwischen Kriminologie und Musik beschäftigt.
Relevanz des Themas
Die Relevanz eines Forschungsthemas stellt ein Gütekriterium für wissenschaftliche Arbeiten dar. Der Vorteil einer von persönlichen Interessen geleiteten Forschungsarbeit findet dort sein Ende, wo eine Fragestellung und ein Forschungsergebnis nicht länger von allgemeiner Bedeutung ist. Popkultur (im Sinne von populärer Kultur) als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung fristet eher ein Nischendasein, als Gegenstand von Polizeiforschung ist sie geradezu exotisch. Dieser möglichen Kritik würde ich entgegenhalten wollen, dass das Alltägliche viel relevanter für das Verständnis von Gesellschaft ist, als das Spezielle. Die Art wie wir essen, wohnen, arbeiten, lieben, unsere Freizeit verbringen usw. sagt mehr über das Soziale aus, eine Analyse sehr spezifischer Situationen und Verhaltensweise je offenbaren könnte (man denke beispielsweise an Essen und daran geknüpfte soziale Tatbestände wie Klassen- und Schichtunterschiede/ Distinktionen; Mahlzeiten als soziales Handeln; Ausgestaltung von Küchen/ Kochen als Ausdruck von Geschlechterverhältnissen und Verhältnis von Arbeit/ Freizeit usw.).
Bezogen auf Rap als Bestandteil einer umfassenderen Hip-Hop-Kultur kann man in diesem Kontext feststellen, dass Musik in der Sozialisation junger Menschen eine wichtige Rolle spielt. Laut JIM-Studie, die regelmäßig das Mediennutzungsverhalten von Jugendlichen erfragt, geben für das Jahr 2021 92% der befragten Zwölf- bis 19-Jährigen an, täglich oder mehrmals die Woche Musik zu hören; 95% nutzen täglich oder mehrmals die Woche das Internet, wobei zu vermuten ist, dass auch hier der Konsum von Musik(-videos) eine Rolle spielt (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2021, S. 14). Musikhören spielt damit eine bedeutend wichtigere Rolle im Leben der Teenager als Fernsehen (80%), Radiohören (58%) oder das Lesen von Tageszeitungen (13% gedruckte Zeitungen, 12% Online-Zeitungen) (vgl. ebd.).
Hip-Hop ist seit den 1990er Jahren ungebrochen die größte und umsatzstärkste Jugendkultur (Farin, 2010). Die Stars der Szene erreichen durch ihre Musik, Musikvideos und Nachrichten auf den Social-Media-Kanälen regelmäßig ein Millionenpublikum und schaffen dadurch eine gesellschaftliche Arena, die als „Ort der symbolischen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen“ aber auch als „kultureller Pool von Identifikationsangeboten“ fungiert. Die Analyse von Rapliedern gibt also nicht nur Aufschluss über eine Jugendkultur, sondern lässt auch „Rückschlüsse über allgemeine zeitgenössische Kultur“ zu (Dietrich & Seeliger, 2012, S.23).
Findung der Fragestellung
In der Forschungsplanung ist die Festlegung der Fragestellung eine folgenreiche Entscheidung. Sie bestimmt die Wahl der Methode und natürlich auch den späteren Ausgang/ das Ergebnis des Projekts (bzw. begrenzt die Forschung auch dahingehend, welche Aussagen später NICHT getroffen werden können).
