Sozialisation bezeichnet den Prozess, durch den Individuen zu handlungsfähigen Mitgliedern einer Gesellschaft werden. Sie lernen dabei nicht nur soziale Regeln und Normen kennen, sondern entwickeln auch Haltungen, Werte, Fähigkeiten und Identitäten, die für das Zusammenleben in der Gesellschaft notwendig sind. Sozialisation ist ein lebenslanger Prozess – sie beginnt mit der Geburt und endet nicht mit dem Erwachsenwerden.
Definition
Was ist Sozialisation?
Sozialisation ist der Prozess, durch den Menschen gesellschaftlich handlungsfähig werden. Sie lernen, sich in sozialen Rollen zu bewegen, übernehmen kulturelle Werte und orientieren sich an sozialen Normen. Sozialisation ist damit mehr als Erziehung: Sie umfasst alle bewussten und unbewussten Lernprozesse, durch die Individuen Mitglieder der Gesellschaft werden.
Primäre, sekundäre und tertiäre Sozialisation
Sozialisation verläuft in Phasen, die sich durch unterschiedliche Sozialisationsinstanzen und Lernprozesse auszeichnen:
-
- Primäre Sozialisation erfolgt in der frühen Kindheit, meist im familiären Umfeld. Hier erlernen Kinder grundlegende soziale Fähigkeiten wie Sprache, Emotionen oder grundlegendes Vertrauen.
- Sekundäre Sozialisation setzt in der Jugend ein und findet in Institutionen wie Schule, Ausbildungsstätten oder Peergroups statt. Hier werden gesellschaftsspezifische Rollen und Werte vermittelt.
- Tertiäre Sozialisation beschreibt Lernprozesse im Erwachsenenalter – insbesondere im beruflichen Kontext.
Ein Beispiel für tertiäre Sozialisation ist die berufliche Prägung von Polizeibeamt:innen: An Polizeifachhochschulen beginnt der Unterricht oft schon um 7:15 Uhr – eine bewusste Abweichung von anderen Hochschulen. Damit werden nicht nur Inhalte vermittelt, sondern auch Gewöhnungen an Disziplin, Pünktlichkeit und Hierarchie vorweggenommen, die im Polizeialltag essenziell sind.
Instanzen der Sozialisation
Sozialisationsinstanzen sind Einrichtungen oder Gruppen, die auf die Entwicklung von Individuen einwirken:
- Familie
- Schule
- Freundesgruppen (Peers)
- Medien
- Arbeitswelt
- Staat und Recht
Diese Instanzen wirken nicht isoliert, sondern ergänzen und überlagern sich. Die Familie vermittelt etwa emotionale Grundlagen, die Schule formt den Leistungsbezug, Peers beeinflussen Selbstbild und Zugehörigkeit, Medien transportieren Werte und Weltbilder.
Phase | Merkmale | Instanzen |
---|---|---|
Primäre Sozialisation | Frühkindliche Phase, grundlegende Persönlichkeitsprägung | Familie, enge Bezugspersonen |
Sekundäre Sozialisation | Spätere Kindheit, Jugend, Erlernen gesellschaftlicher Rollen | Schule, Peergroups, Medien |
Tertiäre Sozialisation | Erwachsenenalter, Anpassung an neue Lebenslagen (Beruf, Elternschaft etc.) | Arbeitswelt, Partnerschaft, Institutionen |
Unterscheidung der Sozialisationsphasen nach Lebensabschnitten und sozialen Instanzen
Sozialisation und soziale Rollen
Ein zentrales Ziel der Sozialisation ist das Erlernen sozialer Rollen. Diese beschreiben gesellschaftlich erwartete Verhaltensweisen in bestimmten sozialen Positionen – etwa als Schüler:in, Polizist:in oder Elternteil. Der Soziologe Ralf Dahrendorf entwickelte mit dem Konzept des Homo Sociologicus ein prägendes Modell des Rollenträgers. Er definiert soziale Rollen als:
Homo Sociologicus (nach Dahrendorf)
Der Mensch ist kein autonomes Wesen, das sich frei entfaltet, sondern ein „Rollenträger“, der gesellschaftlich erwartete Verhaltensweisen erfüllt. Jede soziale Position ist mit bestimmten Normen verknüpft, deren Einhaltung soziale Anerkennung sichert. Der Mensch wird über Sozialisation in diese Rollen „hineinerzogen“. Zugleich eröffnet sich Spielraum für Abweichung und Rollendistanz.
