Der Begriff Norm leitet sich von dem lateinischen Wort norma ab, das soviel wie Richtschnur, rechter Winkel oder auch Vorschrift heißt. Übertragen auf soziale Normen lässt sich der Begriff als Verhaltensrichtschnur oder -standard definieren. Der Begriff der sozialen Norm ist ein Grundbegriff der Soziologie und es existieren zahlreiche Definitionen, die nicht immer widerspruchsfrei zueinander stehen. An dieser Stelle sollen drei Definitionen benannt und erläutert werden. Demnach sind Normen
[1] eine beobachtbare Gleichförmigkeit des Verhaltens;
[2] eine soziale Bewertung von Verhalten;
[3] eine verbindliche Forderung eines bestimmten Verhaltens.
(Klimke et al., S. 538)
Die erste Definition verweist auf einen Normenbegriff der sich an der statistischen Norm bzw. der Abweichung von dieser orientiert. Als normativ wird demnach angesehen, was statistisch dem Regelfall entspricht. Demnach besteht der Maßstab für normatives Verhalten in einer Gleichförmigkeit des Verhaltens. Mit dieser Definition wird jedoch keine Aussage darüber getroffen, welche Konsequenzen ein von der Mehrheit abweichendes Verhalten hat.
Beispiel 1
Eine Beispiel für weit verbreitete Normen sind die sog. DIN-Normen. Dabei handelt es sich um Standardisierungen, die vom Deutsche Institut für Normung (DIN) erarbeitet wurden. Ein DIN-A4 Blatt muss gemäß DIN-Norm DIN 476 eine Abmessung von genau 210 mm x 297 mm aufweisen. Ein Bogen Papier mit abweichenden Maßen entspricht um Umkehrschluss nicht der Norm.
Die zweite Definition ist weitreichender. Hiernach ergibt sich die Norm erst nach der Bewertung eines (beobachtbaren) Verhaltens. Eine Bewertung kann dabei grundsätzlich in Form einer positiven oder negativen Sanktionen erfolgen. Eine positive Sanktion kann in Form einer Belobigung erfolgen, eine negative Sanktionen erfolgt in der Regel durch eine Missachtung, Ächtung oder Bestrafung. Eine weitere Differenzierung ließe sich vornehmen, indem zwischen sozialen Instanzen oder Akteuren unterschieden wird, die eine Bewertung des Verhaltens vornehmen.
Ein Beispiel für eine Norm, die mit einer sozialen Bewertung des Verhaltens einhergeht, ist der Konsum von Alkohol. Ein übermäßiger Verzehr von Alkohol ist in unserer Gesellschaft grundsätzlich verpönt. Eine vollkommene Abstinenz wäre grundsätzlich akzeptabel, wird in der Praxis jedoch vermutlich einer Erklärung bedürfen, weshalb man nicht an Silvester mit einem Glas Sekt auf das neue Jahr anstoßen möchte, zum Weihnachtsessen kein Glas Wein trinken möchte usw. Die Trinkmenge, Art des alkoholischen Getränks und der Trinkzeitpunkt sind sozial reglementiert und stehen zudem in einer Abhängigkeit der sozialen Position des Trinkenden. So wäre es beispielsweise gesellschaftlich akzeptiert, wenn Freundinnen vormittags während des Einkaufsbummels – in einer vornehmen Boutique ein Glas Prosecco tränken. Würde eine der Freundinnen, das Glas Prosecco ablehnen und stattdessen einen Schluck Schnaps aus einer mitgebrachten Flasche trinken, würden die Anwesenden vermutlich die Nase rümpfen. Genauso verpönt wäre es, wenn dieselbe Gruppe von Freundinnen ihr Trinkverhalten bei einem anschließenden Besuch einer H&M-Filiale fortsetzten.
Während des Karnevals, auf Volksfesten und im Fußballstadium ist der öffentliche Alkoholkonsum gesellschaftlich akzeptiert. Außerhalb solcher Veranstaltungen ist jedoch einerseits ein öffentlicher Konsum und andererseits ein Konsum, der während üblicher Arbeits- und Geschäftszeiten stattfindet, verpönt.Ähnliche Beispiele ließen sich auch für den Tabakkonsum finden: ein wachsendes Gesundheitsbewusstsein hat für Angehörige der Mittelschicht einen Konsum von Tabakprodukten nahezu unmöglich gemacht. Sie riskieren sozial verurteilt zu werden – insbesondere, wenn der Konsum in geschlossenen Räumen stattfindet. Dieser ist sowohl zu einem Privileg der Unterschicht (hier besteht weniger die Erwartungshaltung, dass die Lebensführung sich nach medizinischen Postulaten richtet) als auch der Oberschicht geworden. Der Genuss einer Zigarre in der hotel- oder gar hauseigenen Zigarren-Lounge oder am lederbezogenen Schreibtisch steht hinsichtlich der sozialen Verhaltenserwartung in einem deutliche Widerspruch zum Konsum einer Zigarette am Esstisch in der Zweizimmerwohnung.