Die Festlegung der Fragestellung erfolgt nach einer gründlichen Literaturrecherche. Dieser Arbeitsschritt ist in der Praxis zumeist ein Prozess, der sich über einen längeren Zeitraum hinzieht und durch einen steten Wechsel aus Literaturrecherche und Anpassung, (Neu- bzw. Um-) Formulierung der forschungsleitenden Fragen gekennzeichnet ist. Damit man nach Möglichkeit alle relevanten Veröffentlichungen berücksichtigen kann, empfiehlt sich eine sogenannte systematische Literaturrecherche. Wie man eine solche Recherche am besten durchführen kann, habe ich an anderer Stelle bereits einmal erläutert. Eine solche Recherche kann sich als äußerst zeitaufwändig herausstellen. Ich habe hier das Glück, bereits in dem Forschungsbereich Musik und Kriminologie gearbeitet zu haben und daher relevante Arbeiten bereits zu kennen. Im Gegensatz zur Polizei, wo eine große Verwendungsbreite der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angestrebt wird (jede Polizistin/ jeder Polizist sollte sich nach Möglichkeit in möglichst vielen Fachgebieten auskennen), ist dies in den Wissenschaften eher unüblich. Die meisten Wissenschaftler werden im Laufe ihres Lebens Expertinnen und Experten auf (nur) einem Gebiet. Es ist da daher vollkommen legitim, wenn man als Wissenschaftler ein Themengebiet wiederholt erforscht und sich die aufwändige Einarbeitung sparen kann.
Bei meiner Literaturrecherche bin ich auf zwei Themenstränge gestoßen, die ich gerne miteinander kombinieren möchte. Das ist zum einen deutschsprachige Rapmusik und hier insbesondere Erfahrungen von Ausgrenzung und Deprivation, sowie deviante Lebensentwürfe, wie sie teilweise in der Musik zum Ausdruck kommen (hier natürlich insbesondere im Gangsta-Rap). Zum anderen gibt es einen umfangreichen Fundus an Literatur zum Thema Vertrauen und Respekt, die der Polizei entgegengebracht werden. Hier spielt insbesondere das Thema Gewalt ausgehend von als auch gegenüber Polizeibeamten eine Rolle.
Diese Überlegungen führen zur Festlegung der übergeordneten forschungsleitenden Frage:
Wie wird die Polizei in deutschsprachiger Rapmusik dargestellt?
Die Frage ist also zunächst, ob und in welchem Umfang die Polizei in Liedtexten thematisiert wird. Daran anknüpfend ist zu untersuchen, ob eine Thematisierung der Polizei positiv, neutral oder negativ konnotiert ist und schließlich, welche Schlussfolgerungen die Beantwortungen der ersten Teilfragen für das Verhältnis von Polizei und Rappern aber möglicherweise auch Fans der Musik zulassen.
Festlegung des Untersuchungssamples und der -methode
Nachdem die Fragestellung festgelegt wurde, wird im nächsten Schritt der Forschungsplanung das zu untersuchende Material und die Forschungsmethode bestimmt. Grundsätzlich gibt es nicht die richtige Methode und als Forschender ist man hier in seiner Wahl frei. Allerdings bestimmen in der Praxis zumeist der Zugang zum Forschungsfeld sowie die zur Verfügung stehende Zeit und monetäre Mittel über die Art des Forschungsdesigns. Dies lässt sich gut an meinem Projekt nachvollziehen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich hier einige theoretisch mögliche Forschungszugänge erörtern.
1. Befragung von Hörerinnen und Hörern
Ein naheliegender Zugang wäre die Erforschung, inwieweit Einstellungen und Werturteile, die in Liedtexten transportiert werden, von Hörerinnen und Hörern übernommen werden. So ließe sich beispielsweise fragen, ob regelmäßige Hörerinnen und Hörer von deutschsprachigem Gangsta-Rap der Polizei gegenüber kritischer eingestellt sind und ihr Vertrauen in die Polizei geringer ist, als dies bei einer Vergleichsgruppe der Fall ist, die einen anderen Musikgeschmack hat.
Auch wenn diese Fragen naheliegend erscheinen, so würde sich die Umsetzung in ein Forschungsdesign aus mehreren Gründen als sehr schwierig und problematisch erweisen.
