Stephan Quensels Karrieremodell beschreibt die Entwicklung kriminellen Verhaltens als mehrstufigen Eskalationsprozess – ausgelöst durch das Wechselspiel individueller Delinquenz und gesellschaftlicher Sanktionierung.
Merkzettel
Karrieremodell – Stephan Quensel
Hauptvertreter: Stephan Quensel
Erstveröffentlichung: 1970 („Wie wird man kriminell?“)
Land: Deutschland
Idee/Annahme: Kriminalität entwickelt sich in einem mehrphasigen Teufelskreis aus individueller Delinquenz, gesellschaftlicher Reaktion und staatlicher Sanktionierung. Kleine Anfangsdelikte können sich durch soziale Ablehnung, Etikettierung und justizielle Eingriffe zu kriminellen Karrieren mit Haftstrafen ausweiten.
Knüpft an: Labelling-Ansatz (Lemert, Becker), Soziale Reaktionstheorien, Sozialpsychologische Erklärungsansätze
Kritik an: Ätiologische Monokausalität, fehlende Berücksichtigung sozialer Reaktionsprozesse, rein strafende Justizpraxis gegenüber Jugendlichen
Theorie
Quensel möchte mit seinem Modell die ätiologische und pönologische Sichtweise verbinden, dabei jedoch Kriminalität nicht als Ergebnis eines einmaligen Vorgangs, sondern als Prozess mit mehreren Phasen betrachten. Als Beispiel zieht er Jugendkriminalität heran, welche sich laut Quensel erst im Rahmen einer mehrjährigen Entwicklung herausbildet, und welche das Ergebnis gestörte oder konfliktgeladene Interaktionen zwischen Individuum, sozialem Umfeld und staatlicher Instanz ist.
Quensels deshalb auch „Teufelskreis-Modell“ genannter Ansatz verläuft wie folgt:
In der ersten Phase begeht der Jugendliche ein zumeist kleines Delikt, um ein spezifisches Problem zu bewältigen – etwa fehlende Anerkennung in der Peer-Group oder schulische Misserfolge. Der weitere Verlauf ist dabei offen:
a) Positive Verstärkung: Bleibt die Tat unentdeckt und gelingt die intendierte Problemlösung (z. B. Anerkennung wird erreicht), kann dies als Erfolgserlebnis gedeutet werden. Die Erfahrung wirkt dann verstärkend und erhöht die Bereitschaft zu weiteren Delikten.
b) Negative Sanktionierung: Wird der Jugendliche hingegen ertappt und sanktioniert, etwa durch schulische Maßnahmen oder Jugendarrest, erfährt er eine erste institutionelle Reaktion. Diese Sanktion kann das bestehende Problem verschärfen und soziale Spannungen intensivieren.
Ist Letzteres der Fall, befinden wir uns in der zweiten Phase von Quensels Karrieremodell: Der Jugendliche muss nachsitzen, er wird getadelt oder muss vielleicht sogar in den Jugendarrest.
In der daran anschließenden dritten Phase wird es für den Jugendlichen nun zunehmend schwieriger, sein eigentliches Problem noch zu lösen, da dieses durch die Sanktion und die Bloß- und Darstellung in der Öffentlichkeit als Abweichler eher noch vergrößert wurde. Der Delinquente erfährt soziale Ablehnung, er empfindet die Bestrafung als ungerecht, und er findet schließlich in anderen Abweichlern Bestätigung und Anerkennung.
Häufig führt dies zu einer weiteren devianten Handlung, welche dann die vierte Phase des Modells einleitet. Gesellschaft und Justiz erkennen den Jugendlichen als Rückfälligen wieder, die Sanktion hat aus ihrer Sicht anscheinend nicht gefruchtet und muss verschärft werden. So kommt es zu ernsthaften justiziellen Reaktionen und einer Erhöhung der sozialen Ablehnung.