Die dritte Definition verweist schließlich darauf, dass nicht alle Normen dieselbe Verbindlichkeit haben. Die Unterschiede in der Verbindlichkeit einer Norm werden deutlich, wenn man sich die Unterschiede zwischen Werten, Bräuchen, Sitten und Gesetzen vor Augen führt.
Werte | Bräuche | Sitten | Gesetze | |
---|---|---|---|---|
Verbindlichkeit | universelle Geltung | Kann-Normen | Soll-Normen | Muss-Normen |
Beispiele | Ehrlichkeit, Pünktlichkeit | Weihnachtsbaum, Silvesterfeuerwerk | Handschlag, Tischsitten | Grundgesetz, StGB, BGB |
Werte stellen moralische, ethische Handlungsgrundsätze dar. Sie besitzen universellen Geltungsanspruch innerhalb einer Gesellschaft sind jedoch oft wenig spezifisch. Sie bieten aber eine Art moralischen Überbau für die Ausgestaltung von Bräuchen, Sitten und Gesetzen.
Im Gegensatz zu Werten sind Bräuche spezifische Verhaltensregeln. Sie beziehen sich auf ein verbreitetes, unhinterfragtes gleichförmiges Verhalten. Ein Brauchtum hat häufig nur eine regionale Geltung (z.B. Karneval). Die Nicht-Einhaltung eines Brauches zieht in der Regel keine negativen Konsequenzen nach sich. Es handelt sich hierbei daher um eine sog. Kann-Norm.
Deutlich verbindlicher sind hier Sitten, die aus lang praktizierten Bräuchen hervorgehen. Sitten sind universeller in Ihrer Gültigkeit, wenngleich auch hier kulturelle und gesellschaftliche Unterschiede existieren (z.B. Tischsitten). Der Verstoß gegen Sitten wird in der Regel durch informelle Instanzen der Sozialkontrolle geahndet. Man spricht daher von Soll-Normen.
Gesetze sind im Unterschied zu Werten, Bräuchen und Sitten kodifiziert. Sie besetzen universelle Gültigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder und die Nicht-Einhaltung von Gesetzen führt eine Sanktionierung des Verhaltens durch formelle Instanzen der Sozialkontrolle nach sich. Daher spricht man hier von Muss-Normen.
Im nachfolgenden Schaubild werden die genannten Differenzierungen noch einmal deutlich.
Internalisierung und Reichweite von Normen
Bei der unhinterfragten Übernahme von Normen spricht man auch von einer Internalisierung von Normen. Die Anwendung der Norm wird nicht hinterfragt und rationalisiert, sie ist in „Fleisch und Blut“ übergegangen. Zur Verdeutlichung können wir uns folgendes Beispiel vor Augen führen: An einer zweispurigen Straße gibt es eine Fußgängerampel, bei der über einen Knopf (oder im Behördendeutsch: Anforderungstaster) ein grünes Signal angefordert werden muss. Ein Fußgänger will um 3:00 Uhr nachts die Straße überqueren. Weit und breit ist kein anderer Verkehrsteilnehmer in Sicht. Dennoch drückt der Fußgänger auf den Taster und wartet bis die Fußgängerampel auf grün umspringt, ehe er die Straße überquert. Das Verhalten ist rational kaum zu erklären – außer durch die Internalisierung der Norm nicht bei einem roten Ampelsignal eine Straße zu überqueren.
Ein berühmter soziologischer Versuch, um die Internalisierung von Normen sichtbar zu machen, stammt von Harold Garfinkel:
Luka Rajšić, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
- Zu Hause wie ein Gast auftreten (z. B. Eltern förmlich ansprechen oder um Erlaubnis bitten)
- In Gesprächen scheinbar Selbstverständliches hinterfragen („Was meinst du mit ‚Mir geht’s gut‘?“)
- Sich im Aufzug den anderen Mitfahrenden frontal zuwenden
Diese Experimente lösten regelmäßig Irritation, Unverständnis oder Ablehnung aus – und machten damit sichtbar, wie sehr soziale Ordnung auf unausgesprochenen Übereinkünften und impliziten Normen beruht. Garfinkels Ansatz verdeutlicht, dass Normen nicht nur formal existieren, sondern im alltäglichen Handeln ständig reproduziert und stabilisiert werden.