Zum einen würden wir uns hier im Bereich der Einstellungsforschung bewegen. Einstellungen lassen sich nicht unmittelbar messen und quantifizieren (anders als z.B. Einkommen oder das Wahlverhalten). Es ist naheliegend anzunehmen, dass nicht alle Rap-Fans ausgeprägte anarchische Ansichten haben und die sofortige Abschaffung des Staates und des polizeilichen Gewaltmonopols fordern. Eine Befragung müsste also unterschiedlich abgestufte Einstellungen gegenüber der Polizei berücksichtigen. Eine solche Befragung ist möglich, jedoch methodisch sehr komplex.
Angenommen, es gelänge einen Fragebogen zu erstellen, der Vertrauen in die Polizei differenziert abbilden kann, stehen wir jedoch vor einem noch größeren Problem. Wir müssten den spezifischen Einfluss der Rapmusik auf die Einstellungen bestimmen können. Nehmen wir an, dass 30 Prozent der regelmäßigen Hörerinnen und Hörer von Rapmusik angeben, kein oder nur wenig Vertrauen in die Polizei zu haben; in einer Vergleichsgruppe von Popmusik-Fans beträgt dieser Wert 10 Prozent.
Was sagt dieses Ergebnis aus?
Zunächst nur, dass ein statistischer Zusammenhang (Korrelation) zwischen Musikgeschmack und Polizeivertrauen zu bestehen scheint. Was jedoch ursächlich für Einstellungen gegenüber der Polizei ist, haben wir nicht gemessen (Kausalität). Zum einen stehen wir hier vor einem „Henne-Ei-Problem“ und könnten nicht sicher bestimmen, ob eine vorhandene polizeikritische Einstellung den Musikgeschmack beeinflusst hat oder aber die Musikpräferenz die Einstellung beeinflusst. Zum anderen betrachten wir NUR die Variable der musikalischen Präferenz. Andere mögliche Einflussfaktoren wie z.B. zurückliegende Polizeikontakte, Einstellungen von Verwandten, Freunden, politische Präferenzen usw. haben wir nicht berücksichtigt. Unsere Befragung würde viel zu umfangreich und komplex. Und selbst dann, wäre das bestmögliche denkbare Ergebnis eine Bestimmung, zu wie viel Prozent der Musikgeschmack (neben unzähligen anderen Einflussfaktoren) Einstellungen gegenüber der Polizei beeinflusst. Das ist meiner Meinung nach sehr wenig Ergebnis für sehr viel und aufwändige Forschung.
Die benannten Probleme sind allgegenwärtig in der sog. Medienwirkungsforschung. So weiß man beispielsweise, dass viele Amokläufer Fans von Ego-Shooter-Videospielen waren. Aber natürlich ist nicht jeder Gamer gewalttätig und es gibt unzählig viele weitere mögliche Einflussfaktoren, die einen Menschen bewegen können, einen Amoklauf zu begehen.
Schließlich gibt es neben diesen Problemen der Messung von Einstellungen auch noch ein forschungspraktisches Problem, dass den Feldzugang betrifft. Mit unserem komplexen Fragebogen könnten wir einzelne Rapmusik-Hörerinnen und -Hörer befragen. Natürlich wissen wir dann aber nicht, ob die erzielten Ergebnisse verallgemeinerbar sind sich auf andere Rap-Fans übertragen lassen. Mit einem Fragebogen ließen sich aber theoretisch in kurzer Zeit viele Personen befragen. Unsere Forschung wäre dann unter Umständen sogar repräsentativ. Dies führt jedoch zu dem forschungspraktischen Problem, wie ich potentielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer erreichen kann. Soll die Befragung face-to-face, postalisch, telefonisch oder online stattfinden. Erreiche ich Teilnehmer in der Einkaufsstraße vor dem Snipes-Store, vor dem Graffiti-Laden oder vor Konzertbeginn von Rap-Konzerten? Sind meine potentiellen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer bereit einen Fragebogen zu Hause auszufüllen und stehen ausreichend finanzielle Mittel für das Briefporto zur Verfügung? Erreiche ich sie telefonisch über einen Festnetzanschluss? Wird ein Aufruf zum Ausfüllen eines Online-Fragebogens am besten über Facebook, über Instagram oder Tik-Tok gestreut oder besser in einem Fan-Forum? Wie kann ich überhaupt Hip-Hop-Fans identifizieren und von Fans anderer Musikgenres abgrenzen? Ist jemand der sich als Rap-Fan bezeichnet, weil er oder sie schon einmal Fettes Brot und Fanta 4 gehört hat, Rap-Hörer im Sinne meiner Forschungsfrage. Wird ein Lied, das ein Feature von einem Rapper hat, automatisch zum Rap-Lied und die Hörerinnen und Hörer damit zum Rap-Hörer im Sinne meines Forschungsdesigns? Wie gehe ich mit den Antworten einer befragten Person um, die angibt, sowohl Gangsta-Rap, als auch Pop-Musik zu hören?