Ein daran anschließender Aufschaukelungsprozess aus weiteren Delikten und immer härteren Strafen führt den Jugendlichen dann in die fünfte Phase, in der er nach Quensel nun als Delinquenter etikettiert und dementsprechend behandelt wird: Er verliert seine Lehrstelle, darf keinen Führerschein machen oder ist in anderer Hinsicht in seinem Handlungsspielraum beschränkt. Dementsprechend beginnt er, die Definition des Abweichlers in sein eigenes Selbstbild aufzunehmen.
In der sechsten Phase wird der Delinquente zum Außenseiter, lediglich die deviante Gruppe bietet noch sozialen Kontakt. Bestimmte kriminelle Techniken werden internalisiert, die gesellschaftlich zugewiesene Rolle des Delinquenten wird vollständig übernommen und das eigene deviante Handeln nunmehr als normal und richtig angesehen.
In der siebten Phase landet der Kriminelle schließlich in einer Strafanstalt, die sowohl seine Probleme und sein Selbstbild, als auch sein Bild nach außen verschärft beziehungsweise bestätigt. Der Jugendliche identifiziert sich nun vollständig mit seiner delinquenten Rolle.
Der „Teufelskreis“ findet in einer achten Phase seinen vorläufigen Abschluss: nach Haftentlassung verschärft sich die Etikettierung des nun offiziell Vorbestraften durch das gesellschaftliche Umfeld. Alte Arbeitgeber, Freunde und evtl. auch Familienmitglieder wenden sich ab, die Nähe zu anderen Vorbestraften wird gesucht. Bei erneuter Delinquenz wirkt sich die Vorstrafe strafverschärfend aus. Dieser Ausschluss aus zentralen gesellschaftlichen Bereichen (Arbeit, Bildung, soziale Teilhabe) kann als Form sozialer Exklusion verstanden werden, wie sie auch im Beitrag zur Exklusion beschrieben wird.
Kriminalpolitische Implikationen
Quensels Karrieremodell stellt vor allem auf eine Problematisierung der gesellschaftlichen Reaktion auf kriminelles Verhalten ab (und steht somit dem Labelling-Ansatz nahe). Entscheidend ist hier vor allem, dass Delinquenz und ihre Sanktionierung stellvertretend für andere zugrundeliegende Konflikte und Probleme (zum Beispiel Konflikte mit Eltern, Lehrern, Freunden oder Kollegen) angesehen werden.
Besonders kritisch ist das Eingreifen der Justiz und der daraus folgenden selektiven Handlungseinschränkung für den Bestraften zu sehen. Der Delinquente wird, anstatt dass man sich seiner konstruktiv annimmt, ins soziale Abseits befördert, er wird stigmatisiert und erlernt somit Abwehr- und Verhaltenstechniken, die seine kriminelle Karriere begünstigen. Dabei geht Quensel konkret auf das Missverhältnis zwischen dem Kriminellen und den staatlichen Institutionen ein. Ersterem ist der öffentliche und bürokratische Justizapparat völlig fremd. Er versteht ihn nicht und misstraut ihm. Ebenso kennen die Mitglieder dieses Apparates die Welt des Jugendlichen nicht und misstrauen ihr ebenso. Offizielle Stellen sind jedoch gezwungen, ihre dem Delinquenten fremde Rolle als Richter, Sozialarbeiter usw., der sich letztendlich nicht mit dem Delinquenten solidarisieren darf, zu spielen. So können eine Annäherung und ein gegenseitiges Verständnis kaum stattfinden. Beide Seiten haben zudem über einen längeren Zeitraum hinweg schlechte Erfahrungen mit der jeweils anderen Seite gemacht und sind daher nicht bereit, aus der eigenen Welt und der eigenen Rolle herauszutreten.
Quensel fordert daher konkret mehr soziologische Phantasie in Bezug auf die Entwicklung krimineller Karrieren (entstanden durch soziale Missstände und fehlender Hilfestellung für den Jugendlichen) und mehr sozialpsychologische Einwirkung während und am Ende des Phasenmdells (Verhinderung des Aufschaukelungsprozesses, Gegenmaßnahmen zur Übernahme des delinquenten Rollenbildes).
Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug
Das Karrieremodell von Quensel ist als ein differenziertes und die Ursachen der primären Devianz berücksichtigendes Beispiel für Lemerts und Beckers Ansatz der forcierenden Wirkung justizieller Reaktionen zu würdigen. Sehr ausführlich und nachvollziehbar wird hier beschrieben, wie die Begehung eines kleines Delikts allein durch die Reaktion von Umwelt und Staat zu einer Verfestigung einer kriminellen Karriere führen kann.
Berücksichtigt man die spezifische Altersverteilung bei kriminellen Handlungen, nach der die meisten Jugendlichen zumindest einmal delinquentes Verhalten zeigen, besitzt das Modell auch aus heutiger Sicht noch immer Aktualität, da es die Relevanz eines eigenständigen Jugendstrafrechts und dessen mehr auf Erziehung und Problemlösung ausgelegter Konzeptualisierung betont.
Fraglich ist jedoch, ob die Ursache der ersten abweichenden Handlung tatsächlich immer nur einen Versuch der Problembewältigung darstellt. Sowohl affektive oder rational zur Tat motivierte, als auch von Menschen ohne erkennbare Probleme begangene Delikte werden hier ausgeblendet.
Im Unterschied zu Henner Hess, der in seinem Karrieremodell trotz situativer Zwänge stets die individuelle Entscheidungsmacht des Handelnden betont, beschreibt Quensel eine zunehmend determinierende Wirkung sozialer Reaktionen. Während bei Hess das Individuum theoretisch in jeder Phase die Möglichkeit hat, sich aktiv gegen den delinquenten Pfad zu entscheiden, erscheint der Jugendliche bei Quensel mehr und mehr als Spielball gesellschaftlicher Zuschreibungen und institutioneller Sanktionen. Der Eskalationsprozess wirkt hier beinahe zwangsläufig – und lässt individuelle Ausstiegsentscheidungen nur noch schwer denkbar erscheinen.
Kritisch anzumerken ist zudem, dass Quensels Modell stark auf situative Interaktionsdynamiken fokussiert ist, strukturelle Ausgangsbedingungen wie Armut, Bildungsbenachteiligung oder soziale Ausgrenzung jedoch nur am Rande berücksichtigt. Soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Marginalisierung, die nachweislich die Delinquenzbereitschaft beeinflussen, bleiben in der Theorie unterbelichtet. Eine Integration sozialstruktureller Erklärungen könnte die analytische Tiefe des Modells weiter erhöhen.
Quensels Modell bietet eine eindrucksvolle Analyse des Eskalationspotenzials sozialer Reaktionen auf Devianz und betont die Verantwortung des Strafsystems – nicht nur für Kontrolle, sondern auch für Prävention und soziale Integration.
Aus heutiger Perspektive besitzt Quensels Modell weiterhin hohe Relevanz – nicht nur für die Analyse jugendlicher Delinquenzverläufe, sondern auch für die Diskussion um Resozialisierung und Strafvollzug. Die vielfach dokumentierte Zuschreibung und gesellschaftliche Fixierung negativer Merkmale an Einzelpersonen oder Gruppen, die zu sozialer Abwertung und Ausschluss führen.">Stigmatisierung ehemals Inhaftierter, etwa durch eingeschränkte Jobchancen, Wohnraumsuche oder die Hürden eines belastenden Führungszeugnisses, spiegelt zentrale Aspekte des „Teufelskreises“ wider. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Strafrechtspolitik, die soziale Integration anstelle repressiver Eskalation in den Mittelpunkt stellt.
Literatur
Primärliteratur
- Quensel, Stephan (1970): Wie wird man kriminell? In: Kritische Justiz 1970, 377ff. Frankfurt am Main.
- als frei zugänglicher Volltext verfügbar unter: https://www.kj.nomos.de/fileadmin/kj/doc/1970/19704Quensel_S_375.pdf