Rollenkonflikte
Da Menschen in unterschiedlichen sozialen Kontexten agieren, kann es zu Rollenkonflikten kommen:
- Intra-Rollenkonflikt: Widersprüche innerhalb einer Rolle (z. B. Lehrer:in soll verständnisvoll und zugleich autoritativ sein).
- Inter-Rollenkonflikt: Konflikte zwischen verschiedenen Rollen (z. B. Elternrolle vs. Berufsrolle).
Die Fähigkeit, mit solchen Konflikten umzugehen, wird ebenfalls im Sozialisationsprozess erworben – etwa durch Vorbilder, Reflexion oder institutionelle Rahmungen.
Dahrendorfs Verständnis sozialer Rollen
(1) Soziale Rollen sind … quasiobjektive, vom Einzelnen unabhängige Komplexe von Verhaltensvorschriften.
(2) Ihr besonderer Inhalt wird nicht von irgendeinem Einzelnen, sondern von der Gesellschaft bestimmt und verändert.
(3) Die in Rollen gebündelten Verhaltenserwartungen begegnen dem Einzelnen mit einer gewissen Verbindlichkeit des Anspruches, so dass er sich ihnen nicht ohne Schaden entziehen kann.
– Ralf Dahrendorf, 1965, S. 27 f.
Sozialisationsinstanzen
Sozialisation findet nie im luftleeren Raum statt. Sie wird durch bestimmte Instanzen vermittelt:
- Familie: wichtigster Einflussfaktor in der frühen Kindheit, emotionale Bindung, Wertevermittlung
- Schule: formale Normen, Leistungsanforderungen, Sozialverhalten
- Peer-Groups: Gleichaltrigengruppen, Entwicklung von Autonomie und Identität
- Medien: Rollenbilder, Konsumverhalten, politische Einstellungen
- Beruf: Anpassung an institutionelle Erwartungen, Erwerb professioneller Identität
Sozialisation im Wandel
In modernen Gesellschaften ist Sozialisation nicht mehr linear, sondern fragmentiert und individualisiert. Neue Medien, Pluralisierung von Lebensstilen und globalisierte Kommunikationsräume verändern die Art, wie Menschen sozial lernen. Begriffe wie Enttraditionalisierung, Multiple Identitäten oder Patchwork-Biografien beschreiben diese Veränderungen.
Bedeutung für die Soziologie
Die Sozialisationsforschung ist zentral für das Verständnis von sozialem Handeln, sozialen Rollen, Normen, Status und gesellschaftlicher Struktur. Sie verbindet mikro-, meso- und makrosoziologische Perspektiven und ist anschlussfähig an psychologische, pädagogische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen.
Theoretische Perspektiven
Verschiedene soziologische Theorien haben sich mit Sozialisation befasst. Bedeutende Ansätze sind:
- Ralf Dahrendorf: In Homo Sociologicus (1977) beschreibt er den Menschen als Träger sozialer Rollen, die mit bestimmten Erwartungen verbunden sind. Diese Rollenstruktur wird in der Sozialisation verinnerlicht und strukturiert das Handeln.
- George Herbert Mead: Entwickelte ein interaktionistisches Modell des Selbst, das sich durch die Übernahme der Perspektive anderer („role taking“) ausbildet.
- Émile Durkheim: Sah Sozialisation als kollektive Einwirkung der Gesellschaft auf das Individuum – zentral für soziale Kohäsion.
- Pierre Bourdieu: Mit seinem Konzept des Habitus zeigt er, wie Sozialisation klassenspezifisch wirkt und soziale Ungleichheit reproduziert.
Besondere Sozialisationsformen
Sozialisation verläuft nicht für alle Menschen gleich. Abweichende Lebensumstände, soziale Gruppen oder gesellschaftliche Brüche führen zu alternativen oder ergänzenden Sozialisationsprozessen. Im Folgenden werden ausgewählte Sonderformen vorgestellt.
