Die Two-Path-Theory beruht u.a. auf einer Langzeitstudie zur Kriminalitätsbelastung von 1.000 neuseeländischen Jugendlichen („Die tausend Kinder von Dunedin“ oder „Dunedin-Studie“). In dieser Untersuchung wurden zwei wesentliche Entwicklungsverläufe gefunden:
- Die erste und zahlenmäßig größere Gruppe der Jugendlichen zeigte ein für das Jugendalter übliche Maß an Verhaltensauffälligkeiten. Das deviante Verhalten der Probanden aus dieser Gruppe war auf eine kurze Spanne in der Adoleszenz begrenzt. Die Forscher haben diese Gruppe daher als „adolescence limited offender“ bezeichnet.
- Die zweite und deutlich kleinere Gruppe zeigte indes vom Kleinkind-Alter an und über die gesamte Lebensspanne Verhaltensauffälligkeiten und delinquentes Verhalten. Während der Phase der Adoleszenz dienen diese verhaltensauffälligen Personen den „adolescence limited offender“ als Rollenvorbilder und verleiten Sie zur Delinquenz. Diese Gruppe der lebenslang Mehrfachauffälligen nennen die Forscher „lifecourse persistent offender„.
Moffitt führt die Verhaltensauffälligkeiten der Gruppe der lifecourse persistent offender auf neurologische Defizite zurück. Die Gruppe der adolescence limited offender weist indes keine neurologische Defizite auf; ihr antisoziales Verhalten wird durch den Kontakt zu delinquenten Peers verursacht.
Merkzettel
Two-Path-Theory nach Terry Moffitt
Hauptvertreter: Terrie E. Moffitt
Erstveröffentlichung: 1993
Land: USA
Idee/ Annahme: Terry Moffitts Two-Path-Theory ist eine Lebenslauf-Theorie, die besagt, dass es zwei Haupttypen von antisozialem Verhalten gibt. Das adolescence limited antisoziale Verhalten tritt vorübergehend während der Jugend auf und verschwindet später, während das life-course-persistent Verhalten über die Lebensspanne andauert. Moffitt argumentiert, dass genetische und Umweltfaktoren die unterschiedlichen Verläufe beeinflussen.
Steht im Widerspruch zu: Age Graded Theory/ Turning Points (Sampson & Laub)
Theorie
Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Two-Path-Theory bildet die Feststellung, dass das Alter von Tatverdächtigen in Kriminalitätsstatistiken nicht der Normalverteilung entspricht. Viele Menschen erleben während Ihrer Adoleszenz eine Phase, die durch auffälliges, antisoziales und u.U. auch kriminelles Verhalten bestimmt ist. Kriminalitätsstatistiken weisen die höchsten Kriminalitätsraten für die Altersgruppe der 17-jährigen aus. Die Kriminalitätsbelastung der Anfang 20-jährigen ist um 70% geringer. Deviantes Verhalten beschränkt sich bei den meisten Menschen auf eine relativ kurze Lebensphase, die den Übergang zum Erwachsenenalter kennzeichnet (Adoleszenz). Terrie Moffitt bezeichnet diesen Täter-Typus als adolescence limited offender.
Adolescence Limited Offender vs. Lifecourse Persistent Offender
Im Gegensatz zum adolescence limited offender weisen Kriminalitätsstatistiken Personen aus, die immer wieder und u.U. über ihre gesamte Lebensspanne durch deviantes und kriminelles Verhalten auffallen. Diese Personen bezeichnet Moffitt als lifecourse persistent offender. Kriminalitätsraten bilden dabei nur polizeilich erfasste Devianz ab. Bereits vor dieser statistischen Erfassung durch Strafverfolgungsbehörden lässt sich jedoch bei den Zugehörigen dieses zweiten Täter-Typus‘ ein Anstieg antisozialen Verhaltens nachweisen. Das antisoziale, abweichende Verhalten der lifecourse persistent offender ist auf eine neuropsychologische Dysfunktionalität zurückzuführen. Bei ca. 5% aller Kinder sind aufgrund dieser Störung bereits im Kindergarten- und Vorschulalter massive soziale Verhaltensauffälligkeiten festzustellen. Die Eltern dieser derart „beeinträchtigten“ Kinder sind mit ihrer Erziehungsaufgabe überfordert und außerstande erzieherisch entgegenzuwirken. Die fehlschlagenden erzieherischen Maßnahmen beeinträchtigen das Eltern-Kind-Verhältnis; emotionale Bindungen werden dementsprechend als wenig sicher empfunden und die Kinder stoßen vermehrt auf Ablehnung. Die Verhaltensauffälligkeiten bestimmen so die gesamte Lebensspanne der Betroffenen und reichen von antisozialem Verhalten im Kindergarten und Problemen in der Schule bis hin zu kriminellen Auffälligkeiten im Jugend- und Erwachsenenalter. Moffitt beschreibt die Kontinuität des sozial auffälligen Verhaltens der Gruppe der Lifecourse-Persisters wie folgt:
As implied by the label, continuity is the hallmark of the small group of life-course-persistent antisocial persons. Across the life course, these individuals exhibit changing manifestations of antisocial behavior: biting and hitting at age 4, shoplifting and truancy at age 10, selling drugs and stealing cars at age 16, robbery and rape at age 22, and fraud and child abuse at age 30; the underlying disposition remains the same, but its expression changes form as new social opportunities arise at different points in development. This pattern of continuity across age is matched also by cross-situational consistency: Life-course-persistent antisocial persons lie at home, steal from shops, cheat at school, fight in bars, and embezzle at work.
