Die allgemeine Kriminalitätstheorie (General Theory of Crime) erklärt, wie andere Kontrolltheorien auch, die Abwesenheit und nicht das Entstehen von Kriminalität. Dies führt sie auf Selbstkontrolle zurück. Verfügt ein Individuum über wenig Selbstkontrolle, und hat es die Gelegenheit zur Kriminalität, wird kriminelles Verhalten wahrscheinlicher. Da die Gelegenheiten zur Kriminalität weit verbreitet sind, ist mangelnde Selbstkontrolle als hauptsächliche Ursache von Kriminalität anzusehen.
Hauptvertreter
Michael R. Gottfredson und Travis Hirschi
Theorie
Gottfredson und Hirschis General Theory of Crime setzt es sich ausdrücklich zum Ziel, alle Formen von Kriminalität zu erklären. Sie unterscheidet zwischen:
- „criminality“ – der Neigung oder Tendenz zum kriminellen Verhalten
- „crime“ – der eigentliche Akt, durch den das Gesetz gebrochen wird
Gottfredson und Hirschi erkennen, dass ein Verbrechen nur dann stattfinden kann, wenn die Neigung zur Kriminalität mit einer Gelegenheit zusammentrifft. Da jedoch für die meisten Formen der Kriminalität sich vielfache Gelegenheiten anbieten, ist der entscheidende Faktor jedoch die „criminality“ des potentiellen Täters.
Die Neigung zum kriminellen Verhalten ist Konsequenz niedriger Selbstkontrolle. Diese Selbstkontrolle entwickelt sich früh im Leben eines Menschen. Ein Mangel an Selbstkontrolle entsteht, wenn Eltern ihre Kinder nicht ausreichend beaufsichtigen, deviantes Verhalten bei ihren Kindern nicht erkennen oder nicht angemessen darauf reagieren. Selbstkontrolle kann auch dann nicht ausreichend entwickelt werden, wenn die Eltern selber nicht die entsprechenden Fähigkeiten entwickelt haben. Die Entwicklung der Selbstkontrolle findet im Rahmen der Sozialisation statt. Die Autoren gehen davon aus, dass sich Selbstkontrolle bis etwa zum achten Lebensjahr entwickelt hat und danach ein relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal darstellen.
Personen, die ausreichend Selbstkontrolle entwickelt haben, fällt es leichter, Impulsen, sich kriminell zu verhalten, zu widerstehen. Personen, die ein Mangel an Selbstkontrolle haben, neigen eher dazu im „Hier und Jetzt“ zu leben: Gottfredson und Hirschi beschreiben insbesondere, dass sie nach “Geld ohne Arbeit, Sex ohne Umwerben, Rache ohne verspäteten Prozess” (1990:89) streben.
Des Weiteren, geht niedrige Selbstkontrolle auch mit Eigenschaften wie mangelnder Gewissenhaftigkeit, geringem Durchhaltevermögen und mangelnder Zuverlässigkeit einher. Hiermit erklären die Autoren den Zusammenhang von Schulabbrechern und Arbeitslosigkeit und Kriminalität.
Der Umstand, dass nicht alle Menschen mit einem geringen Maß an Selbstkontrolle kriminell werden, führen Gottfredson und Hirschi auf die unterschiedliche Gelegenheitsstruktur zurück.
Nach Gottfredson und Hirschi erklärt die „General Theory of Crime“ sämtliche Formen von Kriminalität, in jedem Zeitalter, sowie viele andere Formen des devianten Verhaltens.
Hirschis Bindungstheorie und die General Theory of Crime im Vergleich
Die wesentlichen Differenzen zwischen Hirschis Bindungstheorie und der General Theory of Crime sind in der unten stehenden Tabelle zusammengefasst. Laut Bindungstheorie sind externe Kontrollinstanzen und -akteure für eine soziale Bindung des Individuums an die Gesellschaft und deren Normen und Werte verantwortlich. Je stärker diese Bindungen ausgeprägt sind, desto unwahrscheinlicher ist das Auftreten von Kriminalität. Da soziale Bindungen in ihrer Art und Stärke veränderbar sind, ist auch die Stabilität der Kontrolle variabel.
