Der Begriff „Soziologie“ leitet sich vom lateinischen socius (Gefährte) und dem griechischen logos (Lehre, Wissenschaft) ab. Sie bezeichnet die Wissenschaft von der Gesellschaft und untersucht das soziale Verhalten von Menschen in seinen vielfältigen Formen – theoretisch wie empirisch.
Als rational-empirische Wissenschaft grenzt sich die Soziologie vom Alltagswissen ab. Sie arbeitet systematisch mit Methoden der empirischen Sozialforschung, um soziale Wirklichkeit zu analysieren, zu deuten und zu erklären.
Geprägt wurde der Begriff im 19. Jahrhundert durch den französischen Denker Auguste Comte, einen Vertreter des Positivismus. Er war überzeugt, dass sich soziale Phänomene nach dem Vorbild der Naturwissenschaften erfassen lassen. Comte sprach abwechselnd von „sozialer Physik“ und „Soziologie“ und sah in ihrer Anwendung die Möglichkeit, gesellschaftlichen Fortschritt aktiv zu gestalten.
Grundfragen der Soziologie
Eine zentrale Frage der Soziologie lautet: Unter welchen Bedingungen ist ein soziales Miteinander möglich? Wie und warum schließen sich Menschen zu sozialen Einheiten wie Familien, Peergroups, Organisationen oder Staaten zusammen? Wie beeinflussen sich Individuum und Gesellschaft wechselseitig?
Als kritische Wissenschaft untersucht die Soziologie zudem soziale Ungleichheiten, Machtverhältnisse und Prozesse sozialer Ausgrenzung – etwa bei Exklusion. Unterschiede in Alter, Geschlecht, Bildung, Herkunft oder sozialem Status sind dabei zentrale Analysefelder.
Gesellschaftliche Funktionen der Soziologie
Aus diesen Grundfragen ergeben sich verschiedene gesellschaftliche Aufgaben und Funktionen der Soziologie. Sie reichen von der kritischen Analyse gesellschaftlicher Zustände bis zur Entwicklung praktischer Handlungsempfehlungen:
- Gesellschaftsanalyse: Aufklärung über gesellschaftliche Zusammenhänge und Hintergründe.
- Informationsfunktion: Vermittlung von Orientierungswissen über soziale Wirklichkeiten.
- Krisenbewältigung: Beitrag zur Lösung sozialer Probleme (z. B. Armut, Diskriminierung).
- Administrative Unterstützung: Entscheidungsgrundlage für Politik, Verwaltung und Praxis.
- Gesellschaftsveränderung: Anregung für gerechtere und lebenswertere soziale Verhältnisse.
- Sozialtechnologie: Optimierung des Zusammenspiels gesellschaftlicher Institutionen.
- Sozialphilosophie: Reflexion über alternative Gesellschaftsentwürfe.
(nach Renate Mayntz, Hrsg.: Soziologie im Studium. Stuttgart 1970, S. 102)
Soziales Handeln und Verstehende Soziologie
Für das soziologische Verständnis ist der Begriff des sozialen Handelns zentral. Der deutsche Soziologe Max Weber definierte Soziologie als:
„[…] eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“
Max Weber (1920): Wirtschaft und Gesellschaft
Soziales Handeln ist also immer auf andere bezogen. „Sozial“ bedeutet dabei nicht unbedingt „wohlwollend“ – auch das Handeln eines Folterknechts kann in diesem Sinne sozial sein. Entscheidend ist die Sinnbeziehung zum Gegenüber.
Diese Perspektive bildet den Kern der Verstehenden Soziologie, wie sie von Weber und Georg Simmel vertreten wurde:
„Das Grundaxiom jeder Verstehenden Soziologie ist, dass die handelnden Personen einen Sinn hinter ihrem Handeln sehen, dass dieser Sinn ihr Handeln bestimmt, oder zumindest mitbestimmt, und dass dieser Sinn daher auch in eine Erklärung von sozialen Phänomenen mit einzubeziehen ist.“
(Bühl 1972: 15)
Makro, Mikro oder Meso – soziologische Bezugsgrößen
Soziologische Fragestellungen unterscheiden sich nach ihrer Bezugsgröße:
- Makrosoziologie: untersucht ganze Gesellschaften oder Teilsysteme (z. B. soziale Ungleichheit, Migration).
