Nach Henner Hess ist die Entstehung und Verfestigung krimineller Verhaltensweisen durch Karrieren zu erklären. Der Handelnde gleitet demnach prozesshaft, durch Außenwelt und Situation gedrängt, aber schlussendlich individuell gewählt, in eine delinquente Rolle hinein.
Hauptvertreter
Theorie
Hess’ grundlegende Vorannahme bezüglich Kriminalitätstheorien ist die, dass abweichendes Verhalten nicht mit einer einzigen Hypothese erklärt werden kann, sondern dass es einer Art Filterprozess, einem Karrieremodell bedarf, um die Entwicklung zu delinquentem Handeln von Personen zu beschreiben.
Dabei berücksichtigt Hess sowohl die Besonderheiten der handelnden Person als auch die Besonderheiten der Situation, in der sich die handelnde Person befindet. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf die ständigen Veränderungen, denen Person und Situation unterliegen, und die immer jeweils neue Möglichkeiten oder Zwänge zu (abweichendem) Verhalten mit sich bringen. Letztendlich sind es aber an jeder Stelle der Karriere immer die individuelle Entscheidungen der Handelnden, die über kriminelles oder konformes Verhalten bestimmen. Hess’ Karrieremodell durchläuft mehrere Phasen, welche er am Beispiel „Prostitution“ veranschaulicht (Hess, 1978):
- Motivation zur abweichenden Handlung und situative Verschärfung
Zunächst bedarf es nach Hess einer ätiologischen Erklärung für die Motivation, abweichend zu handeln. Im Falle der Prostitution kämen hier beispielsweise Anomie-, Subkultur- und Lerntheorien in Frage.
Zudem können situative Verschärfungen in Form von plötzlichen Verschlechterungen im sozialen oder ökonomischen Bereich vorliegen. - Bereitschaft zur Handlung durch schwache soziale Kontrollen und Normüberwindung
In einem zweiten Schritt müssen nun internalisierte Normen neutralisiert werden, welche gegen die Tat, für die die Motivation vorliegt, sprechen, und somit innere Kontrollen gelockert werden.
Gleichzeitig kann es zu einer Schwächung aktueller, sozialer Bindungen kommen, wonach wenig integrierte Personen diese Phase des Modells häufiger erfolgreich durchlaufen müssten als Menschen, die von wichtigen Bezugspersonen und -institutionen auf dem Weg der Konformität gehalten werden. - Abweichende Handlung nach individueller Entscheidung bei objektiver Möglichkeit
Darüber hinaus müssen objektive Möglichkeiten zur Handlung gegeben sein: Spezifische Eigenschaften und Kenntnisse des Individuums, aber auch für die abweichende Handlung relevante Kontakte und Gelegenheiten.
Wichtig in Hess’ Modell ist schließlich noch die Feststellung, dass zwar eine Motivation zur Abweichung vorliegen kann und zudem schwache Bindungen und gelockerte, innere Kontrollen vorliegen können, dass es aber dennoch einer individuellen Entscheidung des Handelnden bedarf, sich tatsächlich auch abweichend zu verhalten oder eben nicht. - Sekundäre Devianz, Stigmatisierung, Rollenübernahme und Subsumtion
Haben die eben beschriebenen Vorgänge zur devianten Handlung selbst geführt, wird jene bei erfolgreichem Ausgang fortgesetzt. Es schließen sich Zuschreibungsprozesse und Stigmatisierungen durch die Außenwelt, aber auch durch die delinquent gewordene Person selbst an. Bestimmte Erwartungen anderer werden durch die eigene Übernahme der abweichenden Rolle befriedigt und es kommt somit nach und nach zu einer Subsumtion: der Zuschreibung und Annahme einer neuen, devianten Identität.
Bei Hess wird die sich prostituierende Person als „Hure“ oder ähnliches etikettiert und man tritt anschließend mit gewissen Rollenerwartungen an sie heran. Diese werden durch weitere Prostitution beantwortet und es kommt zur Übernahme einer Identität als Prostituierte.
Alles in allem verbindet Hess demnach ätiologische Theorien wie die von Merton, Sutherland, Hirschi und anderen mit den pönologischen Ansätzen von Becker und Lemert, betont jedoch zugleich die fortwährende, individuelle Möglichkeit, sich dennoch gegen die äußeren und situativen Determinanten und Faktoren entscheiden zu können. Somit ist auch das rational-klassische Paradigma der Kriminologie bei Hess nicht vergessen worden.
Kriminalpolitische Implikationen
Aufgrund des sehr umfassenden und sämtliche kriminologische Paradigmen berücksichtigenden Modells ist die kriminalpolitische Implikation bei Hess sehr vielschichtig. Zudem ist sie schwierig zu ermitteln, da Hess explizit nur den mikro-perspektivischen Teil einer seiner Meinung nach notwendigen, allgemeinen Kriminalitätstheorie beschreibt.
Letztere entwickelte Hess schließlich auch (zusammen mit Scheerer) unter dem Namen Sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie, in die Hess’ Karrieremodell integriert wurde und aus der somit auch die entsprechenden kriminalpolitischen Implikationen entnommen werden können.
Kritische Würdigung / Aktualitätsbezug
Das Karrieremodell von Hess hat seine Stärke sicherlich vor allem in der Kombination verschiedener kriminologischer Grundparadigmen: Ätiologische Theorien werden mit Teilen des labeling approach verbunden, zudem wird die Willensfreiheit des Individuums genauso thematisiert wie seine Determination durch äußere Faktoren.
Während letzterer Zusammenhang an David Matzas Postulat eines weichen Determinismus erinnert, scheint der Versuch, ätiologische und pönologische Theorien miteinander zu verbinden, kriminologisches Neuland darzustellen: Hess beschreibt sowohl die Ursachen von kriminellen Handlungen als auch die Folgen von Etikettierungen und Stigmatisierungen.
Kritisch betrachtet könnte man jedoch behaupten, Hess’ Modell sei lediglich eine Ergänzung von Lemerts Theorie der sekundären Devianz um die Erklärung der primären Abweichung.
Die eigentliche Feststellung des labeling approach, dass Kriminalität nur das sei, was Menschen als Kriminalität bezeichnen, wird bei Hess nicht wirklich berücksichtigt. Ebenso fehlen die sozialstrukturellen Faktoren, die die Motivation und die Bereitschaft zu Delinquenz fördern oder verhindern können.
Erneut sei auf Hess’ und Scheerers Sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie verwiesen, in der all diese Faktoren berücksichtigt wurden.