Gesellschaften sind keine amorphen Gebilde, sondern lassen sich als strukturierte Ordnungen beschreiben, in denen Menschen unterschiedliche Positionen einnehmen – sei es aufgrund ihres Einkommens, Bildungsniveaus, ihrer Herkunft oder Lebensweise. Diese Ordnungsmuster werden in der Soziologie unter dem Begriff Sozialstruktur gefasst. Sie bestimmen nicht nur Lebenschancen, sondern auch Denkweisen, Werte, Einstellungen und Verhaltensformen. Wer wo in der Gesellschaft „steht“, hat Einfluss darauf, wie man lebt, was man für möglich hält – und wie man von anderen wahrgenommen wird.
Sozialstrukturmodelle helfen dabei, diese Ungleichheiten sichtbar zu machen und systematisch zu analysieren. Sie reichen vom vormodernen Ständemodell über das marxistische Klassenkonzept und die empirisch gestützten Schichtmodelle bis hin zu Milieu- und Lebensstilkonzepten wie dem Sozialen Raum von Pierre Bourdieu oder den Sinus-Milieus.
Was ist Sozialstruktur?
Der Begriff Sozialstruktur bezeichnet in der Soziologie die relativ dauerhaften Ordnungsmuster gesellschaftlicher Beziehungen und Lebenslagen. Eine häufig zitierte Definition stammt von Reinhold (2000):
Definition 1
Unter Sozialstruktur versteht man
- die Gesamtheit der sozialen Beziehungsmuster und Regelsysteme in den für die Gesellschaft zentralen und integrierenden Handlungsbereichen und
- die sich aus der Verteilung der gesellschaftlich wichtigsten Ressourcen (wie z.B. Boden, Kapital) ergebenden Klassen und Schichtungsstrukturen und die damit verbundenen Formel sozialer Ungleichheit.
Reinhold (2000) Soziologie-Lexikon
Schubert und Klein (2020) definieren Sozialstruktur folgendermaßen:
Definition 2
S. ist ein politisch-soziologischer Begriff, der auf die dauerhaften, grundlegenden Wirkungszusammenhänge einer Gesellschaft
verweist, in die die Individuen eingebunden sind (Familien-, Bildungs-, Wirtschafts-, Vermögens-, Bevölkerungsstruktur etc.) und die auf die individuellen (persönlichen) und kollektiven Verhaltensmöglichkeiten (Verein, Partei etc.) fördernd oder begrenzend einwirken. Die moderne S.-Analyse geht von einer relativen Unabhängigkeit der einzelnen gesellschaftlichen Teilbereiche aus und unterscheidet daher eine Vielzahl sozialstruktureller Merkmale (Schicht/Schichtung, Mobilität, Technologisierung, Wertewandel etc.). Während in der BRD der 1980er-Jahre von einer mittelschichtdominierten Gesellschaft ausgegangen wurde, vertieft sich heute, insb. aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit, ein gesellschaftlicher Riss zwischen Arm und Reich.
(Schubert & Klein, 2020)
Die Sozialstruktur beschreibt also sowohl institutionalisierte Regeln (z. B. Bildungssystem, Arbeitsmarkt, Eigentumsordnung) als auch verteilte Ressourcen (z. B. Einkommen, Bildung, Macht, soziales Kapital). Aus ihr ergeben sich gesellschaftliche Statuspositionen, die durch zwei Merkmale gekennzeichnet sein können:
- Zugeschriebener Status: wird nicht durch eigenes Handeln beeinflusst (z. B. Herkunft, Geschlecht, Alter)
- Erworbener Status: resultiert aus individueller Leistung oder Entscheidung (z. B. Bildungsweg, Beruf)
Unterschiedliche Positionen in der Sozialstruktur gehen mit ungleichen Lebensbedingungen und Lebenschancen einher – etwa bei Wohnort, Gesundheitsversorgung, Bildungserfolg oder politischer Teilhabe.
