Der Mensch ist ein soziales Wesen – er wird in Gruppen geboren, lebt in Gruppen und handelt im Kontext gruppenbezogener Erwartungen. Gruppen sind nicht nur Orte des Miteinanders, sondern auch soziale Strukturen, in denen Normen entstehen, Rollen verteilt, Zugehörigkeit erzeugt und soziale Grenzen gezogen werden. Für die Soziologie bilden sie eine zentrale Analyseeinheit, da sich in ihnen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft exemplarisch beobachten lässt.
Gruppen prägen unser Denken, Fühlen und Handeln. Sie ermöglichen soziale Bindung, Identitätsbildung und Unterstützung – aber auch Ausgrenzung, Anpassungsdruck und Konflikte. In der Polizeipraxis zeigt sich dies etwa im Umgang mit Jugendgruppen, in der Dynamik von Großlagen oder in der Funktionsweise informeller Strukturen innerhalb der Organisation selbst.
Was ist eine soziale Gruppe?
Eine soziale Gruppe ist mehr als eine zufällige Ansammlung von Personen. Sie ist ein sozialer Verband, dessen Mitglieder über einen bestimmten Zeitraum in einem interaktionsbasierten Beziehungsgefüge zueinanderstehen, ein Wir-Gefühl entwickeln und gemeinsame Ziele oder Interessen verfolgen.
Nach Schäfers (2011) ist eine soziale Gruppe charakterisiert durch:
- eine begrenzte Anzahl von Mitgliedern (überschaubarer Interaktionsrahmen),
- ein gemeinsames Ziel oder ein geteiltes Interesse,
- eine gewisse Stabilität über die Zeit,
- gegenseitige Erwartungen und Interaktionen,
- ein Wir-Bewusstsein (Gruppenidentität).
Begriff | Beschreibung | Beispiel |
---|---|---|
Gruppe | Interaktive Gemeinschaft mit Wir-Gefühl | Sportmannschaft, Freundeskreis |
Kategorie | Ähnlichkeit durch Merkmal, ohne Interaktion | „Jugendliche“, „Erwerbslose“ |
Aggregat | Räumlich zufällige Ansammlung | Personen in der Straßenbahn |
Statistische Gruppe | Analytische Klassifikation ohne soziale Beziehung | „Alle über 65-Jährigen“ |
Vom Aggregat zur Gruppe – ein Beispiel
Mehrere Personen warten an einer Bushaltestelle. Sie kennen einander nicht, sprechen nicht miteinander – es handelt sich um ein soziales Aggregat.
Plötzlich steigt Rauch aus einem Mülleimer auf – es brennt! Die Wartenden reagieren: Jemand fragt, ob jemand Wasser hat, eine andere Person ruft die Feuerwehr. Innerhalb weniger Augenblicke entsteht ein gemeinsames Ziel, es wird kommuniziert, koordiniert gehandelt. Aus dem Aggregat ist eine temporäre soziale Gruppe geworden.
Ist das Feuer gelöscht und der Bus kommt, zerfällt die Gruppe wieder. Aus der kurzzeitigen Handlungsgruppe wird erneut ein anonymes Aggregat.
Gruppentypen
Primär- und Sekundärgruppen
- Primärgruppen: intime, emotionale Beziehungen, z. B. Familie, enge Freundschaften, geringe Gruppengröße, face-to-face Kommunikation vorherrschend
Primärgruppen sind
„jene Kleingruppen, denen Menschen zur Vermittlung primärer Sozialkontakte und zur Herausbildung ihres (sozialen) Ich angehören; sie bieten über die Phase der primären Sozialisation und sozialen Integration hinaus eine kontinuierliche Möglichkeit der Identitätsbehauptung, der intimen und spontanen Sozialbeziehungen und der Entlastung von den Anforderungen sekundärer Gruppen“ (Schäfers, 1980: 72)
- Sekundärgruppen: zielgerichtet, sachlich, z. B. Schulklasse, Verein, Dienstgruppe, funktionale Integration der Mitglieder (gemäß ihrer Fertigkeiten), weniger starke (emotionale) Bindung der Mitglieder an Gruppe, Mitgliedschaft in Sekundärgruppe wird freiwillig gewählt und kannaufgekündigt werden
Formelle und informelle Gruppen
- Formelle Gruppen: durch Zweckcharakter der planvollen Zielerreichung geprägt, arbeitsteilige Organisation, spezialisierte Rollen, Aufnahme neuer Mitglieder erfolgt nach gesuchten Qualifikationen, sind überwiegend im professionellen Bereich zu finden
- Informelle Gruppen: existieren innerhalb formeller Gruppen, basieren auf Sympathie einzelner Gruppenmitglieder untereinander, die planvolle Zielerreichung der Organisation steht hinter der persönlichen Zuneigung der Gruppenmitglieder zurück, fördert Kohäsion und Binnenklima (z.B. „kurzer Dienstweg“, „Flurfunk“ vs „Dienst nach Vorschrift“)
Klein- und Großgruppen
- Kleingruppen ermöglichen direkte Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten (face-to-face), Gruppengröße liegt zwischen mindestens drei (siehe unten: Georg Simmel – Gruppengröße und Struktur) und höchsten 15 Mitgliedern, häufig synonym mit sozialen Gruppen verwendet
- Ab 16 Mitgliedern spricht man von einer Großgruppe. Großgruppen sind gekennzeichnet durch gemeinsame Ziel, Werte und Normen, eine interne Rollenstrukturen und Aufgabenverteilungen (= Organisation), keine direkte Interaktion der Mitglieder untereinander, hierarchische Organisation, freiwilliger Ein- und Austritt. Die Mitglieder einer Großgruppe oft als solche kenntlich (Dienstausweise, Uniformen etc.)
