[auch bekannt unter: Age-Graded Life-Course Theory of Crime, Age-Graded Development Theory, Theorie der Turning Points]
Robert J. Sampson und John H. Laub beschreiben mit ihrer Age Graded Theory oder Theorie der Turning Points (Wendepunkte) den Wandel der Kriminalitätsbelastung von Personen in Abhängigkeit biographischer Ereignisse. Hierzu ziehen sie die sogenannten ‚Turning Points‘, Lebenswendepunkte, heran, die kriminelles Verhalten entweder verstärken, abschwächen oder unterbrechen können.
Hauptvertreter
Robert J. Sampson und John H. Laub
Theorie
Mit der Age Graded Theory oder Theorie der Turning Points legen Sampson und Laub 1993 eine der „herausragendsten Entwicklungs- und Lebenslauftheorien“ (Schneider, 2007, S. 7) vor. Die Theorie besagt, dass Kriminalität im Lebenslauf einer Person nicht unabdingbar konstant verlaufen muss, sondern biographische Wendepunkte (turning points) mit einem Abbruch aber auch der (Wieder-)Aufnahme kriminellen Verhaltens in Verbindung gebracht werden kann. Turning Points sind als „abrupte, radikale ‚Umdreher‘ oder Chancen im Leben, die die Vergangenheit von der Zukunft trennen“ (Sampson & Laub, 1997, S. 143; hier zitiert nach: Schneider, 2007, S. 146) zu verstehen, wie etwa eine Eheschließung, Elternschaft, die Aufnahme eines festen Beschäftigungsverhältnisses, der Eintritt in den Militärdienst usw..
Für Ihre Theorie bedienten sich die Autoren der Daten einer zurückliegenden Studie durch das Ehepaar Sheldon und Eleonore Glueck (siehe: Glueck & Glueck). Diese verglichen bereits in den 1940er bis 1950er Jahren die Lebensläufe von fünfhundert jugendlichen, männlichen Delinquenten, die sich in einer Erziehungsanstalt befanden mit den Lebensläufen von fünfhundert nicht-devianten Jugendlichen einer Kontrollgruppe. In Ihrer Längsschnittstudie untersuchte das Forscherehepaar die Delinquenzbelastung der Jugendlichen bzw. jungen Männner zu ihrem 14., 25. und 32. Lebensjahr.
Sampson und Laub führen nun die Längsschnittstudie fort, indem sie die bereits erhobenen und ausgewerten Daten mittels neuer statistischer Verfahren re-evaluierten, Daten aus Kriminalakten zu 475 Delinquenten erhoben und noch lebenden Probanden (die mittlerweile ca. 70 Jahre alt sind) von damals aufsuchen und zu ihrer Delinquenzbelastung nach dem 32. Lebensjahr befragen. Das Studiendesign bietet so eine bis dato einmalige Gelegenheit die Delinquenzverläufe von Personen über eine annähernd komplette Lebensspanne zu untersuchen. Aufgrund der geführten Interviews und des dokumentierten Verhaltens in der Vergangenheit können Sampson und Laub die Probanden drei verschiedenen Kategorien zuweisen:
- Persisters: Personen, die ihre kriminelle Karriere auch im Erwachsenenalter fortführten
- Desisters: Personen, die ihre kriminelle Karriere beendet haben
- Zigzag criminal career: Personen, bei denen die kriminelle Karriere keine Kontinuität aufwies und ab und dann Anwendung fand.
Daraus schlussfolgern sie, dass abweichendes Verhalten im Lebenslauf sowohl durch Kontinuität als auch Veränderung gekennzeichnet ist.
Der Grund, warum Kriminalität entstehe, seien schwache soziale Beziehungen, die sich in einem geringen „sozialen Kapital“ ausdrücken. Die Art und Stärke der sozialen Bindungen variiert im Entwicklungsverlauf mal mehr und mal weniger und somit variiert auch das soziale Kapital. Besondere Bedeutung wird hier den informellen Bindungen wie Freundschaften, Nachbarschaften aber auch Ehen zugesprochen.