Klassische Modelle der Sozialstruktur
Im historischen Verlauf wurden verschiedene Konzepte entwickelt, um die Struktur moderner Gesellschaften zu analysieren. Die wichtigsten sind:
1. Ständemodell
Merkmale:
- Zugeschriebener Status
- Religiöse oder traditionelle Legitimation
- Keine oder kaum vertikale Mobilität
- Große soziale Distanz zwischen den Ständen
2. Klassenmodell
Einen grundlegenden Beitrag zur Analyse der Sozialstruktur lieferte Karl Marx, der Gesellschaften entlang ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln in Klassen gliederte. Marx unterscheidet zwischen Kapitalbesitzern (Bourgeoisie) und Besitzlosen (Proletariat) und interpretiert soziale Ordnung als Ausdruck ökonomischer Machtverhältnisse.
Vertiefende Informationen zu Marx’ Klassenbegriff, zur Idee des Klassenbewusstseins und zur Theorie des historischen Materialismus finden sich im Beitrag:
3. Schichtmodell
Das Schichtmodell entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Versuch, gesellschaftliche Ungleichheiten empirisch differenzierter abzubilden. Anders als das Klassenmodell berücksichtigt es vertikale Unterschiede (z. B. Einkommen, Bildung, Berufsprestige) und ermöglicht die Darstellung von sozialer Mobilität.
Wichtige Vertreter:
- Ralf Dahrendorf: Hausmodell (1965)
- Karl Martin Bolte: Zwiebelmodell (1967)
- Rainer Geißler: Weiterentwicklung des Hausmodells (1996 ff.) [für nähere Informationen siehe: (Geißler, 2014b)]
Diese Modelle unterscheiden sich vor allem in der Darstellung von Schichtgrenzen, Mittelschichten und Mobilitätsspielräumen.
Vorteile:
- Empirisch erfassbar (z. B. durch Statistik)
- Ermöglicht differenzierte Sozialstrukturanalyse
Kritik:
- Starke Konzentration auf vertikale Differenz
- Kulturelle und horizontale Differenzen (z. B. Lebensstile, Migration, Gender) werden unzureichend erfasst
Die folgende Übersicht vergleicht die drei klassischen Modelle der Sozialstruktur – Stand, Klasse und Schicht – hinsichtlich zentraler Merkmale wie Zugehörigkeit, Legitimation, Mobilität und Unterscheidungskriterien.
Modell | Zugehörigkeit | Legitimation | Mobilität | Unterscheidungskriterium |
---|---|---|---|---|
Ständemodell | Zugeschrieben (Geburt) | Religiös-traditionell | Sehr gering | Standesrecht, Herkunft |
Klassenmodell | Ökonomisch bestimmt | Produktionsverhältnisse | Begrenzt (Revolution als Bruch) | Besitz an Produktionsmitteln |
Schichtmodell | Erworben (Leistung, Bildung) | Funktionalistisch/empirisch | Hoch (sozial offen) | Beruf, Einkommen, Bildung |
Moderne Modelle und Erweiterungen
1. Vom Schichtmodell zum Milieuansatz
Während Schichtmodelle vor allem vertikale Ungleichheitsstrukturen abbilden – also „oben“ und „unten“ unterscheiden –, zeigen sich in modernen Gesellschaften zunehmend auch horizontale Differenzierungen. Wertewandel, Individualisierung, kulturelle Pluralisierung und Migrationsprozesse führen dazu, dass Menschen mit ähnlicher sozialer Lage sehr unterschiedliche Lebensweisen, Haltungen und Orientierungsmuster ausbilden. Um diese Vielfalt analytisch zu erfassen, wurden in der Soziologie Milieu- und Lebensstilmodelle entwickelt, die soziale Ungleichheit nicht nur an materiellen Ressourcen, sondern auch an symbolischen und kulturellen Merkmalen festmachen.
