Was sind „soziale Rollen“?
Die soziale Rolle ist ein zentrales Konzept der soziologischen Theorie. Soziale Rollen sind ein Set von Erwartungen, Normen und Verhaltensweisen, die mit einer bestimmten Position innerhalb einer Gruppe oder Gesellschaft verbunden sind. Diese Position kann auf verschiedenen Ebenen bestehen, sei es in familiären Strukturen, in Organisationen oder in anderen sozialen Kontexten. Soziale Rollen dienen als eine Art Skript, das den Individuen Orientierung bietet, wie sie in verschiedenen Kontexten agieren sollten. Die Anforderungen an Rollenträger und die komplementären Erwartungen an die Träger spezifischer Rollen werden im Rahmen der Sozialisation vermittelt.
Soziale Rollen werden durch kulturelle Normen, Werte und soziale Strukturen geprägt. Individuen nehmen in ihrem Alltag verschiedene Rollen ein, die sowohl implizite als auch explizite Verhaltensanforderungen beinhalten. Das Konzept der sozialen Rolle ermöglicht es Soziologen, menschliches Verhalten in verschiedenen Kontexten zu analysieren und zu verstehen, wie Gesellschaften ihre Mitglieder organisieren.
Die soziale Rolle nach Ralf Dahrendorf
Zahlreiche Soziologen haben sich eingehend mit dem Konzept der „sozialen Rolle“ beschäftigt, wobei die Definitionen und das spezifische Verständnis je nach soziologischem Ansatz variieren können (vgl. Griese, 1977). Einen besonders einflussreichen Beitrag zu diesem Konzept hat der renommierte deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf geleistet. Dahrendorf prägte das Verständnis der sozialen Rolle in Bezug auf Macht und soziale Konflikte, was zu einer differenzierteren Perspektive auf die Rollentheorie führte.
Einer der Kerngedanken Dahrendorfs ist, dass jede soziale Rolle ein Bündel von Rechten und Pflichten darstellt, die in einer Gesellschaft unterschiedlich verteilt sind. Diese Verteilung ist weder zufällig noch harmonisch, sondern spiegelt die Machtverhältnisse und Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft wider. Dahrendorf argumentiert, dass diese Ungleichheiten zu Spannungen und Konflikten führen, da Individuen und Gruppen danach streben, diese Rollenstrukturen zu verändern oder zu erhalten. Dies steht im Gegensatz zu funktionalistischen Ansätzen (z.B. Strukturfunktionalismus nach Talcott Parsons), die davon ausgehen, dass soziale Rollen primär zur Stabilität und zum reibungslosen Funktionieren der Gesellschaft beitragen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in Dahrendorfs Theorie ist die Betonung der Dynamik und Veränderbarkeit sozialer Rollen. Er betrachtete Rollen nicht als starre, unveränderliche Strukturen, sondern als Elemente eines ständigen sozialen Wandels. In diesem Zusammenhang betonte er die Bedeutung von Konflikten als treibende Kraft für sozialen Wandel. Konflikte entstehen, wenn Individuen oder Gruppen sich gegen die ihnen zugewiesenen Rollen und die damit verbundenen Erwartungen und Einschränkungen auflehnen. Diese Perspektive bietet einen Rahmen, um zu verstehen, wie sozialer Wandel stattfindet und wie Individuen und Gruppen zu diesem Wandel beitragen, indem sie ihre Rollen in Frage stellen und neu verhandeln.
Die Bedeutung der soziale Rolle für die Soziologie oder genauer die soziologische Analyse macht Dahrendorf an drei Merkmalen fest:
- Soziale Rollen sind gleich Positionen quasi-objektive, vom Einzelnen prinzipiell unabhängige Komplexe von Verhaltensvorschriften.
- Ihr besonderer Inhalt wird nicht von irgendeinem Einzelnen, sondern von der Gesellschaft bestimmt und verändert.
- Die in Rollen gebündelten Verhaltenserwartungen begegnen dem Einzelnen mit einer gewissen Verbindlichkeit des Anspruches, so daß er sich ihnen nicht ohne Schaden entziehen kann.