Sozialisationsform | Kernmerkmal | Instanzen / Orte | Besondere Relevanz |
---|---|---|---|
Resozialisation | Verhaltensänderung & Reintegration | Justiz, Therapie, Soziale Arbeit | Straffälligkeit, Sucht, Marginalisierung |
Geschlechtsspezifisch | Verinnerlichung von Geschlechterrollen | Familie, Schule, Medien | Gender, Ungleichheit, Performativität |
Politisch | Prägung politischer Orientierung | Familie, Schule, Medien, Institutionen | Demokratieverständnis, Autoritätsbilder |
Institutionell | Rollenerwartung & Deutungsmuster | Polizei, Justiz, Kirche, Pflege | Cop Culture, Hierarchie, Habitus |
Medial | Identität durch digitale Plattformen | Soziale Medien, Influencer, Algorithmen | Selbstdarstellung, Normdruck, Widerstand |
Subkulturell | Alternative Wert- und Normsysteme | Peergroups, Straßenszenen, Jugendkulturen | Statuskompensation, Zugehörigkeit |
Kulturspezifisch | Sozialisation im interkulturellen Kontext | Familie, Schule, Religion, Migration | Normkonflikte, Mehrfachsozialisation |
Deviant-milieuspezifisch | Sozialisation in normabweichenden Gruppen | Clans, Extremismus, Banden | Loyalität, Gruppenzwang, Binnenmoral |
Resozialisation
Resozialisation bezeichnet gezielte Versuche, bestehende Denk- und Verhaltensmuster zu verändern – etwa in Justizvollzugsanstalten, Therapieeinrichtungen oder durch pädagogische Maßnahmen. Ziel ist es, Individuen (wieder) in die Gesellschaft zu integrieren. In der Kriminologie spielt die Resozialisierung von Straftätern eine zentrale Rolle.
Resozialisation findet nicht nur im Strafvollzug statt, sondern auch in Bereichen wie Suchthilfe, Deradikalisierung oder der Wiedereingliederung von Obdachlosen. Dabei wird deutlich: Eine erfolgreiche Resozialisierung setzt nicht nur auf individuelle Verhaltensänderung, sondern erfordert auch strukturelle Unterstützung und gesellschaftliche Akzeptanz.
Geschlechtsspezifische Sozialisation
Geschlechtsspezifische Sozialisation bezeichnet jene Prozesse, durch die Individuen geschlechtsbezogene Verhaltensweisen, Rollenbilder und gesellschaftliche Erwartungen verinnerlichen. Bereits in der frühen Kindheit werden – häufig implizit und unbewusst – unterschiedliche Erwartungen an Mädchen und Jungen herangetragen: etwa in Bezug auf Kleidung, Spielverhalten, emotionale Ausdrucksformen oder den Umgang mit Autorität.
Diese Muster werden durch Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule, Medien und Peergroups weiter verstärkt. So wird von Mädchen häufig Empathie, Fürsorglichkeit und Anpassungsfähigkeit erwartet, während Jungen eher auf Durchsetzungsvermögen, Konkurrenzdenken und Risikobereitschaft hin sozialisiert werden. Auch in der beruflichen Sozialisation wirken diese Zuschreibungen fort – etwa durch die ungleiche Bewertung von „weiblich“ konnotierten Soft Skills und „männlich“ gelesener Führungskompetenz.
Kritisch betrachtet trägt geschlechtsspezifische Sozialisation zur Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit bei. Sie stabilisiert traditionelle Rollenverteilungen und beeinflusst nicht nur individuelle Lebensverläufe, sondern auch strukturelle Machtverhältnisse. In Anlehnung an das Konzept des „Doing Gender“ (West & Zimmerman) oder die Theorie der Performativität (Judith Butler) wird deutlich, dass Geschlecht nicht nur biologisch, sondern auch sozial hergestellt wird – in alltäglichen Interaktionen, durch Sprache, Kleidung und soziale Normen.
Die neuere Sozialisationsforschung bezieht daher auch trans-, inter- und nicht-binäre Perspektiven ein und hinterfragt die vermeintliche Selbstverständlichkeit zweigeschlechtlicher Ordnungssysteme. Statt starrer Zuschreibungen rückt zunehmend die Vielfalt geschlechtlicher Identitätsentwürfe in den Fokus.
Politische Sozialisation
Politische Sozialisation meint die Vermittlung politischer Überzeugungen, Werte und Verhaltensweisen – sei es durch Familie, Schule, Medien, Peergroups oder durch das Erleben politischer Institutionen. Sie prägt nicht nur das individuelle politische Bewusstsein, sondern auch das Vertrauen in Institutionen, das Verständnis von Demokratie und das Verhältnis zu Autorität und Staat.
