„Successful failure“ – mit dieser paradoxen Formel beschrieben Ian Loader und Richard Sparks 2010 den Zustand der KriminologieKriminologie ist die interdisziplinäre Wissenschaft über Ursachen, Erscheinungsformen und gesellschaftliche Reaktionen auf normabweichendes Verhalten. Sie untersucht insbesondere Prozesse sozialer Kontrolle, rechtliche Rahmenbedingungen sowie individuelle und strukturelle Einflussfaktoren. im angelsächsischen Raum. Die Disziplin sei institutionell erfolgreich – mit wachsender Studierendenzahl, akademischen Programmen und Fachzeitschriften –, aber politisch einflusslos. Ihre Analysen, Warnungen und Erkenntnisse verhallten ungehört.
Fünfzehn Jahre später stellt sich die Frage: Wie steht es um die Kriminologie in Deutschland? Die Antwort fällt ernüchternd aus. Während in Großbritannien und den USA zumindest die Möglichkeit einer Public Criminology diskutiert wird, bewegt sich die deutschsprachige Kriminologie kaum über den Status eines failed failure hinaus. Nicht einmal das Versprechen institutioneller Stärke kann sie für sich reklamieren. Weder ist die Kriminologie hierzulande als eigenständige DisziplinDisziplin bezeichnet ein System der Verhaltensregulierung durch Überwachung, Kontrolle und körperliche bzw. geistige Dressur. an den Universitäten verankert, noch gelingt ihr eine systematische Einmischung in politische Diskurse oder öffentliche Debatten.
Zwischen Marginalisierung und Alibifunktion
Was sich in Deutschland als Kriminologie bezeichnen darf, ist häufig ein Anhängsel der Rechtswissenschaften oder eine Spielart administrativer Politikberatung. Die wenigen Versuche, eine kritisch-sozialwissenschaftliche Kriminologie zu etablieren, sind rückläufig. Das prominenteste Beispiel: Der kriminologische Masterstudiengang an der Universität Hamburg – lange Zeit ein Leuchtturm kritischer Kriminologie – wurde eingestellt. Ein klares Signal für die politische und institutionelle Geringschätzung der Disziplin.
Statt als Public Criminology zu wirken, fungiert die Kriminologie hierzulande oft als Feigenblatt. Ihre kritischen Stimmen werden zwar eingeladen, dürfen mitreden – aber selten mitentscheiden. Die Evaluierung neuer polizeilicher Kontrollinstrumente wie Bodycams, Taser oder Videoüberwachung wird wissenschaftlich begleitet, doch kritische Bewertungen bleiben folgenlos. Empfehlungen werden zur Kenntnis genommen, aber nicht umgesetzt. Der politische Kurs bleibt unangetastet.
Ein hoher Bedarf an kritischer Kriminologie
Dabei war der Bedarf an einer kritischen, analytisch fundierten Kriminologie selten so hoch wie heute. Das kontinuierliche Erstarken autoritärer, libertärer und rechtsextremer Kräfte – nicht nur in den USA unter Trump, sondern auch in Europa (etwa in Italien, Ungarn, Polen, Tschechien und nicht zuletzt Deutschland mit einer erstarkenden AfD) – zeigt den dringenden Bedarf an einer Wissenschaft, die Mechanismen sozialer Kontrolle hinterfragt und Machtverhältnisse offenlegt.
Auch auf transnationaler Ebene ist die Kriminologie gefragt: Die Migrationsbewegungen nach Europa, der Krieg in der Ukraine, die Eskalation im Nahostkonflikt zwischen Israel und der Hamas, aber auch zukünftige Fluchtbewegungen infolge der globalen Klimakrise verlangen nach einer Border Criminology, die geopolitische Prozesse mit Fragen von Kriminalisierung, Kontrolle und Menschenrechten zusammendenkt. Hinzu kommen queerfeindliche Tendenzen, die in vielen Ländern zunehmen, sowie symbolpolitische Kulturkämpfe (um Gendern, Klimakleber, Ernährung, sexuelle Identität), die von den eigentlichen gesellschaftspolitischen Aushandlungsprozessen ablenken. Der Ruf nach einer Green CriminologyGreen Criminology ist ein interdisziplinärer Ansatz in der Kriminologie, der sich mit Umweltkriminalität, Umweltzerstörung und den gesellschaftlichen Konsequenzen ökologischer Schäden auseinandersetzt., nach einer reflexiven und transdisziplinären Wissenschaft der sozialen Kontrolle, ist lauter denn je.
Wissenschaftliche Vernunft gegen populistische Sicherheitsrhetorik
In öffentlichen Debatten wiederholen Kriminolog:innen gebetsmühlenartig, dass:
- KriminalitätKriminalität bezeichnet gesellschaftlich normierte Handlungen, die gegen das Strafgesetz verstoßen. kein Importproblem ist, sondern ein soziales Phänomen,
- der Begriff „Clankriminalität“ rassistisch aufgeladen und analytisch fragwürdig ist,
- die wirklich gefährlichen Kriminalitätsformen nicht auf der Straße, sondern in Chefetagen und Ausschüssen stattfinden.
Doch diese Erkenntnisse stoßen auf wenig Resonanz. Die mediale und politische Erregungsökonomie folgt anderen Logiken. Schlagzeilen und Schlagstöcke haben Vorrang vor soziologischen Differenzierungen.