Im Gegensatz hierzu argumentieren Gottfredson uns Hirschi in der General Theory of Crime, dass eine in der Kindheit entwickelte Selbstkontrolle maßgeblich für das Auftreten von Kriminalität ist. Ein aufgrund von Erziehungsdefiziten unterentwickeltes Maß an Selbstkontrolle kann in der späteren Lebensspanne nicht kompensiert werden und stellt ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal dar.
zentrale Aspekte der Theorie | Hirsches Theorie sozialer Bindungen | Gottfredson und Hirsches Selbstkontrolltheorie |
---|---|---|
Wesen der Kontrolle | soziale Bindungen | Selbstkontrolle |
Ort der Kontrolle | external: abhängig von der Qualität der Einbettung in die Gesellschaft | internal |
Stabilität der Kontrolle | im Lebenslauf veränderbar bei Veränderung der Stärke sozialer Bindungen | in der Kindheit entwickeltes stabiles Persönlichkeitsmerkmal |
Zusammenhang von sozialer Bindung und Kriminalität | ursächlich: die Bindungsqualität bestimmt das Niveau der Kriminalität | scheinbar (spurious): Sowohl die Qualität der Bindungen als auch das Niveau der Kriminalität werden durch das Niveau der Selbstkontrolle beeinflusst. |
Kriminalpolitische Implikationen
Die General Theory of Crime als auch die Bindungstheorie konzentrieren sich in ihrer Erklärung von deviantem Verhalten auf die soziale Kontrolle, die von Institutionen auf das Individuum ausgeübt wird. Sie unterscheiden sich voneinander vor allem darin, dass sie den Institutionen zu verschiedenen Zeiten im Lebenslauf eines Menschen besondere Bedeutung zumessen.
Während die Bindungstheorie von einer fortlaufenden Bedeutung der Institutionen im Leben eines Menschen ausgeht, sind sie in der General Theory of Crime vor allem die frühen Lebensjahre wichtig.
Die kriminalpolitischen Implikationen der beiden Theorien sind daher ähnlich, aber nicht identisch. Ziel bei beiden Theorien ist es, diejenigen Institutionen zu stärken, die die soziale Kontrolle herstellen. Bei der Bindungstheorie kommen hier vielfältige Akteure und Institutionen der sozialen Umwelt eines Individuums in Frage. Gemäß der General Theory of Crime obliegt die Verantwortung für eine Entwicklung eines hohen Maßes an Selbstkontrolle vor allem dem Elternhaus und der Schule, da diese Entwicklung ca. im achten Lebensjahr abgeschlossen ist. Kontrolltheorien werden daher auch als Grundlage für soziale Programmen der Kriminalitätsprävention verwendet. Dazu gehören Programme, die darauf zielen, Jugendliche stärker in konventionelle Aktivitäten einzubinden sowie Programme, die Eltern schon früh bei der Erziehung ihrer Kinder unterstützen.
Die kriminalpolitischen Implikationen von Kontrolltheorien stehen daher vor allem für Präventions- und Erziehungsmaßnahmen, die den Fokus auf die Stärkung der Gemeinschaft legen. Um deviantem Verhalten vorzubeugen, ist bei der Erziehung die Betonung von bürgerlichen Werten wichtig. Diese können zum Beispiel in Bildungseinrichtungen vorgelebt und verkörpert werden.
Kontrolltheorien bilden jedoch auch die Grundlage des ‚Right Realism‚ in der Kriminologie. Dies lässt sich wohl damit erklären, dass die Stärkung von Familie und die starke Orientierung an klassischen Werten auch rechts-gerichteter Politik ähnelt. Allerdings führen sie im ‚Right Realism‘ nicht zu der Schlussfolgerung, dass Kriminalität am besten durch soziale Programme und Unterstützung von Familien vorzubeugen sei.
