Die Voluntaristische Kriminalitätstheorie besagt, dass Kriminalität maßgeblich von den Wertorientierungen der Handelnden (traditionelle Werte vs. materialistische Werte) abhängig ist, welche je nach Alter und Bildung variieren.
Hauptvertreter
Theorie
Hermann geht in seiner Theorie und in Anlehnung an Parsons von einem Menschen aus, der sich als ein produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt darstellt. Ferner geht er davon aus, dass jede Handlung das Ergebnis der Wahrnehmung der Situation sowie der Auswahl von Handlungszielen und Handlungsmitteln ist.
Eingebunden in eine äußerst komplexe Umwelt, greift nun der Mensch auf Stereotype, Normen und Werte zurück, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, also die Komplexität zu reduzieren und dadurch die erlangten Informationen besser verarbeiten zu können.
Normen und Werte beeinflussen somit die Informationsverarbeitung während der Situationswahrnehmung, fungieren aber vor allem als Selektionsfaktoren bei der Auswahl von Handlungszielen und –mitteln. Dabei unterscheiden Werte zwischen wichtigen und unwichtigen Zielen, während Normen zwischen akzeptierten und nicht akzeptierten Mitteln differenzieren.
Die Wertorientierung kann nach Annahme der Voluntaristischen Kriminalitätstheorie zwischen einer traditionellen Orientierung an Leistung, Religion und konservativer Konformität und einer materialistischen Orientierung an hedonistischen und subkulturell materialistischen Zielen unterschieden werden.
Die Normenakzeptanz ist wiederum stark von Alter und Bildung abhängig.
Es ergeben sich für Hermann daher folgende, empirisch auch gut gestützte Hypothesen:
- Normebene: Je ausgeprägter die Akzeptanz von Rechtsnormen ist, desto geringer sind die Delinquenzbelastungen der entsprechenden Personen.
- Wertorientierungsebene: Je ausgeprägter die Orientierung an traditionellen Werten ist, desto höher ist die Normakzeptanz, und je ausgeprägter die Orientierung an modernen, materialistischen Werte ist, desto geringer ist die Normakzeptanz.
- Strukturmerkmalsebene: Je älter eine Person ist, desto ausgeprägter ist die Orientierung an traditionellen Werten. Je höher der erreichte Bildungsstatus einer Person ist, desto geringer ist die Orientierung an traditionellen Werten. Umgekehrt verhält es sich mit der Orientierung an modernen, materialistischen Werten.
Demnach kann geschlussfolgert werden, dass ältere Menschen seltener kriminell werden als jüngere Menschen, weil ihre Akzeptanz von Rechtsnormen aufgrund traditionellerer Werte höher ist. Zudem lässt sich festhalten, dass besser gebildete Personen häufiger kriminell werden als Menschen mit einem niedrigeren Bildungsstatus, da sie häufiger einer weniger Rechtsnorm akzeptierenden, materialistischen Wertorientierung anhängen.
Hermann ist bei all dem in der Lage, sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene zu argumentieren: Demnach ändere sich die Wertorientierung innerhalb des individuellen Lebenslaufs, abhängig von Alter, Bildung und dem Wertewandel des eigenen sozialen Umfeldes (Mikroebene). Außerdem könne eine steigende Kriminalitätsrate durch die Veränderung gesamtgesellschaftlicher Werte zugunsten einer modern-materialistischen Orientierung erklärt werden (Makroebene).
Schließlich beschreibt die Voluntaristische Kriminalitätstheorie des Einfluss von Strafen und Sanktionen auf das Individuum, und zwar erneut bezüglich dynamischer Prozesse innerhalb persönlicher Wertorientierung und Normakzeptanz. Nach Hermann führen insbesondere schwere Sanktionen zum Ausbau materialistischer Werte und zum Abbau traditioneller Werte, was wiederum zu einer Verringerung der Akzeptanz geltender Rechtsnormen, also zu erhöhter Wahrscheinlichkeit, erneut kriminell zu werden, führt.
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Kriminalpolitische Implikationen
Hermanns Hinweis zu einem möglichen Wertewandel durch Sanktionen kann durchaus als Kritik an derzeit geltenden Strafpraxen angesehen werden.
Insbesondere lange Haft- und hohe Geldstrafen hätten selten resozialisierende Effekte, da sie einen Wertewandel hin zu egoistischen, hedonistischen und materialistischen Bestrebungen der Bestraften hervorrufen. Strafformen, welche traditionelle Werte und die gesamtgesellschaftliche Relevanz der Einhaltung bestehender Rechtsnormen betonen, wären kriminalpräventiv demnach sinnvoller.
Hermann zeigt mit seiner Voluntaristischen Theorie zudem, dass Kriminalität kein Phänomen der Unterschicht ist, sondern vielmehr mit einem höheren Bildungsstatus und einer modernen Wertorientierung korreliert. Die allgemein geläufige Vorstellung, abweichendes Verhalten habe zumeist mit geringer Intelligenz oder mangelnder Bildung zu tun, wird hier konsequent verneint. Kriminalpolitisch kann demnach geschlussfolgert werden, dass der Blick mehr auf höhere Schichten und deren möglicherweise recht hohen Anteil an Kriminalität im Dunkelfeld zu richten ist. Kriminalpolitik sei nicht einfach mit Sozialpolitik gleichzusetzen, da es sich bei Kriminalität heute mehrheitlich nicht mehr um nur um Unterschichtkriminalität handelt.
Implizit steht hier also auch der Hinweis ganz nach Tradition des Labeling Approach im Raum, dass Verbrechen vor allem dann publik gemacht und bestraft werden, wenn dies für die Mächtigen oder Herrschenden von Vorteil ist, wohingegen den so genannten repressiven Verbrechen und den kriminellen Handlungen von Mächtigen – entgegen ihrer mehr und mehr nachweisbaren kriminalpolitischen Relevanz – zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Kritische Würdigung /Aktualitätsbezug
Die hier nur sehr knapp zusammengefasste Voluntaristische Kriminalitätstheorie kann in ihrer Gesamtkonzeption als eine äußerst umfassende, sowohl Kriminalität als auch Kriminalisierung berücksichtigende, sowohl makrosoziologisch als auch mikrosoziologisch dynamische, und zudem empirisch gut belegte Theorie (Hermann konnte nämlich innerhalb seiner eigenen Studien die Annahme eines Zusammenhangs zwischen materialistischen Werten und Kriminalität bestätigen) gewürdigt werden. Somit handelt es sich bei vorliegender Theorie um einen recht erfolgreichen Versuch, Kriminalität, aber auch Kriminalisierung, sehr allgemein und generell auf alle Delikte und Personengruppen bezogen zu erklären.
Der Rückgriff auf Normen und Werte zur Erklärung von Delinquenz ist zwar keinesfalls neu, doch gelingt es Hermann im Gegensatz zu beispielsweise Merton oder Hirschi, konkret zu umschreiben, welche Form der gesellschaftlichen Wertvorstellungen mit kriminellen Handlungen in Verbindung zu bringen sind und wie jene durch dynamische Prozesse sowie individuell als auch gesamtgesellschaftlich Veränderungen durchlaufen.
Es bleibt nun noch die Frage offen, ob es nicht dennoch Formen von Kriminalität gibt, die in keiner Weise mit Normen und Werten in Verbindung stehen.