- Mikrosoziologie: betrachtet das Handeln einzelner Individuen oder kleiner Gruppen (z. B. Familien, Peergroups).
- Mesosoziologie: analysiert intermediäre Strukturen zwischen Mikro- und Makroebene (z. B. Organisationen, Milieus, Gemeinden).
In der Regel stehen diese Ebenen in Wechselwirkung zueinander: Individuelles Handeln beeinflusst soziale Strukturen – und umgekehrt.
Schlüsselwerke der Soziologie als Fundament des Fachs
Die Allgemeine Soziologie liefert die theoretischen und begrifflichen Grundlagen, um soziale Wirklichkeit systematisch zu analysieren und zu verstehen. Aufbauend auf diesen Grundlagen wurden im Laufe der Zeit zentrale Werke verfasst, die bis heute das Denken und Forschen in der Soziologie prägen.
Auf SozTheo finden Sie eine Übersicht über die wichtigsten Schlüsselwerke der Soziologie – von Émile Durkheim zu Max Weber bis hin zu neueren Ansätzen von Andreas Reckwitz.
Diese Werke greifen zentrale Fragestellungen auf, wie etwa:
- Wie entstehen soziale Ordnungen?
- Welche Bedeutung haben soziale Rollen, Normen und Werte?
- Wie verändern sich Gesellschaften im Laufe der Zeit?
- Welche Formen sozialer Ungleichheit und Machtverhältnisse existieren?
Eine Auseinandersetzung mit diesen Schlüsselwerken vertieft das Verständnis für die Mechanismen sozialer Wirklichkeit – und liefert wichtige Anknüpfungspunkte für die Analyse aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen.
Allgemeine vs. Spezielle Soziologie
Die Soziologie gliedert sich in eine Allgemeine Soziologie, die sich mit grundlegenden Begriffen, Theorien und Methoden beschäftigt, und zahlreiche Spezielle Soziologien (auch: Bindestrich-Soziologien), die bestimmte Lebensbereiche oder gesellschaftliche Teilphänomene fokussieren.
Soziologischer Blick auf das Alltägliche: Drei Beispiele
Beispiel 1: Techniksoziologie – Das Tandem
Ein Tandem aus dem Jahr 1904 zeigt nicht nur technische Arbeitsteilung („nur gemeinsam kommt man voran“), sondern auch Vorstellungen von Geschlechterrollen: Der Mann lenkt, sitzt vorne und bietet Schutz – die Frau sitzt hinten. Technik ist also nie neutral, sondern kulturell codiert.
Beispiel 2: Soziologie des Essens
Essen ist eine biologische Notwendigkeit, die alle Menschen miteinander verbindet – unabhängig von Alter, Herkunft oder Gesellschaftsform. Ohne Nahrungsaufnahme ist Leben nicht möglich. Doch Essen ist weit mehr als reine Nährstoffaufnahme: Es ist von Beginn an ein sozialer Akt, durch den sich zentrale Dimensionen des Sozialen ausdrücken.
Die erste soziale Handlung eines Menschen ist das Gestillt-Werden. Der Säugling schreit – die Mutter reagiert, stillt ihn. Schon hier entsteht eine sinnhaft aufeinander bezogene Interaktion, die sich als reziprokes soziales Handeln im Sinne der Verstehenden Soziologie (vgl. Weber, Mauri) interpretieren lässt. Essen ist also von Beginn an Beziehungsarbeit – eingebettet in Kommunikation, Fürsorge und wechselseitige Abhängigkeit.
Mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität wird das Essen weiter sozial codiert: Wer kocht? Wer isst mit wem? Wer sitzt wo am Tisch? Wer darf zuerst zugreifen? Diese Fragen verweisen auf soziale Hierarchien, Machtverhältnisse und kulturelle Normen. In vielen Kulturen ist die Tischordnung Ausdruck von Statusunterschieden: Das Familienoberhaupt sitzt am Kopfende, Kinder warten, bis Erwachsene beginnen, Gäste erhalten besondere Speisen.