Masse und Crowd
Die Masse tritt in der Soziologie als besonderer kollektiver Akteur in Erscheinung. Im Gegensatz zu klassischen Gruppenformen ist sie amorph: Die Anzahl ihrer Mitglieder ist meist unklar, die Zusammensetzung wechselhaft, die Dauer flüchtig. Gleichwohl kommt der Masse eine hohe symbolische wie emotionale Bedeutung zu – insbesondere in Situationen öffentlicher Aufmerksamkeit wie Demonstrationen, Großveranstaltungen oder kollektiven Ausnahmezuständen.
Alltagssprachlich ist die Masse häufig negativ konnotiert, etwa mit Begriffen wie „Pöbel“ oder „Mob“. Dahinter steht die Annahme, dass sich in der Masse individuelle Kontrolle und Rationalität auflösen und durch triebhaftes, impulsives Verhalten ersetzt werden. Aus soziologischer Perspektive ist jedoch zu betonen, dass solches Verhalten nicht automatisch auf alle Teilnehmenden übertragbar ist – und dass auch massenhaftes Handeln in sozialen Mustern verläuft.
Ein zentrales Merkmal ist das orientierende Verhalten: In Situationen der Unsicherheit oder Ambiguität beobachten Menschen zunächst andere, bevor sie selbst handeln („Herdentrieb“). Diese Orientierung kompensiert Handlungsunsicherheit und schafft kollektive Sicherheit. Gleichzeitig kann das Erleben eines gleichgerichteten Gruppenhandelns zu einer intensiven emotionalen Erfahrung werden – ein Effekt, der in der Sozialpsychologie als Verstärkereffekt beschrieben wird.
Schließlich bieten Massen auch Schutz durch Anonymität: Die relative Unkenntlichkeit des Einzelnen innerhalb einer großen, bewegten Menge kann dazu führen, dass emotionale Ansteckung zunimmt, Hemmungen sinken und die Wahrscheinlichkeit abweichenden oder sogar delinquenter Handlungen steigt.
Alltagsbegriffe auf dem Prüfstand
Begriffe wie Hochzeitsgesellschaft, Polizeifamilie, Glaubensgemeinschaft, Online-Community oder Fangemeinde klingen nach starker sozialer Bindung – erfüllen aber nicht immer die Kriterien einer sozialen Gruppe im soziologischen Sinn.
- Hochzeitsgesellschaft: meist ein Aggregat ohne Interaktionsdauer
- Polizeifamilie: Symbol für Kohäsion, aber Teil einer hierarchisch strukturierten Organisation
- Glaubensgemeinschaft: Mischung aus Kategorie, Organisation und Weltanschauung
- Online-Community (oft eher geteilte Kategorie als interaktive Gruppe)
- Fangemeinde (symbolische Nähe, aber selten Interaktion)
Die Soziologie analysiert nicht nur, wer sich zugehörig fühlt, sondern auch, wie Interaktion, Normen und Rollenstrukturen konkret ausgestaltet sind.
Soziologische Klassiker
Ferdinand Tönnies – Gemeinschaft und Gesellschaft
Tönnies unterscheidet zwischen zwei Grundformen sozialer Vergesellschaftung:
- Gemeinschaft: Beziehungen beruhen auf Nähe, Vertrauen, emotionaler Bindung und einem Gefühl der Zugehörigkeit. Beispiele sind Familie, Nachbarschaft oder Freundeskreis.
- Gesellschaft: Beziehungen sind rational, zweckgerichtet und formalisiert. Sie beruhen auf Vertrag, Nutzenkalkül oder funktionaler Notwendigkeit. Beispiele sind Unternehmen, Verwaltungen oder der Markt.