2. Lebensstilforschung
Ein Lebensstil beschreibt ein relativ stabiles Muster der alltäglichen Lebensführung – bestehend aus Werten, Einstellungen, Geschmackspräferenzen und Routinen. Diese Lebensstile strukturieren sowohl das individuelle Verhalten als auch die soziale Wahrnehmung. Soziale Ungleichheit manifestiert sich aus dieser Perspektive nicht nur in Einkommen oder Bildung, sondern auch in Alltagspraktiken, Wohnformen, Freizeitverhalten oder Konsumstilen.
Lebensstile sind damit nicht nur Ausdruck, sondern auch Reproduktionsmechanismus sozialer Positionen – ein Gedanke, der insbesondere durch Pierre Bourdieu geprägt wurde.
3. Milieubegriff
Ein Milieu beschreibt eine Gruppe von Menschen, die durch ähnliche Werthaltungen, Lebensauffassungen und soziale Lebenslagen verbunden sind. Im Unterschied zur „Schicht“, die eher objektive Kriterien wie Einkommen oder Bildung betont, zielt der Milieubegriff auf subjektive Deutungsmuster ab: Welche Ziele verfolgen Menschen? Was halten sie für richtig, erstrebenswert oder moralisch vertretbar? Wie orientieren sie sich in ihrer sozialen Umwelt?
Milieus lassen sich als horizontale Differenzierungen innerhalb der Gesellschaft verstehen. Sie ergänzen die vertikale Gliederung der Schichten und erlauben eine kultursensible Perspektive auf soziale Ungleichheit.
4. Die Sinus-Milieus
Ein besonders bekanntes und praxisnahes Modell zur Erfassung sozialer Milieus im deutschsprachigen Raum ist das der Sinus-Milieus. Es wurde vom Sinus-Institut entwickelt und basiert auf empirischen Untersuchungen zu Alltagsorientierungen, Wertemustern und Lebensstilen.
Die Milieus werden anhand von zwei Achsen eingeordnet:
- Soziale Lage: Oberschicht, Mittelschicht, Unterschicht
- Grundorientierung: Tradition – Modernisierung/Individualisierung – Neuorientierung
Das Modell unterscheidet derzeit zehn verschiedene Milieus, darunter z. B. das konservativ-etablierte, das hedonistische, das adaptiv-pragmatische oder das prekäre Milieu. Jedes Milieu zeichnet sich durch spezifische Alltagslogiken, Bildungsideale, Konsumverhalten und politische Grundhaltungen aus.
Vorteile:
- Verknüpfung von objektiver sozialer Lage und subjektiver Orientierung
- Praktische Anwendung in Stadtplanung, Sozialarbeit, Prävention, Marketing
Kritik:
- Kommerzielle Herkunft des Konzepts
- Begrenzte wissenschaftliche Transparenz
- Gefahr der Typologisierung komplexer Lebenswelten
Trotz dieser Kritikpunkte bieten die Sinus-Milieus einen niedrigschwelligen Zugang zur gesellschaftlichen Komplexität, der besonders für polizeiliche oder sozialpädagogische Praxisfelder von Nutzen sein kann.
5. Lebensstile, Habitus und sozialer Raum – Verbindung zu Bourdieu
Die Idee, dass Lebensstile soziale Positionen nicht nur widerspiegeln, sondern auch reproduzieren, wurde systematisch von Pierre Bourdieu in seinem Konzept des sozialen Raums ausgearbeitet. Seine Analyse zeigt, dass Kapitalformen (ökonomisch, kulturell, sozial, symbolisch) und Habitus (verinnerlichte Dispositionen) maßgeblich prägen, wie Menschen ihren Alltag gestalten – und wie sich soziale Grenzen durch Geschmack, Bildung oder Sprache symbolisch verfestigen.