Nicht alle Normen sind im gleichen Maße wirksam. Viele Menschen halten sich mutmaßlich an das Inzestverbot. Die Norm erfährt eine allgemeine breite Zustimmung und die Reichweite ist somit hoch. Andere Normen hingegen finden jedoch weniger Beachtung. Alle Autofahrer wissen beispielsweise um die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 km/h in geschlossenen Ortschaften. Dennoch halten sich die wenigsten strikt an dieses Tempolimit, sondern fahren stets 10-15 km/h schneller. Die Reichweite der Norm ist somit gering.
Soziologische Schlüsselwerke zu Normen und Werten
Soziale Normen und Werte sind zentrale Themen zahlreicher soziologischer Theorien. Im Folgenden finden sich exemplarische Bezüge zu ausgewählten Schlüsselwerken der Soziologie, die unterschiedliche theoretische Perspektiven auf diese Begriffe bieten:
- Émile Durkheim – Die Regeln der soziologischen Methode (1895):
Durkheim versteht soziale Normen als soziale Tatsachen, die außerhalb des Individuums existieren und auf dieses zwanghaft einwirken. Sie sind kollektiv, stabil und üben sozialen Druck aus. Abweichungen von Normen (z. B. Kriminalität) interpretiert er als funktional für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, da sie die Gültigkeit der Normen bestätigen. - Max Weber – Wirtschaft und Gesellschaft (1922):
Weber betrachtet Normen im Rahmen seiner Soziologie des sozialen Handelns. Normen strukturieren das Handeln, sind aber an subjektive Sinnzuschreibungen gebunden. Besonders bedeutsam ist sein Konzept der Legitimität von Herrschaft, die sich auf normative Ordnungen (z. B. Gesetze, Traditionen) stützt. - Herbert Mead – Geist, Identität und Gesellschaft (1934):
Mead zeigt, wie Normen im Rahmen der Sozialisation über symbolische Interaktionen internalisiert werden. Im Prozess der Rollenübernahme (z. B. durch das „generalized other“) erlernen Individuen gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten. Normen werden hier nicht als äußere Zwänge, sondern als Teil der Ich-Entwicklung verstanden. - Erving Goffman – Wir alle spielen Theater (1956):
Goffman analysiert, wie Normen im sozialen Alltag durch performative Interaktionen eingehalten und symbolisch inszeniert werden. Verstöße gegen diese Interaktionsnormen (z. B. peinliches Verhalten) gefährden die „Fassade“ der Person und werden oft informell sanktioniert. - Howard S. Becker – Outsiders (1963):
Becker betont in seiner Labelling-Theorie, dass Normen nicht objektiv gegeben sind, sondern sozial konstruiert. Abweichung entsteht demnach nicht allein durch das Verhalten, sondern durch die Zuschreibung als „abweichend“. Normen dienen der sozialen Kontrolle und der Grenzziehung zwischen „Normalität“ und „Abweichung“. - Michel Foucault – Überwachen und Strafen (1975):
Foucault beschreibt, wie moderne Gesellschaften über Disziplinartechniken und institutionalisierte Kontrolle Normen durchsetzen. Besonders eindrucksvoll ist sein Konzept der Normalisierung: Abweichungen werden nicht nur bestraft, sondern durch permanente Überwachung und Selbstdisziplinierung verhindert.
Die folgende Übersicht zeigt, wie zentrale soziologische Theorien den Begriff der sozialen Norm konzeptualisieren und welche Rolle sie Normen im gesellschaftlichen Gefüge zuschreiben:
Theoretiker:in | Theorieansatz | Normenverständnis |
---|---|---|
Émile Durkheim | Strukturfunktionalismus | Normen sichern den sozialen Zusammenhalt; sie spiegeln das kollektive Gewissen wider. |
Talcott Parsons | Systemtheorie | Normen sind funktionale Bestandteile gesellschaftlicher Subsysteme und sichern deren Stabilität. |
Herbert Mead | Symbolischer Interaktionismus | Normen entstehen durch soziale Interaktion und die Übernahme von Rollen. |
Erving Goffman | Dramaturgische Soziologie | Normen werden im sozialen Miteinander inszeniert und aufrechterhalten. |
Michel Foucault | Poststrukturalismus / Gouvernementalität | Normen sind Teil von Macht- und Disziplinierungspraktiken in modernen Gesellschaften. |
Pierre Bourdieu | Praxeologie / Theorie des Habitus | Normen strukturieren das Habitusfeld und reproduzieren soziale Ungleichheit. |
Literatur und weiterführende Informationen
- Klimke, D.; Lautmann, R.; Stäheli, U.; Weischer, C.; Wienold, H. (Hrsg.) (2020). Lexikon zur Soziologie (6. Aufl.). Wiesbaden: Springer.
- Peuckert R. (2016) Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle. In: Korte H., Schäfers B. (Hrsg.) Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. Einführungskurs Soziologie. Springer VS: Wiesbaden.