Politische Sozialisation ist ein lebenslanger Prozess, in dem sowohl explizite Inhalte (z. B. im Politikunterricht) als auch implizite Erfahrungen (z. B. Umgang mit Regeln und Sanktionen) eine Rolle spielen. Besonders prägend sind historische Zäsuren, autoritäre oder demokratische Erziehungskontexte, politische Umbrüche und kollektive Erfahrungen.
Ein besonders eindrückliches Beispiel ist die Generation von Polizisten, die während des Nationalsozialismus sozialisiert wurden. Viele von ihnen blieben auch nach 1945 im Polizeidienst der Bundesrepublik Deutschland tätig. Ihre autoritäre Prägung wirkte langfristig auf Strukturen, Mentalitäten und Handlungsmuster innerhalb der Nachkriegsinstitutionen – etwa im Verständnis von Ordnung, Gehorsam und Staatsautorität. Die fehlende personelle und ideologische Entnazifizierung der Polizei führte dazu, dass autoritäre Denkmuster über Jahrzehnte hinweg weitertrugen – auch durch die politische Sozialisation jüngerer Generationen innerhalb dieser Institutionen.
Doch auch in demokratischen Gesellschaften ist politische Sozialisation kein neutraler Vorgang. Je nach Milieu, Bildungsstand, Mediennutzung und Gruppenzugehörigkeit entstehen unterschiedliche politische Orientierungen und Handlungsmuster – von aktiver Partizipation bis zur Politikverdrossenheit. Politische Sozialisation kann zudem eine zentrale Rolle bei der Herausbildung extremistischer Einstellungen oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit spielen – etwa durch Radikalisierungsprozesse im familiären oder digitalen Raum.
In der Soziologie wird politische Sozialisation deshalb nicht nur als individueller Lernprozess verstanden, sondern auch als Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse und normativer Leitbilder. Sie prägt nicht nur Einstellungen, sondern auch das Bild von Zugehörigkeit, Gerechtigkeit und sozialer Ordnung.
Institutionelle Sozialisation
Institutionen wie Polizei, Justiz, Bundeswehr, Pflege oder Kirche prägen ihre Mitglieder durch klar definierte Rollenerwartungen, Rituale, Machtstrukturen und Werteordnungen. Diese Formen der Sozialisation reichen über bloße Regelvermittlung hinaus: Sie strukturieren Wahrnehmungen, Deutungsmuster und das berufliche Selbstverständnis.
In der Polizei etwa wirken frühzeitig Rituale wie Uniformierung, Hierarchietreue und ein spezifischer Umgang mit Gefahrensituationen. Diese institutionelle Prägung fördert einerseits Teamgeist und professionelle Handlungsfähigkeit – kann aber auch zur Ausbildung von informellen Codes, Gruppenloyalität und Abschottung gegenüber Außenstehenden führen.
Institutionelle Sozialisation ist daher ambivalent: Sie sichert Ordnung und Funktionalität, birgt aber auch das Risiko autoritärer oder habitueller Verfestigungen.
Berufliche Sozialisation im Polizeikontext
Die berufliche Sozialisation beschreibt jenen Prozess, in dem Individuen berufsspezifische Normen, Werte und Handlungsorientierungen verinnerlichen. Am Beispiel der Polizei zeigt sich, dass dies nicht nur durch formale Ausbildung, sondern auch durch informelle Interaktionen geschieht – etwa im Streifendienst oder durch implizite Rituale und Erwartungen.
George Herbert Mead betont, dass durch die Übernahme der Perspektive des „generalized other“ gesellschaftliche Normen Teil der Identität werden. Im Polizeidienst bedeutet dies: Die Vorstellung, was „ein guter Polizist“ ist, entwickelt sich im sozialen Miteinander mit Kolleg:innen, Ausbilder:innen und Bürger:innen.
Talcott Parsons ergänzt, dass soziale Rollen mit normativen Erwartungen verknüpft sind, die zur Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnung beitragen. Die berufliche Sozialisation ermöglicht es, diese Erwartungen in der Praxis umzusetzen und institutionell handlungsfähig zu werden.
Pierre Bourdieu schließlich verweist mit seinem Konzept des Habitus auf die tiefe Verankerung beruflicher Routinen: Der polizeiliche Habitus umfasst nicht nur Wissen, sondern verkörperte Orientierungen – etwa im Umgang mit Autorität, Gefahr oder Nähe und Distanz. Diese tiefgreifenden Prägungen wirken oft unbewusst, können professionelles Handeln stützen, aber auch problematische Routinen verfestigen.