(Dahrendorf, 2006, S. 39)
Homo Sociologicus
Ralf Dahrendorf verwendet den Begriff „homo sociologicus“ (der soziologische Mensch) in seiner soziologischen Theorie, um auf das Konzept des Menschen als ein gesellschaftliches Wesen hinzuweisen, dessen Verhalten und Identität maßgeblich durch seine sozialen Rollen geformt werden. Dieser Begriff ist eine Anspielung auf den ökonomischen Terminus „homo oeconomicus“, welcher den Menschen als rational handelndes, eigennutzmaximierendes Individuum in wirtschaftlichen Kontexten beschreibt. Dahrendorfs „homo sociologicus“ dient als Gegenstück dazu im soziologischen Diskurs.
Der „homo sociologicus“ wird durch die verschiedenen sozialen Rollen definiert, die er in der Gesellschaft innehat. Diese Rollen sind mit bestimmten Erwartungen, Normen und Verhaltensweisen verbunden, die von der Gesellschaft vorgegeben und durch soziale Interaktionen verstärkt werden.
Ralf Dahrendorf schreibt zu dieser Vermittlerrolle des Kozeptes „homo sociologicus“:
Zu jeder Stellung, die ein Mensch einnimmt, gehören gewisse Verhaltensweisen, die man von dem Träger dieser Position erwartet; zu allem, was er ist, gehören Dinge, die er tut und hat; zu jeder sozialen Position gehört eine soziale Rolle. […] Durch Positionen und Rollen werden die beiden Tatsachen des Einzelnen und der Gesellschaft vermittelt; dieses Begriffspaar bezeichnet Homo Sociologicus, den Menschen der Soziologie.
Dahrendorf, 2006, S. 37
Im Gegensatz zum „homo oeconomicus“, der durch individuelle Entscheidungen und Rationalität gekennzeichnet ist, betont der „homo sociologicus“ die soziale Prägung des Individuums. Dahrendorf sieht das Individuum als stark beeinflusst von den gesellschaftlichen Strukturen und den Erwartungen, die an seine sozialen Rollen geknüpft sind.
Sozialen Rollen gehen mit einem Verpflichtungscharakter einher. Das Gegenüber – oder genauer: die Komplementär-Rolle – fordert Verhaltensweisen ein. Je nach Rolle und Art der Verpflichtung wird die Nichteinhaltung der Erwartung sanktioniert – indem dem Rollenträger Antipathie entgegengebracht wird, dieser durch einen sozialen Ausschluss oder gerichtlich bestraft wird.
Soziale Rollen sind ein Zwang, der auf den Einzelnen ausgeübt wird – mag dieser als eine Fessel seiner privaten Wünsche oder als ein Halt, der ihm Sicherheit gibt, erlebt werden. Dieser Charakter von Rollenerwartungen beruht darauf, daß die Gesellschaft Sanktionen zur Verfugung hat, mit deren Hilfe sie die Vorschriften zu erzwingen vermag. Wer seine Rolle nicht spielt, wird bestraft; wer sie spielt, wird belohnt, zumindest aber nicht bestraft.
Dahrendorf, 2006, S. 40
Rollen-Set und Rollen-Segmente
Jeder Mensch nimmt zahlreiche soziale Rollen ein, die er zeitgleich oder aber je nach sozialem Kontext und Situation ausfüllt. Das unten stehende Schaubild zeigt ein Rollen-Set, das aus unterschiedlichen Rollensegmenten besteht. Verschiedene Rollen besitzen einen unterschiedlichen Charakter. Zu jeder Rolle gehört eine Komplementär-Rolle. Diese „Gegenüber-Rolle“ stellt die Rollenerwartungen.
- 1. Rolle: Die Geschlechterrolle sowie das Lebensalter sind zugefallene Rollen. Sie sind biologisch bestimmt und i.d.R. nicht ablegbar. Die Geschlechterrolle ist dennoch nicht „natürlich“, sondern kulturspezifisch definiert (s.u.). Sowohl Mitglieder des eigenen als auch Mitglieder des anderen Geschlechts (oder auch: anderer Geschlechter) können die Komplementärrolle einnehmen.