Zwischenfazit
Die Frage nach dem Einfluss von Musik auf Einstellungen der Rezipienten ist naheliegend. Die forschungspraktische Umsetzung ist jedoch äußerst komplex. Dies betrifft sowohl das Messinstrument als auch den Feldzugang. Ein Vorteil eines solchen Forschungsdesigns liegt sicher in der Möglichkeit eine repräsentative Befragung durchführen zu können. Jedoch ist der zu erwartende Erkenntnisgewinn im Verhältnis zum betriebenen Aufwand sehr gering. Schlussendlich wäre hier auch noch eine forschungsethische Dimension zu berücksichtigen. Nehmen wir an, wir könnten einen starken Einfluss der Musikpräferenz auf polizeikritische Einstellungen feststellen. Was wäre die Konsequenz? Müsste man eine Musik-Zensur fordern? Wäre Rapmusik grundsätzlich als jugendgefährdend einzustufen? Müssten Rap-Fans zukünftig mit einer Stigmatisierung rechnen?
2. Befragung von Künstlerinnen und Künstlern
Alternativ zur Befragung von Hörerinnen und Hörern ließe sich über eine Befragung von Künstlerinnen und Künstlern nachdenken. Hierbei ist aber ein Zugangsproblem offensichtlich. Die wenigsten Rapperinnen und Rapper hätten vermutlich Interesse an unserer Befragung teilzunehmen. Eine schriftliche Befragung, die das Kriterium der Repräsentativität erfüllen soll, würde uns zudem erneut vor das methodische Problem stellen, entscheiden zu müssen, wer Rapper im Sinne unserer Forschungsfrage ist – Ist Shirin David Rapperin? Könnten wir Bushido und Kollegah in unser Sample einschließen, auch wenn diese beiden Künstler ihre Liedtexte möglicherweise nicht alle selbst verfasst haben? Wie sieht es aus mit Künstlerinnen und Künstlern, die ihre Musik nicht über große Plattenlabels veröffentlichen, sondern bislang nur wenige Lieder auf Youtube, Mixcloud o.ä. zur Verfügung stellen?
Alternativ zu einer schriftlichen Befragung vieler Personen, ließe sich über ein Experteninterview mit einigen wenigen Rapperinnen und Rappern nachdenken. Auch wenn die Idee solcher Gespräche sicher reizvoll ist, ließen sich die getroffenen Aussagen natürlich nie verallgemeinern. In der Forschungspraxis werden jedoch explorative Interviews häufig genutzt, um ein Forschungsfeld zu erkunden. Bei der qualitativen Auswertung eines Interviews treten häufig Themen und Aspekte zutage, die dann im weiteren Forschungsverlauf in einer quantitativen Befragung einer größeren Stichprobe vertiefend thematisiert werden können.