(Moffitt, 1993, S. 679)
Maturity Gap und Social Mimikry
Das abweichende Verhalten der adolescence limited offender ist strukturell bedingt und resultiert aus der Diskrepanz zwischen dem Autonomieanspruch und den legalen Realisierungschancen dieser Autonomiebestrebungen. Bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen wie das Autofahren oder der Konsum von (legalen) Drogen markieren den Übergang ins Erwachsenenleben. Diese Handlungen sind Heranwachsenden jedoch in der Regel verboten. Es entsteht eine Diskrepanz (Gap) zwischen dem angestrebten Status eines erwachsenen, mündigen Gesellschaftsmitglieds und den gewährten Realisierungschancen.
In dieser Phase findet eine Beeinflussung durch Gruppenmitglieder der lifecourse persistent offenders statt, die aufgrund ihres bereits devianten Lebensstils (Drogen, Sex und Autonomie) als Rollenvorbilder fungieren. Die kurzfristige Orientierung der adolescence limited offender am devianten Lebensstil der lifecourse persistent offender kann als soziale Nachahmung (social mimicry) bezeichnet werden. Sobald die Jugendlichen ein Alter erreichen, in dem ihnen der Zugang zu Objekten, Handlungen und Verhaltensweisen der Erwachsenenwelt legal gewährt wird (d.h. der Maturity Gap überwunden ist), verliert der deviante Lebensstil der lifecourse persistent offender an Attraktivität.
Die obige Grafik zeigt die bekannte Kriminalitätsverteilung über die Lebensspanne. Die Länge der Pfeile steht für die Dauer antisozialen Verhaltens.
Kriminalpolitische Implikationen
Nach der Two-Path-Theory ist eine neuropsychologische Veranlagung in Kombination mit individuellen Umweltbedingungen verantwortlich für ein u.U. zeitlebens andauerndes antisoziales, deviantes Verhalten. Von diesem „Defekt“ sind ca. 5% aller Menschen betroffen, die aber wiederum für einen Großteil der (durchschnittlich schwereren) Kriminalität verantwortlich sind. Hieraus folgt die kriminalpolitische Implikation, durch ein systematische Screening die betroffenen 5% der Bevölkerung zu identifizieren. Sozialtherapeutische Maßnahmen könnten eine unzureichende Förderung und Unterstützung durch das Elternhaus kompensieren. Da das antisoziale Verhalten bereits in frühester Jugend feststellbar ist, sind entsprechende Screenings und therapeutische Maßnahmen im Kindergarten- und Grundschulalter vorstellbar. Entsprechende Programme existieren (allerdings ohne expliziten Rückgriff auf die Two-Path-Theory) beispielsweise in Hamburg.
Kritische Würdigung und Aktualitätsbezug
Die Two-Path-Theory von Terrie Moffitt gehört zu den meist rezipierten Kriminalitätstheorien der letzten Jahre. Für ihre Arbeit wurde Frau Moffitt u.a. 2007 mit dem Stockholm Prize in Criminology ausgezeichnet (s.u.).