- 2. Rolle: Partner in einer Beziehung zu sein, ist hingegen eine erworbene Rolle, die wieder ablegbar ist. Der Partner oder die Partnerin könnte die Komplementärrolle einnehmen.
- 3. Rolle: Deutscher Staatsbürger zu sein ist eine zugeschriebene Rolle aufgrund der Abstammung. Die Rolle ist wieder ablegbar. Hier können sowohl die eignen Landsleute, aber auch Menschen anderer Nationen eine Komplementärrolle einnehmen.
- 4. Rolle: Auch der Beruf stellt eine wieder ablegbare, zugeschriebene Rolle dar. Beim Beispiel des Polizeiberufes sind sowohl die eigenen Kolleginnen und Kollegen aber auch der Bürger als Komplementärrollen anzusehen.
- 5. Rolle: Sohn, Vater, Großvater, Onkel usw. zu sein ist eine nicht ablegbare, zugefallene Rolle. Aber auch hier spielt eine kulturspezifische Sicht bei der konkreten Ausfüllung der Rollenerwartungen eine Bedeutung. Je nach Kontext und Situation sind v.a. andere Familienmitglieder in einer Komplementärrolle zu sehen.
- 6. Rolle: Fußballspieler in einem Verein zu sein, ist eine wieder ablegbare und erworbene Rolle. Sowohl die MItspieler im eigenen Verein als auch diejenigen aus gegnerischen Mannschaften können eine Komplementärrolle einnehmen.
- 7. Rolle: Auch das Autofahrer sein ist eine erworbene Rolle. Die Komplementärrolle können andere Verkehrsteilnehmer einnehmen.
- … Hier ließen sich nahezu beliebig viele weitere Rollen ergänzen.
Rollenkonflikte
Dahrendorf erkennt an, dass die Anforderungen und Erwartungen verschiedener sozialer Rollen oft miteinander in Konflikt stehen können. Dies führt zu Spannungen und Herausforderungen für das Individuum, da es versucht, den unterschiedlichen Anforderungen seiner verschiedenen Rollen gerecht zu werden.
Für jede Position, die ein Mensch haben kann, sei sie eine Geschlechts- oder Alters-, Familien- oder Berufs-, National- oder Klassenposition oder von noch anderer Art, kennt ‚die Gesellschaft‘ Attribute und Verhaltensweisen, denen der Träger solcher Positionen sich gegenübersieht und zu denen er sich stellen muß.
Dahrendorf, 2006, S. 40
Dabei kann zwischen Intra- und Inter-Rollenkonflikte sowie dem Rolle-Selbst-Konflikt unterschieden werden.
Inter-Rollenkonflikt
Ein Inter-Rollenkonflikt liegt vor, wenn unterschiedliche Anforderungen, die aus verschiedenen sozialen Rollen die eine Person vereint, im Widerspruch zueinander stehen.
Beispiel
Eine Person, die gleichzeitig berufstätig ist und sich um ihre Familie kümmert, kann einen Inter-Rollenkonflikt erleben. In ihrer Rolle als Elternteil wird von ihr erwartet, Zeit und Aufmerksamkeit für die Kinder und den Haushalt aufzubringen. Gleichzeitig erfordert ihre berufliche Rolle Engagement, Überstunden und gegebenenfalls Reisen. Die Anforderungen dieser beiden Rollen können in Konflikt geraten, insbesondere wenn berufliche Verpflichtungen mit familiären Ereignissen wie Elternabenden oder wichtigen Familienfeiern zusammenfallen. Die Person muss einen Kompromiss finden, um den Anforderungen beider Rollen gerecht zu werden.
Intra-Rollenkonflikt
Ein Intra-Rollenkonflikt liegt vor, wenn aus ein und derselben Rolle konfligierende Anforderungen hervorgehen.