Um das Problem eines schwierigen Feldzugangs zu umgehen, ließe sich grundsätzlich auch über eine Inhaltsanalyse von Künstler-Interviews nachdenken. Hier ließe sich das Material aus Zeitschriften, von Youtube, aus Instagram-Stories und anderen Quellen zusammentragen und hinsichtlich einer Fragestellung auswerten. In meinem konkreten Anwendungsfall erscheint mir der Themenbereich jedoch zu speziell, als dass ich diesen Ansatz verfolgen möchte. Ich habe mich daher für einen dritten methodischen Zugang entschieden, den ich im Folgenden vorstelle.
Zwischenfazit
Die Idee, Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern zu führen, ist eine reizvolle Idee, die aber aufgrund zu erwartender Zugangsschwierigkeiten verworfen werden kann. Zudem ist das Verhältnis zwischen realer Person, Kunstfigur und dem lyrischem Ich zu beachten. Weder ist davon auszugehen, dass jedes Erlebnis und jede Meinung von Künstlerinnen und Künstlern Eingang in Liedtexte findet, noch ist es realistisch anzunehmen, dass jedes in einem Liedtext geschildertes Erlebnis sich tatsächlich so zugetragen hat. Interviews böten hier einerseits eine Gelegenheit, dieses Spannungsverhältnis zu erkunden. Andererseits ist dies jedoch gerade eine Perspektive, die dem durchschnittlichen Fan und Hörer der Musik verschlossen bleibt. In Hinblick auf eine mögliche von Liedtexten ausgehende Wirkung, ist diese Perspektive daher nachrangig zu betrachten.
3. Analyse der Liedtexte
Liedtexte spielen im Rap eine herausragende Rolle – anders als dies bei so manchem Poplied oder in vielen Jazz- oder Klassikstücken der Fall ist. Die Liedtexte von Millionen von Liedern stehen in zahlreichen Liedtextdatenbanken im Internet zur Verfügung. Ich habe mich daher für mein Projekt für eine inhaltsanalytische Auswertung von Liedtexten entschieden.
Das Forschungsprogramm lässt sich unter dem Begriff der Musicriminology subsumieren und beinhaltet “the study of lyrics, and subcultural style as texts of resistance, marginalisation, redemption, criminalisation, or soundtracks of deviancy” (Lee, 2021, S. 3).
Liedtexte stellen eine besondere Textgattung dar, die – z.B. im Gegensatz zu Zeitungsartikeln – durch ihre Kürze und häufige Verwendung von Metaphern gekennzeichnet sind. Während die inhaltsanalytische Auswertung von Zeitungsartikeln, Akten, Romanen usw. eine in den Wissenschaften etablierter Forschungsmethode ist, ist die Auswertung von Liedtexten als Form einer Musicriminology (Lee, 2021) eher unüblich. Als theoretische Grundlage der Auswertung dient mir das Buch „Analyzing Popular Music: Image, Sound, Text“ (Machin, 2013), sowie meine eigenen Vorarbeiten in diesem Bereich (Wickert, 2017).
Bei der Bestimmung meiner Stichprobe habe ich mich als Einschlusskriterium für eine Platzierung eines Albums in den offiziellen deutschen Charts in der Kategorie HipHop entschieden. Dieses Auswahlkriterium garantiert eine gewisse Rezeptionsbreite. Genau genommen, werden bei der Ermittlung von Chartplatzierungen Umsätze und nicht die Reichweite gemessen. Natürlich ließen sich auch andere Einschlusskriterien finden (z.B. die „Modus Mio Playlist“ auf Spotify, Anzahl an Streams auf Spotify, Apple Music, Deezer etc., Anzahl der Aufrufe auf YouTube – wobei Klicks auf YouTube auch mittlerweile in die Charts einfließen usw.). Vorteil der Wahl der offiziellen Albencharts ist, dass hier im Archiv auf die Charts beginnend am 23. März 2015 bis heute zurückgegriffen werden kann. Entsprechend wurde der Untersuchungszeitraum von März 2013 bis März 2022 gelegt. Der lange Untersuchungszeitraum wird es mir bei der Auswertung erlauben, mögliche Änderungen über die Zeit zu betrachten. So fallen in den Untersuchungszeitraum beispielsweise der gewaltsame Tod von George Floyd oder auch die Debatte über rechtsradikale, rassistische Kräfte innerhalb der deutschen Polizei (siehe z.B. NSU 2.0; Austausch verfassungsfeindlicher Symbole in polizeiinternen Chatgruppen, Debatte über Racial Profiling usw.). Eine untergeordnete Untersuchungsfrage könnte sein, inwieweit solche gesellschaftlichen Debatten Eingang in deutschsprachige Raptexte finden.