Die Unterscheidung ist anschlussfähig an die Gruppensoziologie, da sich viele Gruppen entsprechend einordnen lassen: Primärgruppen ähneln gemeinschaftlichen Beziehungen, Sekundärgruppen eher gesellschaftlichen.
Ferdinand Tönnies – Gemeinschaft und Gesellschaft (1887)
Georg Simmel – Gruppengröße und Struktur
Simmel unterschied u. a. Dyaden (2 Personen) und Triaden (3 Personen): In Dyaden besteht maximale Nähe, aber auch Fragilität. In Triaden entsteht die Möglichkeit von Koalitionen, Kontrolle, Macht. Mit zunehmender Größe wächst Formalität und soziale Distanz. Im soziologischen Sinne muss eine Gruppe aus mindestens drei Personen bestehen.
Gruppendynamik und Sozialpsychologie
Henri Tajfel & John Turner – Social Identity Theory
Die Soziale-Identitätstheorie von Henri Tajfel und John C. Turner (1979, 1986) erklärt, wie Gruppenzugehörigkeit das Selbstbild, die Wahrnehmung anderer und das Verhalten innerhalb wie zwischen Gruppen beeinflusst. Menschen definieren sich nicht nur über persönliche Merkmale, sondern auch über die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen – etwa zu einer Nation, Religion, Subkultur oder Berufsgruppe.
Dabei entsteht eine kognitive Trennung zwischen „ingroup“ und „outgroup“. Die eigene Gruppe wird tendenziell aufgewertet, während andere Gruppen abgewertet oder stereotypisiert werden. Die Theorie erklärt Loyalität, Vorurteile und Spannungen zwischen Gruppen – auch in Alltagskontexten wie Schule, Polizei oder Nachbarschaft.
Solomon Asch – Konformitätsexperimente
Solomon Asch zeigte in seinen berühmten Experimenten (1951), dass Menschen ihre Meinung anpassen, wenn eine Gruppe geschlossen widerspricht – selbst wenn die Gruppenaussage offensichtlich falsch ist. Die Versuchspersonen tendierten dazu, der Gruppenmeinung zu folgen, um nicht aus dem Rahmen zu fallen oder ausgegrenzt zu werden.
Diese soziale Konformität ist ein zentrales Phänomen in Gruppen: Sie erklärt Peer Pressure bei Jugendlichen ebenso wie Anpassungsdruck in Organisationen – oder den „Code of Silence“ innerhalb der Polizei.
Irving Janis – Groupthink
Irving Janis beschrieb mit dem Begriff Groupthink (1972) eine Denkverzerrung, die in stark kohäsiven Gruppen auftreten kann. Wenn der Zusammenhalt zu groß wird, kommt es zu Selbstzensur, Illusion der Unfehlbarkeit, Abwertung anderer Meinungen – und am Ende zu kollektiven Fehlentscheidungen.
Groupthink tritt häufig in politischen Führungskreisen, Krisenstäben oder auch Einsatzbesprechungen auf. Kritisches Denken wird unterdrückt, um Konsens zu wahren – was schwerwiegende Folgen für Planung und Durchführung haben kann.
- Illusion von Unverletzlichkeit („Wir können nicht scheitern“)
- Selbstzensur abweichender Meinungen
- Abwertung externer Kritik
- Mangel an Alternativen in der Entscheidungsfindung
Gruppen und Devianz
Frederic Thrasher – Gangs als funktionale Gruppen
Frederic Thrasher untersuchte in seiner Studie The Gang (1927) Jugendgangs in Chicago nicht als Bedrohung, sondern als funktionale Gruppen. In desorganisierten Stadtvierteln boten sie Jugendlichen Zugehörigkeit, Identität und Orientierung. Sie entwickelten eigene Normen, Territorien, Rituale und Hierarchien – und bildeten somit eine soziale Ordnung außerhalb der offiziellen Strukturen.
Thrasher zeigte, dass Gangs häufig dort entstehen, wo traditionelle Sozialstrukturen versagen – etwa durch Armut, Migration, Diskriminierung oder staatliche Vernachlässigung. Diese Perspektive ist bis heute anschlussfähig in der Subkultur- und Kriminalitätstheorie.
Norbert Elias & John L. Scotson – Etablierte und Außenseiter
In ihrer klassischen Studie The Established and the Outsiders (1965) analysierten Elias und Scotson, wie soziale Gruppen durch gemeinsame Geschichte, Zugehörigkeit und Deutungsmacht andere Gruppen ausgrenzen. Die Etablierten kontrollieren öffentliche Narrative, setzen Normen und definieren, was als deviant gilt – während die Außenseiter stigmatisiert, entwertet und ausgegrenzt werden.