Beispiel Cop Culture
Cop Culture bezeichnet die informellen kulturellen Muster innerhalb der Polizei, die sich durch Kolleg:innen, Einsatzerfahrungen und Berufsalltag herausbilden. Typisch sind ein starkes Wir-Gefühl, Misstrauen gegenüber Außenstehenden, die Betonung von Kontrolle und Härte sowie eine gewisse Abgrenzung zur zivilen Gesellschaft.
Diese kulturellen Muster werden nicht durch Lehrpläne vermittelt, sondern im täglichen Miteinander – etwa auf Streife, durch Erzählungen oder kollektive Einsatzerfahrungen. Die Cop Culture stabilisiert professionelles Handeln, kann jedoch auch problematische Dynamiken wie Loyalitätsdruck oder Gewaltlegitimation fördern.
Mediale Sozialisation
Medien – insbesondere digitale und soziale Medien – prägen die Sozialisation heutiger Generationen auf tiefgreifende Weise. Plattformen wie Instagram, TikTok oder YouTube fungieren nicht nur als Informationsquellen, sondern vermitteln auch Rollenbilder, Wertvorstellungen und Verhaltensnormen. Anders als traditionelle Sozialisationsinstanzen (Familie, Schule) wirken sie oft subtiler, aber dafür allgegenwärtig.
Ein zentrales Merkmal medialer Sozialisation ist die ständige Performanz: Likes, Follower und algorithmische Sichtbarkeit beeinflussen, wie sich Individuen präsentieren und was als „erfolgreiches“ oder „normgerechtes“ Verhalten gilt. Zugleich können Medien soziale Teilhabe fördern oder marginalisierte Stimmen stärken – etwa in queeren oder aktivistischen Online-Communities.
Medien sind somit nicht nur Sozialisationsinstanzen, sondern auch Aushandlungsräume für Identität, Zugehörigkeit und Widerstand.
Sozialisation in Subkulturen
Jugendliche, die sich in kriminellen, oppositionellen oder alternativkulturellen Subkulturen organisieren, durchlaufen abweichende Sozialisationsprozesse, die sich teils deutlich von denen der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Solche Subkulturen bieten alternative Werte- und Normensysteme, über die Zugehörigkeit, Identität und Status vermittelt werden.
Laut der Subkulturtheorie von Albert K. Cohen entstehen solche Gruppen vor allem aus Statusfrustration: Jugendliche aus benachteiligten sozialen Lagen erfahren in Schule und Gesellschaft wenig Anerkennung, da sie die dort gesetzten Leistungs- und Anpassungsanforderungen nicht erfüllen können. In der Subkultur erfahren sie hingegen soziale Aufwertung, indem sie Werte und Verhaltensweisen umkehren – etwa Respekt durch Regelbruch, Stärke durch Gewalt oder Gruppenzugehörigkeit durch normabweichendes Verhalten.
Neben der klassischen Delinquenz fokussieren neuere Forschungen auch auf kulturelle Ausdrucksformen: Musikstile, Kleidung, Sprache oder digitale Kommunikation schaffen gemeinsame Codes, durch die Zugehörigkeit signalisiert und Abgrenzung erzeugt wird. So wird etwa Gewalt nicht nur als Handlung, sondern auch als kommunikatives Mittel verstanden – zur Selbstdarstellung, zur Machtdemonstration oder zur Reaktion auf erfahrene Marginalisierung.
Subkulturelle Sozialisation folgt dabei eigenen „Erziehungsmustern“: Ältere Gruppenmitglieder übernehmen informelle Rollen als Vorbilder, „Mentoren“ oder Anführer. Diese Prozesse können sowohl stabilisierend als auch eskalierend wirken – je nachdem, welche Werte vermittelt werden.
Auch in der Kriminologie ist die Analyse solcher abweichender Sozialisationsverläufe zentral: Subkulturen werden als soziale Räume betrachtet, in denen nicht nur abweichendes Verhalten entsteht, sondern auch komplexe soziale Identitäten ausgebildet werden. Eine einseitige Pathologisierung greift dabei zu kurz – vielmehr muss gefragt werden, in welchen gesellschaftlichen Kontexten solche Subkulturen überhaupt attraktiv werden.
Kulturspezifische Sozialisation
Sozialisation ist niemals rein individuell – sie ist stets auch kulturell geprägt. Werte, Normen, Rollenbilder und Kommunikationsformen unterscheiden sich je nach gesellschaftlichem, ethnischem oder religiösem Kontext. Besonders deutlich wird dies im Spannungsfeld von Migration und Integration, wenn Menschen mit unterschiedlichen Sozialisationshintergründen aufeinandertreffen.