Der Milieuansatz knüpft damit direkt an Bourdieu an: Beide Perspektiven unterstreichen, dass soziale Ungleichheit nicht nur eine Frage von Geld oder Beruf, sondern auch eine Frage von Wahrnehmung, Anerkennung und Zugehörigkeit ist.
Vertiefende Informationen zu Bourdieus Konzept des Habitus‘ und des sozialen Raumes finden sich im Beitrag:
Pierre Bourdieu – Die feinen Unterschiede (1979)
Polizeiliche Relevanz von Sozialstrukturanalyse
Die Analyse der Sozialstruktur ist für die Polizei kein abstraktes Theoriegebäude, sondern von hoher praktischer Relevanz:
- Lagebilder und Kriminalitätsanalysen lassen sich sozialräumlich differenziert verstehen und planen.
- Polizeiliche Kommunikationsstrategien müssen sich an die Sprache, Mentalität und Erfahrungswelt verschiedener Milieus anpassen. Soziologisch ausgedrückt benötigen Polizist:innen eine „Habitussensibilität„
- Sozialstrukturmodelle helfen beim Verständnis gesellschaftlicher Spannungsfelder – z. B. Gentrifizierung, Segregation, Armutsmigration.
- Präventionsarbeit kann gezielter ansetzen, wenn Lebenslagen und Milieumuster bekannt sind.
- In der Aus- und Fortbildung von Polizist*innen helfen Sozialstrukturanalysen beim Verständnis sozialer Ungleichheit als Kontextfaktor für Devianz und Konflikt.
Ein sozialstrukturell informierter Polizeidiskurs vermeidet Pauschalisierungen und ermöglicht differenzsensibles Handeln – besonders in urbanen, heterogenen und sozial fragmentierten Gesellschaften.
Fazit
Die Analyse der Sozialstruktur erlaubt einen vielschichtigen Blick auf gesellschaftliche Ordnungen, Machtverhältnisse und Lebenslagen. Während Stände-, Klassen- und Schichtmodelle insbesondere die vertikale Dimension sozialer Ungleichheit beleuchten, rücken Milieu- und Lebensstilansätze auch kulturelle Differenzen und subjektive Deutungsmuster in den Fokus.
Moderne Sozialstrukturanalyse ist damit nicht nur eine empirische Methode, sondern auch ein normatives Werkzeug, um soziale Teilhabe, Gerechtigkeit und Integration kritisch zu reflektieren. Gerade im polizeilichen Kontext ermöglicht sie ein tieferes Verständnis gesellschaftlicher Hintergründe, das über bloße Kriminalstatistiken hinausreicht.
- Sozialstruktur beschreibt die dauerhaften Ordnungsmuster von Beziehungen, Ressourcen und Positionen in einer Gesellschaft.
- Die Zugehörigkeit zu Stand, Klasse, Schicht oder Milieu bestimmt Lebenschancen, Deutungsmuster und Handlungsspielräume.
- Moderne Gesellschaften sind nicht nur vertikal (oben–unten), sondern auch horizontal (milieuspezifisch) differenziert.
- Sozialstrukturanalyse ist kein Selbstzweck, sondern Grundlage für sozial gerechtes und differenzsensibles Handeln – auch im polizeilichen Kontext.
Literatur und weiterführende Informationen
- Geißler, R. (2014a). Die Sozialstruktur Deutschlands (7. Aufl.). Springer VS.
- Geißler, R. (2014b, 16. Dezember). Facetten der modernen Sozialstruktur. Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/sozialer-wandel-in-deutschland-324/198045/facetten-der-modernen-sozialstruktur/
- Reinhold, G. (Hrsg.) (2000) Soziologie-Lexikon (4. Aufl.). Oldenbourg: De Gruyter.
- Schäfers, B. (Hrsg.) (2011) Grundbegriffe der Soziologie (7. Auflage). Opladen: Leske und Budrich.
- Schubert, K. & Klein, M. (2020). Das Politiklexikon (7.Aufl.). Bonn: Dietz. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/18249/sozialstruktur/