Zunächst habe ich alle chartnotierten Alben in dem Untersuchungszeitraum identifiziert und in einem zweiten Schritt unter den insgesamt 1.147 Alben 923 deutschsprachige Alben identifiziert. In einem weiteren Arbeitsschritt habe ich dann versucht, zu diesen 923 Alben die entsprechenden Liedtexte zu sammeln.
Ein mögliches Problem bei der Sammlung und Auswertung von Liedtexten ist die Kontrolle der Datenqualität. Bei der Analyse Tausender Lieder ist es kaum möglich, alle transkribierten Liedtexte auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Ich habe mich bei der Wahl einer Datenquelle für die Datenbank von genius.com entschieden. Nach Aussage des Anbieters handelt es sich um die größte Liedtextsammlung im Internet. Zudem setzt genius.com auf eine Kontrolle der Liedtexte durch langjährige Nutzer und Administratoren, so dass von einer überwiegend guten Datenqualität ausgegangen werden kann. Stichprobenkontrollen haben diese Vermutung bestätigt. Schließlich bietet genius.com eine API-Schnittstelle, die es erlaubt, größere Mengen an Daten automatisiert herunterzuladen. Hierbei habe ich mir das Python-Script LyricGenius zunutze gemacht, das es mir ermöglicht, alle zu einem Album zugehörige Liedtexte als Textdateien auf meinem Rechner abzuspeichern. Ich verfüge nur über sehr rudimentäre Programmierkenntnisse. Glücklicherweise finden sich im Internet aber zahlreiche Anleitungen und Dokumentationen. Mir haben v.a. die Erklärungen und Beispiele auf „Introduction to Cultural Analytics & Python“ weitergeholfen. Trotz dieser Automatisierung blieb mir eine händische Kontrolle aller Liedtexte nicht erspart. Es hat sich in der Praxis leider herausgestellt, dass zum einen deutsche Umlaute Genius bzw. LyricGenius Probleme bereiten. Zum anderen wurden vereinzelt fälschlicherweise Liedtexte geladen, die eine Namensähnlichkeit aufwiesen – jedoch nicht Bestandteile der jeweiligen Alben waren. Schließlich kam es immer wieder zu Abbrüchen beim Datendownload, so dass vorhandene Liedtexte nicht geladen wurden.
Schlussendlich konnte ich von den 923 Alben im Untersuchungszeitraum zu 906 Alben Liedtexte in mein Untersuchungssample einschließen. Bei den 17 übrigen Alben handelt es sich entweder um reine Instrumentalalben oder es fehlen die Liedtexte auf Genius. Insgesamt konnte ich 13.203 Liedtexte sichern, die meine Gesamtstichprobe (N) darstellen. Den Versuch, zu ermitteln, wie viel Prozent aller theoretisch verfügbaren Liedtexte eingeschlossen werden konnten, habe ich eingestellt. Dies hängt damit zusammen, dass ein großer Anteil der Alben in unterschiedlichen Versionen vorliegt (CD-, Vinyl-, Download-, Premium-Versionen), die jeweils eine unterschiedliche Anzahl an Stücken aufweisen. Bei diesen Bonustracks handelt es sich jedoch häufig um reine Instrumentalversionen, die wiederum keine Relevanz für meine Forschungsfrage aufweisen. Grundsätzlich sind bei Genius.com alle verfügbaren Lieder gelistet – sofern vorhanden also auch die Bonustracks einer Premium-Version eines Albums. Die 13.203 erfassten Liedtexte verteilt auf 906 Alben entsprechen einer durchschnittlichen Titelzahl von 14,6 pro Album. Dies erscheint mir ein realistischer Wert. Zudem ist nicht davon auszugehen, dass eventuell fehlende Liedtexte mein Ergebnis systematisch verzerren würden (d.h. ausschließlich oder vermehrt gerade jene Liedtexte nicht erfasst sind, in denen die Polizei Erwähnung findet).