Kontrolltheorien sind weiterhin wichtig für Ansätze von Restorative Justice. Reintegrative Shaming nach John Braithwaite enthält viele Grundlagen der Kontrolltheorien.
Kritische Würdigung und Aktualitätsbezug
Empirisch hat sich in verschiedenen Untersuchungen ein Zusammenhang zwischen Selbstkontrolle und deviantem Verhalten feststellen lassen. In ihrer Meta-Analyse von insgesamt 21 Studien stellten Pratt und Cullen (2000) fest, dass Selbstkontrolle im Schnitt 19% Varianz bei deviantem und kriminellem Verhalten ausmacht. Auch Akers und Seller (2004) kamen bei einer Sichtung der verschiedenen Studien zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie bescheinigen der Kontrolltheorie, dass es einen schwachen bis mittelstarken Zusammenhang zwischen Selbstkontrolle und deviantem Verhalten gibt (Akers & Seller 2004).
Empirisch nicht belegbar ist jedoch die Behauptung Gottfredson und Hirschis, dass sich alle Formen von Kriminalität mit dieser Theorie erklären lassen. Im Gegensatz zu vielen anderen Theorien lassen sich mit der General Theory of Crime sehr plausibel Affekthandlungen erklären (z.B. Körperverletzungen, sexuelle Übergriffe, aber auch typische Delikte im Jugendalter wie etwa Ladendiebstähle oder der Drogenkonsum). Weniger plausibel ist jedoch, die Annahme, dass z.B. Betrugsdelikte auf eine mangelnde Selbstkontrolle zurückzuführen ist. Im Gegenteil muss angenommen werden, dass beispielsweise ein Anlagebetrüger oder Heiratsschwindler, der seinen Opfern über einen langen Zeitraum falsche Versprechungen macht und eine Lügengeschichte verbreitet, zwingend über ein hohes Maß an Selbstkontrolle verfügen muss.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass mangelnde Selbstkontrolle nicht als einzige Ursache von Kriminalität gesehen werden kann. Manche Kritiker gehen so weit, die General Theory of Crime als tautologisch zu bezeichnen und werfen ihr zirkuläres Argumentieren vor (Akers and Sellers 2004). Wenn niedrige Selbstkontrolle als mangelnde Fähigkeit definiert wird, der Versuchung zum devianten Verhalten zu widerstehen und dann selbiger Mangel an Selbstkontrolle als Ursache von Kriminalität angesehen wird, dann ist die Theorie in der Tat tautologisch. Gottfredson und Hirschi definieren das Konzept von Selbstkontrolle nur in Zusammenhang mit Kriminalität. Demnach sagt die Theorie aus: Kriminalität entsteht dann, wenn Individuen den Hang haben, sich kriminell zu verhalten. Um diesem Problem zu entgehen, wäre es nach Akers und Sellers notwendig, eine umfassendere Definition von Selbstkontrolle zu entwickeln.
Literatur
Primärliteratur
- Gottfredson, Michael R., and Travis Hirschi. (1990). A General Theory of Crime. Stanford, CA: Stanford University Press.
Sekundärliteratur
- Akers, R.L., and Sellers. C.S. (2004) Criminological Theory: Introduction, Evaluation, and Application. 4th Edition. Los Angeles; Roxbury Publishing.
- Pratt, Travis C.; Cullen, Francis T.: The emperical status of Gottfredson and Hirschi’s „General Theory of Crime“: a meta-analysis. Criminology, 38(3), 2000, 931-964.
- Hirschi, Travis; Gottfredson, Michael: Commentary: Testing the General Theory of Crime. Journal of Research in Crime and Delinquency, 30(1), 1993, 47-54.
- T. David Evans et. al.: The social consequences of self-control: Testing the General Theory of Crime. Criminology, 35(3), 1997, 475-504.