Shaming bezeichnet jede Form der Reaktion auf deviantes Verhalten, welche Scham beim Devianten hervorruft. Braithwaite geht von zwei verschiedenen Formen des Shaming aus. Desintegrative Shaming wirkt stigmatisierend und aus der Gemeinschaft ausschließend. Es sorgt somit für das Eintreten von sekundärer Devianz und steht somit auf theoretischer Ebene den Ideen der Labelling-Ansätze nahe. Reintegrative Shaming hingegen beinhaltet neben der Missbilligung der Devianz auch Zeichen der Vergebung und der Bereitschaft zur Wiederaufnahme in die Gemeinschaft.
Hauptvertreter
Theorie
Aufbauend auf dem Labeling-Ansatz, Kontrolltheorien und kriminalökologischen Theorien erklärt Braithwaite anhand von zwei Formen des Shaming die unterschiedlichen Wirkungsweisen von Strafen. Unter Shaming versteht Braithwaite „all social processes of expressing disapproval which have the intention or effect of invoking remorse in the person being shamed and/or condemnation by others who become aware of the shaming“ (Braithwaite, 1989: 100).
Laut Braithwaite gibt es zwei verschiedene Formen des Shaming:
The crucial distinction is between shaming that is reintegrative and shaming that is disintegrative (stigmatization). Reintegrative shaming means that expressions of community disapproval, which may range from mild rebuke to degradation ceremonies, are followed by gestures of reacceptance into the community of law-abiding citizens. These gestures of reacceptance will vary from a simple smile expressing forgiveness and love to quite formal cere-monies to decertify the offender as deviant. Disintegrative shaming (stigmatization), in contrast, divides the community by creating a class of outcasts.
(Braithwaite, 1989: 55)
Desintegrative Shaming
Beim desintegrativen Shaming liegt der Fokus nicht nur auf der konkreten Tat, die verübt wurde, sondern auf der Person als Ganzes. Der/die Beschämte wird in seiner/ihrer ganzen Person herabgewürdigt. Die damit einhergehende Stigmatisierung wirkt sich auf die sozialen Interaktionen des/der Beschämten aus. So wird zum Beispiel der Zugang zum Arbeitsmarkt verweigert und andere Maßnahmen werden getroffen, die zur gesellschaftlichen Marginalisierung beitragen. Als Konsequenz sind dem/der Beschämten nun die Möglichkeiten verwehrt, an der Mainstream-Kultur teilzuhaben. Dies führt letztendlich zu der Bildung von subkulturellen Strukturen, in denen sich die so Ausgeschlossenen zusammentun.
Integrative Shaming
Die negativen Folgen, die Bestrafung haben, sind indes nicht unabwendbar. Beim reintegrativen Shaming wird der Akt der Beschämung mit einem Angebot der Wiederaufnahme in die Gemeinschaft kombiniert. Braithwaite geht davon aus, dass diese reintegriende Beschämung insbesondere dann erfolgversprechend sei, wenn Menschen aus dem sozialen Umfeld des Täters an dieser beteiligt sind.
It would seem that sanctions imposed by relatives, friends or a personally relevant collectivity have more effect on criminal behavior than sanctions imposed by a remote legal authority.
(Braithwaite, 1989: 69)
Wie und warum wirkt Shaming?
Braithwaite (1989: 81 ff.) nennt folgende Punkte, die die Wirkungsweise von Shaming erklären:
- Abschreckung (Deterrence) wirke stärker aus Furcht vor der Beschämung, als aus Furcht vor der Bestrafung.
- Scham fungiere auch als Instrument der negativen Generalprävention, da andere Gesellschaftsmitglieder, welche die Beschämung eines Täters erleben, von diesem Erlebnis abgeschreckt würden, selbst straffällig zu werden.
- Sowohl die spezial- als auch generalpräventive Wirkung einer Beschämung habe die stärkste Wirkung bei sozial integrierten Gesellschaftsmitgliedern.
- Eine stigmatisierende Form der Bestrafung schwäche hingegen die soziale Kontrolle und stärke den Zusammenhalt der stigmatisierten Straffälligen.
- Shame sei ein sozialer Prozess, der die Schädlichkeit bestimmter Handlungen verdeutlicht. Die Wirkung einer Beschämung sei hierbei effektiver als solche, die von abschreckenden Strafen ausgeht.
- Reintegrative Shaming habe einen größeren positiven Effekt als eine stigmatisierende Beschämung. Die Buße des Täters und die Vergebung der Gemeinschaft würden das Strafrecht bestärken durch die Symbolkraft einer gemeindeweiten Bewusstseinsbildung.
- Scham sei eine partizipative Form der sozialen Kontrolle bei der die Bürger – im Gegensatz zu einer formalen Sanktionierung – am Geschehen beteiligt seien und sowohl zu Instrumente als auch zu Zielen sozialer Kontrolle würden.
- Der kulturelle Prozess der Bildung von Scham und Reue führe zu Gewissensbissen. Dieses schlechte Gewissen stelle die effektivste Strafe für die Begehung von Straftaten dar.
- Schamgefühle hätten eine doppelte Funktion: sie seien sowohl der der soziale Prozess, der das Gewissen stärkt, als auch die wichtigste Stütze, die genutzt werden muss, wenn das Gewissen nicht zur Konformität beiträgt. Auch die Angst vor einer formalen Sanktionierung sei eine Hemmschwelle, jedoch nicht so effektiv.
- Eine wichtige Funktion kommt dem Klatsch und Tratsch über Täter und ihre Taten zu. Klatsch und Tratsch fördere die Bildung eines Gewissens und einer Moral auch außerhalb der sozialen Kreise, in denen sich die Täter bewegen.