Hauptaugenmerk dieser Kriminalitätstheorie liegt auf den so genannten turning points, Wendepunkten, die in einem Zusammenhang mit dem Aufbau oder der Beendigung sozialer Bindungen stehen. Eine Heirat, das Eintreten in den Militärdienst und/oder der Beginn eines festen Arbeitsverhältnisses stärken das Maß sozialer Bindungen und gehen einher mit einem stärkeren Maß sozialer Kontrolle. Das Eingehen bedeutungsvoller sozialer Bindungen geht mit einem Wandel gelebter Alltagsroutinen einher. Dadurch entstehende neue informelle Verpflichtungen und eine vermehrte soziale Kontrolle, wirken sich positiv auf die Entwicklung abweichenden Verhaltens aus.
Allerdings kann ein biographischer Wendepunkt auch im Kontext einer Zunahme der Delinquenzbelastung stehen: bei dem Verlust eines Beschäftigungsverhältnisses oder der Beendigung einer Partnerschaft o.ä. sinkt das Maß informeller Verpflichtungen und der sozialen Kontrolle. Ein Anstieg des devianten/ kriminellen Verhaltens kann die Folge sein.
Demnach sind es dieselben zugrundeliegenden sozialen Faktoren und die Stärke der hiermit einhergehenden Bindungen, die – je nach ihrer Ausprägung – sowohl für eine Delinquenzbelastung im Lebenslauf verantwortlich, als auch für eine Beendigung einer kriminellen Karriere stehen. Oder wie Sampson und Laub selbst schreiben: “explanations of desistance from crime and persistent offending are two sides of the same coin” (2005: 171).
Bezüglich Erwachsenendelinquenz sind fehlende oder geschwächte Bindungen, sowie eine kumulative Kontinuität als Ursachen zu sehen.
Anhand der von ihnen erhobenen Biografien und den ergänzenden eigenen Interviews zeigen Sampson und Laub, dass Delinquenz nicht immer permanent in einem Lebensverlauf vorhanden sein muss. Durch vermehrte soziale Kontrolle ist ein Mensch weniger frei, sich abweichend zu verhalten. Selbst Langzeitstraffällige können durch bestimmte Wendepunkte ihre kriminelle Karriere hinter sich lassen.
Kriminalpolitische Implikationen
Sampson und Laub stehen mit ihrer Theorie für ein resozialisierendes Strafrecht. Im Gegensatz etwa zu Gottfredsons und Hirschis General Theory of Crime oder Moffits Two-Path-Theory betonen Sampson und Laub, dass die Delinquenzbelastung im Lebenslauf von Menschen durch Kontinuität UND Wandel charakterisiert sein kann. Der Übergang zur Delinquenz bzw. die Beendigung eines delinquenten Lebenswandels ist nicht an bestimmte Zeitpunkte oder Zeitspannen im Lebenslauf festzumachen, sondern jederzeit theoretisch möglich.
Somit kann jedem, auch schweren Langstraflern, durch die richtige soziale Bindung der Weg in ein straffreies Leben geebnet werden.
Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug
Die Age-Graded oder Turning Points-Theorie von Sampson und Laub ist die bis heute einflussreichste Theorie aus dem Bereich der Entwicklungs-Kriminologie (Developmental-Criminology). Keine andere Studie bietet einen vergleichbaren Einblick in Delinquenzbelastung über die nahezu vollständige Lebensspanne von Menschen.
Die Fokussierung auf biographische Wendepunkte und deren Einfluss auf die Intensität sozialer Kontrolle weisen starke inhaltliche Parallelen zu Kontrolltheorien auf, aber auch eine inhaltliche Nähe zum Labelling-Ansatz ist gegeben. So weisen die Autoren auf verbaute Zukunftschancen durch eine Inhaftierungserfahrung im Jugendalter hin: “the connection between official childhood misbehavior and adult outcomes may be accounted for in part by the structural disadvantages and diminished life chances accorded institutionalized and stig- matized youth.” (Sampson & Laub, 1993, S. 137).