Die Mechanismen sind subtil, aber wirksam: Die Etablierten kultivieren ihre „höhere Moral“, betonen Traditionsbewusstsein und respectability, während sie den Außenseitern Unzuverlässigkeit, Verwahrlosung oder Bedrohlichkeit unterstellen. Das Konzept ist anschlussfähig an viele aktuelle Debatten über Wohnsegregation, Stigmatisierung von migrantischen oder prekären Gruppen – aber auch innerhalb von Organisationen wie der Polizei.
Gruppen in der Polizeipraxis
Gruppen spielen auch im polizeilichen Kontext eine zentrale Rolle – sowohl im polizeilichen Alltag als auch im Gegenüber von Polizei und Bevölkerung. Dabei wirken gruppenspezifische Dynamiken auf ganz unterschiedlichen Ebenen: auf der Straße, in der Organisation und zunehmend auch im digitalen Raum.
Besondere Aufmerksamkeit gilt Jugendgruppen, die sich häufig durch enge Peer-Bindungen, Gruppenzwang und eine eigene Statusordnung auszeichnen. Devianz ist hier oft kein individuelles Phänomen, sondern Ausdruck gruppendynamischer Prozesse – etwa im Sinne von Loyalitätsbeweisen oder Abgrenzung zur Erwachsenenwelt. Präventionsstrategien müssen diese Binnenlogik verstehen, um wirksam anzusetzen.
Auch in Demonstrationslagen oder Großveranstaltungen ist Gruppenverhalten ein zentrales Thema: Massenverhalten, emotionale Ansteckung, Mobilisierung über Symbole und kollektive Erregung können Eskalationen begünstigen. Für die Polizei bedeutet das: Crowd Control ist nicht nur eine Frage der physischen Präsenz, sondern erfordert ein tiefes Verständnis für gruppendynamische Verstärkereffekte und Deeskalationsstrategien.
Nicht zu unterschätzen ist auch das gruppendynamische Geschehen innerhalb der Polizei selbst. Dienstgruppen bilden eigene Binnenmilieus mit spezifischen Interaktionsroutinen, Sprachcodes und Loyalitätsmechanismen. Diese informellen Strukturen können kollektive Handlungssicherheit fördern, aber auch problematische Verhaltensmuster stabilisieren. Der Begriff Cop Culture beschreibt diese informelle Berufskultur, die sich in Abgrenzung zur offiziellen Polizeidoktrin entwickeln kann – mit spezifischen Normen, Loyalitätsformen und Deutungsmustern.
Cop Culture – Polizei vs. Polizistenkultur
Ein weiteres Feld gruppenbezogener Dynamik stellt die zunehmende Bedeutung digitaler Gruppenformationen dar. Über Messaging-Dienste wie Telegram oder WhatsApp entstehen lose bis eng vernetzte Online-Gruppen, die gemeinsame Ziele verfolgen, sich gegenseitig bestätigen und kollektive Handlungen – etwa im Rahmen von Protestaktionen, Verschwörungsnarrativen oder Gewaltandrohungen – organisieren. Aus soziologischer Perspektive zeigen sich hier neue Gruppentypen mit hoher Mobilisierungsfähigkeit, aber oft ohne formale Struktur oder sichtbare Führung.
Für die Polizei stellt dies eine doppelte Herausforderung dar: Zum einen müssen solche Gruppen trotz Anonymität und Dezentralität erkannt und analysiert werden. Zum anderen muss das eigene polizeiliche Handeln – insbesondere im Einsatz und in der Kommunikation – die Dynamik kollektiven Verhaltens stets mitdenken, um weder durch Uniformität noch durch Fehleinschätzungen zur Eskalation beizutragen.
Merksätze zur Soziologie der Gruppe
- Eine soziale Gruppe basiert auf Interaktion, gemeinsamen Zielen und einem Wir-Gefühl.
- Primär- und Sekundärgruppen unterscheiden sich durch Nähe, Dauer und Zweck.
- Konformität, Groupthink und soziale Identität sind zentrale Dynamiken im Gruppengeschehen.
- Auch Massen oder digitale Communities zeigen gruppenähnliche Muster – mit Risiken und Potenzialen.
- Gruppen prägen polizeiliches Handeln – innerhalb wie außerhalb der Organisation.
Literatur
- Cooley, C. H. (1909). Social Organization.
- Elias, N., & Scotson, J. L. (1965). Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
- Simmel, G. (1908). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung.
- Schäfers, B. (Hrsg.) (2011). Grundbegriffe der Soziologie (7. Aufl.). Leske + Budrich.
- Tajfel, H., & Turner, J. C. (1986). The social identity theory of intergroup behavior.
- Thrasher, F. (1927). The Gang. A Study of 1,313 Gangs in Chicago.
- Janis, I. L. (1972). Victims of Groupthink.