- Eine weitere wichtige Funktion nimmt die öffentlich Beschämung ein, die – wenn Kinder und Heranwachsende dem Einflussbereich von Familie und Schule entrinnen – die private Beschämung ablöst. Es obläge daher den Gerichten, bei Straftaten, die vorrangig von Erwachsenen begangen werden (wie z.B. Umweltdelikte) für eine öffentliche Beschämung der Täter zu sorgen.
- Eine öffentliche Beschämung verallgemeinere vertraute Prinzipien in unbekannte oder neue Zusammenhänge und integriere neue Kategorien von Fehlverhalten in bestehende moralische Konzepte. Public Shaming könne so besipielsweise den Verlust eines Menschenlebens in ein Kriegsverbrechen oder Massaker „verwandeln“.
- Kulturen mit starker Betonung auf eine reintegrative Beschämung schafften einen reibungsloseren Übergang zwischen Sozialisationspraktiken in der Familie und Sozialisation in der Gesellschaft im Allgemeinen. Innerhalb der Familie verlagere sich die soziale Kontrolle mit zunehmendem Alter des Kindes von der externen zur internen Kontrolle. In straforientierten Kulturen sei dieser Prozess ins Gegenteil verkehrt. Die interne Kontrolle sei jedoch die effektivere Form der Kriminalitätskontrolle – weshalb Familien auch die effektiveren Kontrollagenten seien als Polizeikräfte.
- Eine Beschämung die übermäßig konfrontativ ist, erschwere die gesellschaftliche Wiedereingliederung der Beschämten. Auch ohne Ziele einer direkten Beschämung zu werden, sei es Gesellschaftsmitgliedern bewusst, wenn Sie Gegenstand von Klatsch und Tratsch werden. Hier bedürfe es besonderer Gesten der Akzeptanz um eine Wiedereingliederung zu befördern.
- Die Wirksamkeit von Schamgefühlen würde oft dadurch erhöht, dass eine Beschämung nicht nur gegen den einzelnen Täter, sondern auch gegen seine Familie oder – in Fällen von Wirtschaftskriminalität – gegen das Unternehmen gerichtet sei. Das Individuum sei innerhalb dieser kollektiven Bezüge sowohl der Beschämung durch die Gesellschaft, als auch einer stärken informellen Kontrolle durch die Familie/ das Unternehmen ausgesetzt. Eine ablehnende und trotzige Haltung des Individuums gegenüber seinen Kritikern und damit eine stärkere Übernahme der Rolle des Devianten verschlimmere auch die Folgen der Beschämung für die Familie bzw. das Unternehmen, weshalb diese/s das Individuum in der Akzeptanz der ihm teilwerdenden Beschämung bestärken würden.
In einem komplexen Schaubild fasst Braithwaite die Wirkungsweise von Reintegrative Shaming wie auch Stigmatzation zusammen (zum Vergrößern Bild anklicken). Hier wird der hybride CHarakter der Theorie deutlich, die sich bei anderen Kriminalitätstheorien bedient. In der linken, oberen Ecke findet sich der Bezug zu Kontrolltheorien. Rechts daneben wird der Bezug zu Theorien der sozialen Desorganisation verdeutlicht. In der rechten, unteren Bildhälfte skizziert Braithwaite die Folgen einer Kriminalisierung aus er Perspektive von Labelling-Ansätzen (mit Verweis auf Anomie- und Subkulturtheorien). In der linken, unteren Bildhälfte legt Braithwaite im Gegensatz dazu die Folgen (oder eben: folgenlosen Konsequenzen) einer re-integrierenden Beschämung dar.
Kriminalpolitische Implikationen
Braithwaites Theorie kann als Antwort auf eine just deserts Philosophie verstanden werden, also eine Kriminalpolitik, die sich vornehmlich am vergeltenden Charakter von Strafe und an der negativen Generalprävention orientiert. Mit Beginn der 1970er Jahre ist in den USA (aber auch in anderen Ländern) ein Wandel in der Strafpolitik zu beachten. Ein rehabilitatives Ideal bei dem die Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft oberste Priorität hat, tritt zunehmend in den Hintergrund. An seine Stelle tritt das just desert Paradigma („Jeder bekommt, was er verdient.“), das als eine Art der Vergeltung verstanden werden kann. Nach dieser Doktrin soll die Strafe der Schwere des Verbrechens – gemessen am zugefügten Schaden und Schwere der Schuld des Täters – angepasst und standardisiert werden. Sogenannte „sentencing commissions“ haben für viele US-amerikanische Bundesstaaten Leitfäden für Strafrichter erarbeitet, deren Ermessensspielraum bei der Strafzumessung stark eingeschränkt wurde (vgl. hierzu: Sebba, 2014).
Braithwaites Restorative-Justice-Ansatz ist als eine deutliche Kritik dieser Entwicklung zu verstehen und als sein Entwurf einer Restorative Justice.
Literatur
- Braithwaite, John (1989). Crime, Shame and Reintegration. Cambridge u.a.: Cambridge University Press. [Volltext]
- Sebba, Leslie (2014). Penal Paradigms: Past and Present. In: G. Bruinsma & D. Weisburd (Hrsg.) Encyclopedia of Criminology and Criminal Justice. New York: Springer Reference, S. 3481-3490.
Weiterführende Informationen
- Christie, Nils (1977). Conflicts as Property. British Journal of Criminology 17 (1), 1-15.
Video/ Podcast
Eine Zusammenstellung der verschiedenen Theorien auf die sich Restorative Justice beruft, findet sich hier: http://www.unafei.or.jp/english/pdf/RS_No63/No63_10VE_Braithwaite2.pdf