Kinder und Jugendliche aus migrantischen Familien wachsen häufig in einem kulturellen Dazwischen auf: In der Familie gelten andere Erwartungen, Sprachmuster oder Autoritätsverständnisse als im schulischen oder gesellschaftlichen Umfeld. Diese Mehrfachsozialisation kann bereichernd, aber auch konflikthaft erlebt werden – etwa wenn Rollenerwartungen kollidieren oder Zugehörigkeiten unklar bleiben.
Die Kulturkonflikttheorie von Thorsten Sellin betont, dass abweichendes Verhalten oft nicht Ausdruck von Normlosigkeit ist, sondern vielmehr Folge inkompatibler Normsysteme. Was in einer Kultur als legitim gilt, kann in einer anderen als Regelverstoß wahrgenommen werden. Ein Beispiel: Die starke Loyalität zur Herkunftsfamilie kann mit dem westlich geprägten Ideal individueller Autonomie in Konflikt geraten.
Kulturspezifische Sozialisation ist daher nicht nur ein Thema interkultureller Pädagogik oder Integrationspolitik, sondern auch von soziologischer und kriminologischer Relevanz. Sie wirft Fragen auf nach Normpluralität, kultureller Übersetzung und gesellschaftlicher Teilhabe. Gleichzeitig zeigt sie, dass soziale Integration nicht allein durch Anpassung gelingt, sondern durch gegenseitige Anerkennung und Aushandlung kultureller Differenzen.
In modernen Migrationsgesellschaften wird kulturelle Sozialisation zunehmend intersektional gedacht – also in Verbindung mit Faktoren wie Geschlecht, sozialer Herkunft oder religiöser Zugehörigkeit. Dadurch rücken auch kulturelle Machtverhältnisse in den Blick, etwa wenn bestimmte Sozialisationsformen als „rückständig“ oder „problematisch“ bewertet werden, ohne ihre strukturellen Bedingungen zu reflektieren.
Sozialisation in deviant geprägten Milieus
In bestimmten sozialen Milieus – etwa bei organisierter Kriminalität, extremistischen Gruppen oder in abgeschlossenen Subkulturen – erfolgt Sozialisation entlang abweichender Normsysteme. Hier werden Loyalität, Schweigepflicht, Macht und Revierverhalten oft höher gewichtet als Legalität oder gesellschaftliche Anerkennung.
Die dort vermittelten Werte stehen nicht nur im Widerspruch zu gesellschaftlichen Normen, sondern folgen einer eigenen Binnenmoral. In diesen Kontexten wird Sozialisation nicht nur durch Lernen, sondern oft durch Gruppenzwang, Abhängigkeiten und emotionale Bindungen abgesichert.
Solche Milieus erzeugen starke soziale Kohäsion – was Ausstieg und Re-Integration besonders erschwert. Kriminologische Relevanz erhält dieser Bereich insbesondere im Hinblick auf Clankriminalität, Jugendbanden, rechtsextreme Netzwerke oder radikalisierte Online-Communities.
Zusammenfassung
- Sozialisation ist ein lebenslanger Lern- und Anpassungsprozess.
- Sie erfolgt in unterschiedlichen Phasen (primär, sekundär, tertiär) und durch verschiedene Instanzen.
- Soziologische Theorien betonen unterschiedliche Aspekte – von Normübernahme bis zu interaktivem Rollenlernen.
- Sonderformen wie Resozialisation, politische oder subkulturelle Sozialisation zeigen die Vielschichtigkeit des Begriffs.
Literatur und weiterführende Informationen
- Dahrendorf, R. (1965). Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (5. Aufl.).Westdeutscher Verlag (1. Aufl. 1958). Hier zitiert nach: Sander, W. (2016, 1. November). Die Rollentheorie. Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/krise-und-sozialisation/240816/die-rollentheorie/
- Schäfers, B. (Hrsg.) (2011) Grundbegriffe der Soziologie (7. Auflage). Opladen: Leske und Budrich.
Beiträge zum Thema
- Max Weber – Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905)
- Globalisierung und Modernisierung
- Émile Durkheim – Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1893)
- Émile Durkheim – Die Regeln der soziologischen Methode (1895): Die Wissenschaft der Gesellschaft