Um nun meine Forschungsfrage zu beantworten, werden ich in zwei Schritten vorgehen. Zunächst einmal ist in einem quantitativen Arbeitsteil zu überprüfen, ob und wenn ja, in welchem Umfang, die Polizei in Liedtexten thematisiert wird. Da ich die Liedtexte als Textdateien auf meiner Festplatte gesichert habe, kann ich hierzu eine Volltextsuche vornehmen. Aufgrund meiner Vorstudie mit einem kleineren Untersuchungssample (vgl. Wickert, 2018), kann ich davon ausgehen, DASS die Polizei sehr wohl in deutschsprachigen Liedern thematisiert wird. Ich habe daher als einen zweiten Arbeitsschritt geplant, eine qualitative Auswertung der Polizeibezüge vorzunehmen. Dieser Schritt ist notwendig, da die reine Feststellung, dass der Begriff Polizei in einem Liedtext auftaucht, keine Schlussfolgerungen über die Qualität der Aussage zulässt. Vielleicht wird das Wort Polizei nur verwendet, weil sich darauf so schön viele Reime finden lassen, vielleicht stellt der Liedtext eine Lobeshymne auf die Arbeit der deutschen Polizei dar, vielleicht wird aber auch Kritik an der Polizei geübt. Dieser zweite Auswertungsschritt folgt dem groben Ablauf einer qualitativen Inhaltsanalyse, die ich an dieser Stelle schon einmal vorgestellt habe. Um den Besonderheiten der speziellen Textgattung Liedtext gerecht werden zu können, orientiere ich mich, wie oben geschrieben, an der Arbeit von Machin (2013).
Die Kodierung ist ein zeitaufwändiger Prozess. Es wird mir daher nicht möglich sein, alle 13.203 Liedtexte zu kodieren. Dies wird aber vermutlich auch gar nicht nötig sein. In der qualitativen Sozialforschung ist es zulässig, eine zufällig ausgewählte Stichprobe aus der Gesamtstichprobe zu ziehen. In meinem Fall werde ich diese auf ca. zehn Prozent, d.h. 1.300 Liedtexte begrenzen. Auch dies stellt noch einen äußerst ambitionierten Arbeitsplan dar. Hier ist es jedoch üblich, nur so lange mit der Kodierung des Materials fortzufahren, bis sich eine „Sättigung“ eingestellt hat, d.h. sich keine neuen Kategorien finden lassen. Ich gehe davon aus, dass sich dieser Punkt bereits nach der Analyse von wenigen Hundert Liedtexten einstellen wird.
Fazit
Gegenüber alternativer methodischer Zugänge ermöglicht eine Inhaltsanalyse von Liedtexten eine zeit- und personenunabhängige Auswertung. Weder eine zu geringe Rücklaufquote noch der Ausfall eines Interviewpartners gefährden den Erfolg der Forschungsarbeit. Die Datenerhebung ist zwar ein zeitaufwändiges, aber kostengünstiges Unterfangen. Zudem ließe sich das Untersuchungssample zu einem späteren Zeitpunkt erweitern und die Analysen fortschreiben. Schließlich muss bei dem beschriebenen inhaltsanalytischen Zugang – anders als z.B. bei einer schriftlichen Befragung oder einem Experteninterview – die Analyse nicht auf die ursprüngliche Fragestellung begrenzt bleiben. Das einmal gesicherte und aufbereitete Material kann problemlos hinsichtlich anderer, ergänzender Fragestellungen untersucht werden.