Die Stärke der Theorie liegt sicherlich in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität. So integriert die Theorie Annahmen lern- und kontrolltheoretischer Ansätze ebenso wie kriminologische Arbeiten zu Karrieremodellen (vgl. z.B. Bindungstheorie, General Theory of Crime, Theorie des sozialen Lernens; Age Graded Theory). Zudem stützt sich die Theorie auf eine empirische Datenbasis (vgl. unten Verweis auf FAZ vom 05.11.2006). Schließlich mag der Erfolg der Theorie auch im Rückgriff auf biologische Erklärungsfaktoren für kriminelles Verhalten begründet sein. Diese Erklärung entspricht zum einen dem allgemein zu beobachtenden Trend der Medikalisierung sozialer Probleme, zum anderen eröffnet sie eine Möglichkeit der Prävention von Devianz. Kriminalität (genauer: Devianz) wird damit zu einer kalkulierbaren, durch Screening-Tests bestimmbaren Größe, der mit therapeutischen Programmen begegnet werden kann.
Kritik wird indes an der binären Taxonomie von Moffitt geübt. In anderen Studien wurden neben den beiden hier benannten Gruppen weitere kriminelle Karriereverläufe identifiziert, die der Annahme Moffitts widersprechen. Dabei handelt es sich sowohl um Personen, die bereits früh antisoziales Verhalten zeigen, bei denen sich die kriminelle Karriere aber nicht verfestigt „childhood-onset desisters„, als auch um Personen, deren kriminelle Karriere erst im Erwachsenenalter beginnt „adult-onset offenders„.
Schließlich stehen die Studienergebnisse der Age Graded Theory von Sampson und Laub im Widerspruch zur Two-Path-Theory. Sampsons und Laubs Nachverfolgung der Probanden aus der Studie des Ehepaares Glueck aus den 1920er Jahren hat ergeben, dass ein langsames Auslaufen der kriminellen Karrieren mit steigendem Lebensalter die Regel ist (desistance from crime) (zur Kritik vgl. auch: Neubacher, 2017: 76f.)
Literatur
- Moffitt, Terrie E. (1993). Life-course-persistent and Adolescence-limited Antisocial Behavior: A developmental taxonomy. Psychological Review, 100(4), 674-701.
- Moffitt, Terrie E. et al. (2001). Sex differences in antisocial behaviour : conduct disorder, delinquency, and violence in the Dunedin longitudinal study. Cambridge [u.a.]: Cambridge Univ. Press.
Weiterführende Information
- Neubacher, F. (2017). Kriminologie (3. Aufl.). Baden-Baden: Nomos.
Terrie Moffitt ist Gewinnerin des Stockholm Prize in Criminology, 2007
The 2007 Stockholm Prize in Criminology was awarded to Alfred Blumstein and Terrie E Moffitt for their discoveries about the development of criminal behavior over the life-course of individuals.
The independent, international jury of criminologists selected the winners for their pioneering studies of the patterns of onset, persistence, frequency, severity, and desistance in criminal acts.
https://www.criminologyprize.com/
Video
Die Professoren Terrie Moffitt und Avshalom Caspi analysieren Lebenssituationen von Menschen und suchen nach Zusammenhängen zwischen genetischer Veranlagung und äußeren Einflüssen.
Professors Terrie Moffitt and Avshalom Caspi, from the Institute of Psychiatry have been awarded the prestigious prize for Productive Youth Development.
Podcast
Terrie Moffitt: Vortrag anlässlich des Fellowships der Academy of Political and Social Science
(Die Nutzung dieses Angebotes setzt die Installation des Programms iTunes voraus. Die Software ist hier kostenlos erhältlich.)
Private Webseite von Terrie Moffitt und Avshalom Caspi
Studie: Die tausend Kinder von Dunedin
(FAZ vom 05. November 2006, hier online verfügbar)
Der Studienleiter Richie Poultoun äußert sich zum Anlage-Umwelt-Verhältnis folgendermaßen:
Poulton hat aus den Lebenswegen der Dunedin-Kinder den Zusammenhang von Erbe und Umwelt für sich eindeutig und vage zugleich geklärt: Es ist immer beides. Selbst wenn man eine genetische Disposition zu gewalttätigem Verhalten besitze, seien bestimmte negative Lebenserfahrungen in bestimmten Lebensabschnitten ausschlaggebend, um tatsächlich kriminell zu werden. Gangsterkarrieren lassen sich auch in Zukunft nicht über Speicheltests an Neugeborenen vorhersagen.
Gibt es den geborenen Verbrecher?
Artikel aus der FAZ vom 07.11.2006
Genetic Basis for Crime: A New Look
Artikel in der New York Times vom 19. Juni 2011 zur Renaissance der bio-sozialen Kriminalitätstheorien (PDF)