Beispiel
Ein Manager in einem Unternehmen steht vor einem Intra-Rollenkonflikt. Einerseits wird von ihm erwartet, dass er die Produktivität seines Teams maximiert und strenge Fristen einhält. Andererseits soll er auch für das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter sorgen und eine gesunde Arbeitsumgebung fördern. Diese beiden Erwartungen können in Konflikt geraten, wenn die Steigerung der Produktivität zu Lasten des Wohlbefindens der Mitarbeiter geht. Der Manager muss einen Weg finden, beide Aspekte seiner Rolle zu erfüllen, ohne dabei einen Aspekt zu vernachlässigen.
Rolle-Selbst-Konflikt
Ein Rolle-Selbst-Konflikt tritt auf, wenn die Erwartungen und Anforderungen einer sozialen Rolle, die eine Person innehat, im Widerspruch zu ihren eigenen persönlichen Werten, Überzeugungen oder Bedürfnissen stehen.
Beispiel
Stellen Sie sich eine Person vor, die eine hohe Führungsposition in einem großen, profitorientierten Unternehmen innehat, das in Branchen tätig ist, welche traditionell negative Auswirkungen auf die Umwelt haben (z.B. in der Öl- und Gasindustrie oder in der Schwerindustrie). Diese Person ist jedoch auch tief verwurzelt in Überzeugungen und Werten, die den Umweltschutz betonen und sich für Nachhaltigkeit einsetzen. In ihrer beruflichen Rolle muss sie Entscheidungen treffen, die oft auf Profitmaximierung ausgerichtet sind und möglicherweise umweltschädliche Praktiken beinhalten oder tolerieren. Dies steht im direkten Widerspruch zu ihren persönlichen Überzeugungen und ihrem Engagement für den Umweltschutz.
Die Relevanz des Konzepts der sozialen Rolle für die Polizei
Bei der Beurteilung der Relevanz des Konzepts der sozialen Rolle für die Polizei ist zunächst an die Berufsrolle selbst zu denken. Polizeibeamte nehmen in der Gesellschaft eine spezifische Rolle ein, die mit bestimmten Erwartungen, Pflichten und Verhaltensnormen verbunden ist. Ein klares Verständnis dieser Rolle ist entscheidend für die effektive und angemessene Erfüllung ihrer Aufgaben. Dazu gehört nicht nur die Durchsetzung von Gesetzen, sondern auch der Umgang mit der Öffentlichkeit, die Gewährleistung von Sicherheit und das Handeln in Notsituationen. Die berufliche Rolle bzw. die verschiedenen beruflichen Rollen (z.B. Vorgesetzter vs. Mitarbeiter) haben natürlich auch Auswirkungen auf die Organisation der Polizei. Besonders deutlich wird diese Relevanz in Fällen, in denen eine individuelle Interpretation der Berufsrolle einem allgemeinen Verständnis widerspricht. Zu denken ist hier z.B. an die sog. Cop Culture und Fälle, in denen eine bürgerorientierte Interpretation der eigenen Berufsrolle einem misstrauisch-feindlichen Bild des „polizeilichen Gegenübers“ weicht (wir vs. die, Freund vs. Feind).
Polizisten können sowohl Intra- als auch Inter-Rollenkonflikte erleben. Ein Intra-Rollenkonflikt kann entstehen, wenn die Pflicht, das Gesetz durchzusetzen, mit dem Wunsch kollidiert, einfühlsam und verständnisvoll zu handeln. Inter-Rollenkonflikte können entstehen, wenn die beruflichen Anforderungen der Polizeiarbeit mit anderen sozialen Rollen, wie z.B. der eines Elternteils oder eines Partners, kollidieren. Denkbar wären auch Fälle, in denen ein Inter-Rollenkonflikt entsteht, wenn Polizeibeamte gegen ihnen bekannte Personen ermitteln müssen.
Literatur und weiterführende Informationen
- Dahrendorf, R. (2006). Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (16 Aufl.). VS Verlag.
- Griese, H.; Nikles, B. W. & Christoph Rülcker (Hrsg.) (1977). Soziale Rolle. Zur Vermittlung von Individuum und Gesellschaft. Ein soziologisches Studien- und Arbeitsbuch. Leske und Budrich.
- Preyer, G. (2012). Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe. Mitgliedschaftstheoretische Reinterpretationen. VS Verlag. [Hier v.a. Kapitel 5: Soziale Rolle]