Auch Distinktion im Sinne Pierre Bourdieus lässt sich am Essen ablesen: Geschmack ist nicht nur individuell, sondern klassenspezifisch geprägt. Was als „gutes“ oder „schlechtes“ Essen gilt, unterscheidet soziale Gruppen – etwa über Herkunft der Lebensmittel, Zubereitungstechniken oder Tischmanieren. Wer etwa teuren Bio-Kaffee in der French Press zubereitet und an einem Massivholztisch trinkt, grenzt sich von Fast-Food-Konsumierenden ebenso ab wie von traditionellen Filterkaffeetrinkern – ein subtiler Akt sozialer Positionierung.
Schließlich verdeutlichen kulturelle Unterschiede beim Essen den Einfluss von Religion, Geschichte, Ressourcenverfügbarkeit und sozialen Rollen. So zeigen Zubereitung und Konsum von Kaffee in Ländern wie Mexiko, Äthiopien, Schweden, Vietnam oder der Türkei – trotz identischem Ausgangsprodukt – stark variierende Rituale, Utensilien und Bedeutungszuschreibungen. Das nachstehende Video illustriert dies anschaulich:
Essbesteck und Etikette: Stil oder Status?
Auch der Umgang mit Essbesteck ist kulturell geprägt und signalisiert soziale Zugehörigkeit, Erziehung und Status. Die Regeln variieren international – und sind historisch gewachsen.
- In Großbritannien wird die Gabel in der linken und das Messer in der rechten Hand gehalten – auch nach dem Schneiden. Die Gabel bleibt „rückwärts“ gedreht, d. h. die Wölbung zeigt nach unten. Es gilt als unfein, sich das Essen mit der Gabel „in den Mund zu schaufeln“. Stattdessen balanciert man die Speisen kunstvoll auf dem Gabelrücken.
- In den USA hingegen ist die sog. „Continental style“ (europäisch) nur selten verbreitet. Typisch ist der „American style“, bei dem nach dem Schneiden das Messer abgelegt und die Gabel von der linken in die rechte Hand genommen wird. Die Gabel bleibt aufgerichtet. Diese Form des Essens betont Individualismus und Praktikabilität, steht aber aus europäischer Sicht manchmal in Verdacht, weniger kultiviert zu wirken.
Solche Unterschiede zeigen, dass selbst kleine Gesten wie das Halten einer Gabel Ausdruck sozialer Normen, kultureller Identitäten und zivilisatorischer Vorstellungen sind – ein Gedanke, der sich etwa auch in der Zivilisationstheorie von Norbert Elias findet. Er zeigt, wie Tischsitten im Lauf der Geschichte zunehmend reglementiert wurden, um Affekte zu zügeln und soziale Ordnung zu erzeugen.
Beispiel 3: Architektursoziologie – Küchen im Wandel
Ein besonders anschauliches Beispiel für die soziale Bedeutung von Raumgestaltung bietet der Wandel von Küchenarchitekturen. Küchen sind keine neutralen Funktionsräume – sie spiegeln gesellschaftliche Macht- und Geschlechterverhältnisse ebenso wie soziale Ordnungsprinzipien wider.
In einem englischen Herrenhaus des 18. oder 19. Jahrhunderts war die Küche meist im Souterrain untergebracht. Sie war vom repräsentativen Wohnbereich räumlich strikt getrennt. Zugang hatten fast ausschließlich Bedienstete, insbesondere weibliches Personal wie Haushälterinnen oder Köchinnen. Männer aus der Herrschaftsfamilie betraten diesen Raum nur selten. Die Küche bot Platz für mehrere Bedienstete, war funktional, robust und auf die Versorgung vieler Personen (Hausstand, Gäste, Personal) ausgelegt. Hier war Kochen harte körperliche Arbeit, die sozial abgewertet und ausgegliedert war – sowohl räumlich als auch gesellschaftlich.
Die Frankfurter Küche (1926), entworfen von Margarete Schütte-Lihotzky, übertrug das industrielle Rationalisierungsprinzip auf den privaten Haushalt. Die Küche war klein (unter 10 m²), effizient organisiert und für die Arbeit einer einzelnen Person – der Hausfrau – optimiert. Sie war ebenfalls vom Wohnbereich abgetrennt und ermöglichte keine soziale Interaktion beim Kochen. Das Kochen wurde als individuelle Pflichterfüllung verstanden. Ein Kühlschrank war nicht vorgesehen, da tägliche Einkäufe üblich waren. Die Frankfurter Küche steht somit für eine Zeit, in der Hausarbeit weiblich konnotiert, unsichtbar und isoliert war.