Die Betonung wandelbarer delinquenter Karrieren (Zigzag criminals) und Personne, die im höheren Lebensalter ihre kriminelle Karriere beenden (Desisters) stehen in einem Widerspruch zu anderen Entwicklungstheorien, die ein deterministischeres Bild von Karrierekriminellen zeichnen (siehe z.B. Moffits Two-Path-Theory).
Anlass für Kritik an der Age-Graded-Theory bietet fehlende Erklärung, warum die einen ihr Verhalten durch die Wendepunkte verändern, während die biographische Einschnitte bei anderen keinen Einfluss auf die Delinquenzentwicklung haben. Des Weiteren bleibt unscharf, welche Faktoren und Qualitäten feste Bindungen kennzeichnen. Schließlich basiert die Studie auf einem Sample rein männlicher Probanden. Über die Kriminalität von Frauen bzw. den Einfluss biographischer Wendepunkte können somit hier keine Aussagen getroffen. Die Theorie kann demnach keine Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen.
Faktoren wie einem festen Arbeitsplatz oder einer Partnerschaft gelten im Allgemeinen als wichtige Unterstützungsfaktoren, die z.B. bei der Beurteilung der Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftätern berücksichtigt werden. So spielt z.B. ein Beschäftigungsverhältnis, welches einen routinierten Tagesablauf sowie soziale Kontrolle mit sich bringt, nach der Entlassung aus der Haft eine große Rolle. Des Weiteren wird vor Entlassung verstärkt Wert auf kontinuierlichen Kontakt zu Familie und Partnern gelegt, da diese im Idealfall als Unterstützungsfaktoren dienen.
Literatur
Primärliteratur
- Sampson, R. J. & Laub, J. H. (1993). Crime in the making : pathways and turning points through life. Cambridge, Mass. [u.a.] : Harvard Univ. Press.
- Laub, J. H. & Sampson, R. J. (2003). Shared beginnings, divergent lives : delinquent boys to age 70. Cambridge, Mass. [u.a.] : Harvard Univ. Press.
- Sampson, R. J. & Laub, J. H. (2005). A general age-graded theory of crime: lessons learned and the future of life-course criminology. In: Farrington, D. P. (Hrsg.) Integrated developmental and life course theories of offending. New Brunswick: Transaction, S. 165–181.
Sekundärliteratur
- Schneider, H. J. (2007). Internationales Handbuch der Kriminologie. [Band 1: Grundlagen der Kriminologie]. Berlin: De Gruyter Recht.
- Siegel, L. J. (2011). Criminology: The Core (4. Aufl.). Belmont: Wadsworth.
Weiterführende Informationen
Video
Interview with John Laub and Robert Sampson — The Stockholm Prize in Criminology
John Laub, Director, Director, National Institute of Justice
Robert Sampson, Henry Ford II Professor of the Social Sciences, Harvard University
NIJ Conference 2011
June 20-22
Robert J. Sampson und John H. Laub wurden 2011 für ihre Arbeit zur Age Graded Theory mit dem Stockholm Price in Criminology ausgezeichnet. In der Begründung der Jury heißt es:
Jury Motivation
The authors of the longest life-course study of criminal behavior ever conducted, Laub and Sampson discovered that even very active criminals can stop committing crimes for good after key “turning points” in their lives. In their sample of 500 male offenders born in the 1920s, these turning points included marriage, military service, employment, and other ways of cutting off their social ties to their offending peer group.
These findings have had broad influence in criminology world-wide. They have also influenced the policy debate about criminal justice and sentencing policy, especially concerning the potential for rehabilitation. Their work has influenced other scholars to search for means by which offenders can be assisted to break their links to other offenders, such as by moving to new communities.