Wie jede Methode hat natürlich auch die Analyse von Liedtexten Ihre Grenzen und Nachteile. Die Konzentration auf Liedtexte bedeutet, dass keine oder nur sehr begrenzte Aussagen zur Wirkung auf die Hörerinnen und Hörer möglich sind. Denn es kann nicht mit Gewissheit gesagt werden, ob z.B. ein Album überhaupt gehört wird, ob ein Hörer auf den Text achtet, wie ein Text verstanden, eine Metapher dechiffriert wird usw. Der beschriebene Forschungsansatz ist klar von einer Medienwirkungsforschung abzugrenzen. Im Mittelpunkt steht alleine das künstlerische Werk. Mit Blick auf die jeweiligen Rezipientinnen und Rezipienten können allenfalls vorsichtige Mutmaßungen angestellt werden.
Gleiches gilt für Aussagen in Bezug auf die jeweiligen Künstlerinnen und Künstler. Diese sind nicht in allen Fällen mit dem Autor und nie mit dem lyrischen Ich gleichzusetzen. Allerdings ist hier auch ein für Rapmusik im besonderen Maße geltender Authentizitätsanspruch zu beachten. Gerade im Gangsta-Rap brüsten sich Künstlerinnen und Künstler mit ihrer street credibility. Dass jedoch nicht jede Aussage über die eigene vorgeblich kriminelle Vergangenheit auf die Goldwaage zu legen ist, hat zuletzt die Recherche eines Zeit-Autorenteams zum Rapper Kolja Goldstein gezeigt. Dieser beweist in seinen Texten zwar durchaus, über Täterwissen zu verfügen, jedoch scheidet er als Täter der Verbrechen, mit denen er sich brüstet, eindeutig aus (vgl. Schwenn & Sehl, 2022). Damit ist Kolja Goldstein einer von vielen Gangsta-Rappern, die in den vergangenen Jahren eines „fake gangsterism“ (Perry 2004, S. 94) überführt wurden.
Die Ergebnisse der quantitativen Auswertungen sind Gegenstand weiterer Blogartikel.
Literaturverzeichnis
- Dietrich, M., & Seeliger, M. (Hrsg.). (2012). Deutscher Gangsta-Rap: sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen (Band 43). transcript.
- Farin, K. (2010, March 3). Rap light | bpb.de. Dossier: Jugendkulturen in Deutschland. https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/jugendkulturen-in-deutschland/36300/rap-light/
- Lee, M. (2021). This Is Not a Drill: Towards a Sonic and Sensorial Musicriminology. Crime, Media, Culture. https://doi.org/10.1177/17416590211030679
- Machin, D. (2013). Analyzing Popular Music: Image, Sound, Text (Repr. of the 2010 Ed). Sage.
- Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest. (2021). JIM 2021. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. . https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2021/JIM- Studie_2021_barrierefrei.pdf
- Perry, I. (2004). Prophets of the Hood: Politics and Poetics in Hip Hop. Durham, London: Duke University Press.
- Schwenn, P. & Sehl, M. (2022, 30. Juni). Übertrieben krass. DIE ZEIT (Nr. 27). S. 65.
- Wickert, C. (2017b). Kriminologie und Musik: Haft und Gefängnis in der englischsprachigen Populärmusik (1954-2013).
- Wickert, C. (2018). “Ich hab‘ Polizei“ – Die Darstellung der Polizei in deutschsprachigen Rapliedern.” In A. Mensching & A. Jacobsen (Hrsg.), Empirische Polizeiforschung XXI: Polizei im Spannungsfeld von Autorität, Legitimität und Kompetenz (Issue 24, S. 163– 183). Verlag für Polizeiwissenschaft, Prof. Dr. Clemens Lorei.