In modernen offenen Wohnküchen zeigt sich ein gesellschaftlicher Wandel: Küche, Wohn- und Essbereich sind nicht mehr streng getrennt, sondern gehen ineinander über. Das Kochen wird zu einer sozialen Aktivität, an der mehrere Personen teilnehmen können. Eine zentrale Kochinsel lädt dazu ein, gemeinsam zu kochen, zuzuschauen oder sich zu unterhalten. Die Küche wird damit zum Kommunikationsraum und Ausdruck einer egalitäreren Gesellschaftsstruktur, in der Kochen nicht länger exklusiv weiblich konnotiert ist und nicht länger der reinen Pflichterfüllung dient.
Luxuriöse Wohnküchen dienen heute oft auch repräsentativen Zwecken und markieren sozialen Status. In Villen findet sich zusätzlich häufig eine zweite, abgeschlossene Chef’s Kitchen – eine hochfunktionale Profiküche im Hintergrund, die weiterhin unsichtbare Arbeitsstrukturen ermöglicht, analog zur Abgrenzung im Herrenhaus. Dort arbeiten ggf. Caterer oder Servicepersonal – wiederum oft nach tradierten sozialen Hierarchien.
Video: Moderne Küchenarchitektur
Warum Soziologie für die Polizei relevant ist
Die Inhalte der Allgemeinen Soziologie sind keineswegs abstrakt oder praxisfern – im Gegenteil: Für polizeiliches Handeln liefert die Soziologie grundlegende Begriffe und Denkwerkzeuge, um komplexe gesellschaftliche Situationen zu verstehen und angemessen zu handeln.
Polizeibeamte stehen täglich im Kontakt mit Individuen und Gruppen, deren Verhalten vor dem Hintergrund sozialer Rollen, sozialer Ungleichheit oder kultureller Differenz zu deuten ist. Wer etwa die Dynamiken in einer Gruppe versteht, kann Konflikteskalationen besser einschätzen. Wer soziales Handeln im Sinne von Weber interpretieren kann, ist in der Lage, Motive und Sinnzusammenhänge hinter dem Verhalten zu erkennen – statt vorschnell zu urteilen.
Auch Themen wie Exklusion, Migration oder Status und Habitus spielen in der Begegnung mit Bürgerinnen und Bürgern eine Rolle. Soziologische Reflexion hilft, stereotype Wahrnehmungen zu hinterfragen und situativ angemessener, kommunikativer und professioneller zu agieren.
Schließlich unterstützt die Soziologie auch die Organisation Polizei selbst dabei, sich weiterzuentwickeln – z. B. durch die Analyse der polizeilichen Berufskultur, durch Forschung zu Gewalt, Vertrauen oder Gruppenprozessen innerhalb der Behörde.
Fazit: Die Soziologie liefert keine Patentrezepte – aber sie hilft, Situationen differenzierter zu sehen, Zusammenhänge zu verstehen und damit letztlich professioneller zu handeln.
Literatur zur Einführung in die Soziologie
- Asmus, H.-J. (2002). Was heißt Soziologie? In B. Frevel et al. (Hrsg.), Soziologie. Studienbuch für die Polizei. Hilden: Verlag Deutsche Polizeiliteratur.
- Bühl, W. L. (1972). Verstehende Soziologie. München: Nymphenburger Verlagshandlung.
- Frevel, B. (Hrsg.). (2015). Polizei in Staat und Gesellschaft. Hilden: Verlag Deutsche Polizeiliteratur.
- Korte, H., & Schäfers, B. (2016). Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie (9. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.
- Mauri, M. (2020). Einführung in die Soziologie für die Polizei. In: B. Frevel & V. Salzmann (Hrsg.). Polizei in Staat und Gesellschaft (2. Aufl.). Hilden: Verlag Deutsche Polizeiliteratur.
Fachgesellschaften, Zeitschriften & Ressourcen
Institutionen
- Deutsche Gesellschaft für Soziologie
- GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften
- Statistisches Bundesamt
- UN Statistics Division
Online-Wissensportale
- 50 Klassiker der Soziologie (Universität Graz)
- Soziologie Basiswissen