Verlierer in der Aufmerksamkeitsökonomie
Es mangelt nicht an kritischen Stimmen, an fundierten Analysen, an mahnenden Appellen. Aber sie verhallen. Sie sind zu leise, zu differenziert, zu wenig kompatibel mit der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie. Gehör und Reichweite bekommen diejenigen, die polarisieren – nicht die, die erklären. In einer medialen Verwertungslogik, in der Klicks über Relevanz entscheiden, ist ein rassistisches Konzept wie „Remigration“ wertvoller als jedes Plädoyer für soziale Inklusion oder PräventionVorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung von Straftaten oder sozialen Problemen.. Die abwägenden Grautöne einer verstehenden Devianzsoziologie verlieren gegen die Lautstärke von den Ulf Poschardts, Julian Reichelts, Manuel Ostermanns und anderen medialen Vereinfachern.
Diese Dynamik dürfte sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen. Die Entscheidungsmacht darüber, was gesehen, geklickt und gehört wird, liegt zunehmend in den Händen von Konzernen, deren Besitzer mit demokratischer Deliberation wenig anfangen können. Seit Elon Musk den Kurznachrichtendienst Twitter übernommen hat, hat sich dieser von einem zivilisierten, globalen Caféhaus der Intellektuellen, Witzbolde und Wissbegierigen zur primitiven Hafenkneipe voller Bullies, Pöbler und Rassisten entwickelt. Der jüngste Vorstoß von Musk betrifft die Wikipedia, die dem reichsten Menschen der Welt zu politisch links und nicht objektiv erscheint. Er kündigte an, eine Alternative entwickeln zu wollen (Spiegel Online).
Eine Kriminologie, die sich nicht darauf einstellt, wird weiter an Sichtbarkeit verlieren.
Fähige Stimmen – ohne Resonanz
Es ist jedoch keineswegs so, dass es an kompetenten, kritischen Kriminolog:innen in Deutschland mangelt. Im Gegenteil: Es gibt zahlreiche engagierte, fundiert arbeitende Wissenschaftler:innen, die seit Jahren wertvolle Beiträge leisten. Doch in der öffentlichen Debatte tauchen sie kaum auf. Das liegt nicht nur an medialen Strukturen, sondern auch an hausgemachten Problemen.
Das Kriminologische Journal – das Leitmedium kritischer Kriminologie im deutschsprachigen Raum – verfügt über eine höchst mittelprächtige, wenig benutzerfreundliche Online-Präsenz. Ein Social-Media-Auftritt fehlt vollständig. Gleiches gilt für den größten institutionellen Zusammenschluss kritischer Kriminolog:innen in Deutschland, die GiwK. Die Kommunikation erfolgt zumeist in geschlossenen Zirkeln, selten adressatenorientiert und fast nie öffentlichkeitswirksam.
Letztlich sind es vielleicht ein bis drei Dutzend Wissenschaftler:innen, die in unterschiedlichen Konstellationen öffentlich auftreten – oft im Kreis Gleichgesinnter, kaum über die Fachöffentlichkeit hinaus. Das FeldEin Feld ist ein relativ autonomer sozialer Raum mit eigenen Regeln, Akteuren und Machtverhältnissen, in dem soziale Positionen und Kämpfe ausgetragen werden. wird den Lauten überlassen: den Hetzern, Proleten und Rassisten. Eine selbstbewusste, pluralitätsfähige und öffentlichkeitswirksame Kriminologie sieht anders aus.
Was tun? Disziplinäre Selbstvergewisserung statt Rückzug
Die Konsequenz aus dieser Diagnose darf jedoch kein Rückzug ins akademische Schneckenhaus sein. Gerade in einer Zeit, in der Sicherheitspolitik zunehmend autoritär aufgeladen wird, braucht es eine kriminologische Stimme, die Komplexität sichtbar macht, Ungleichheit benennt und Legitimationsfassaden entlarvt. Die Kriminologie muss sich emanzipieren – von ihrer Rolle als „Beifahrerin der Inneren Sicherheit“ (Scheerer) – und den Mut entwickeln, sich nicht nur mit Mikrofragen der Evaluation, sondern mit den Makrofragen gesellschaftlicher Kontrolle und MachtMacht bezeichnet die Fähigkeit von Personen oder Gruppen, das Verhalten anderer zu beeinflussen – auch gegen deren Willen. zu beschäftigen.
Eine Public Criminology im deutschsprachigen Raum ist überfällig. Nicht als PR-Maßnahme, sondern als notwendige Form wissenschaftlicher Gegenmacht. Sie muss unbequem sein dürfen – oder sie wird irrelevant bleiben.
Und manchmal träumt man doch vom Schafehüten
Max Frisch schrieb einst in Stiller: „Man sollte irgendwo in Griechenland Schafe hüten. Ohne Sprache. Ohne Vergangenheit.“ Es ist der Gedanke eines Mannes, der an der Welt leidet – nicht aus Eskapismus, sondern aus Überdruss an ihrer Unveränderbarkeit.
Auch die Kriminologie hat Anlass genug, sich nach Rückzugsorten zu sehnen: weg von Sicherheitsdiskursen, Evaluationsstudien und der ritualisierten Machtlosigkeit kritischer Expertise. Vielleicht wäre es also wirklich an der Zeit, irgendwo in Griechenland Schafe zu hüten.
Vorausgesetzt, die fortschreitende Klimakrise hat Griechenland bis dahin nicht endgültig verdorren und abbrennen lassen.
Literatur
- Loader, I., & Sparks, R. (2011). Public Criminology? Routledge.
- Scheerer, S. (2002). Zwischen Wissenschaft und Staatsraison. Über das schwierige Verhältnis von Kriminologie und Innenpolitik. In B. Bannenberg & H. Kury (Hrsg.), Kriminologie und Gewalt. Festschrift für Hans-Dieter Schwind zum 70. Geburtstag (S. 239–253). Heidelberg: Kriminalistik Verlag.


