Edwin M. Lemert unterscheidet primäre und sekundäre Devianz. Ein Individuum begeht zuerst primäre Devianz. Durch einen Prozess des Labelling (Etikettierung) wird dem Individuum die Rolle des Devianten aufgedrängt. Als Reaktion auf diese Rollenzuweisung („Du bist kriminell!“), passt der Etikettierte sein Verhalten entsprechend der ihm zugewiesenen Rolle an („Dann bin ich eben kriminell!“). Diese Verhaltensreaktion wird als sekundäre Devianz bezeichnet.
Theorie
In seinem 1951 erschienenen Buch Social Pathology entwickelt Lemert das Konzept der sekundären Devianz. Die Perspektive entwickelt er 1967 in seinem Buch Human deviance, social problems, and social control weiter. Obwohl Lemert selbst den Begriff der gesellschaftlichen Reaktion dem Begriff des Labelings vorzog, ist Lemerts Unterscheidung zwischen primärer zu sekundärer Devianz eine entscheidende Entwicklung bei der Formulierung der Labeling-Theorie.
Primäre und sekundäre Devianz nach Edwin M. Lemert
Hauptvertreter: Edwin M. Lemert
Erstveröffentlichung: 1951 (Social Pathology)
Land: USA
Idee/ Annahme: Lemert unterscheidet zwischen primärer Devianz (erste abweichende Handlungen ohne Identitätsänderung) und sekundärer Devianz (abweichendes Verhalten als Reaktion auf gesellschaftliche Zuschreibung und gesellschaftliche Fixierung negativer Merkmale an Einzelpersonen oder Gruppen, die zu sozialer Abwertung und Ausschluss führen.">Stigmatisierung und Etikettierung). Durch soziale Reaktionen verfestigt sich deviantes Verhalten.
Knüpft an: Symbolischer Interaktionismus (z.B. George H. Mead, Charles Horton Cooley)
Theoretische Fundierung des Labelling-Ansatzes
Der Labelling-Ansatz basiert auf den Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus. Zentral ist die Vorstellung, dass soziale Wirklichkeit durch zwischenmenschliche Interaktionen konstruiert wird. Bedeutungen entstehen nicht objektiv, sondern im Austausch zwischen Akteuren.
Für den Labelling-Ansatz bedeutet dies: Abweichendes Verhalten ist kein inhärentes Merkmal einer Handlung, sondern das Ergebnis sozialer Definitionen und Reaktionen. Menschen übernehmen im Laufe der Interaktion gesellschaftlich zugeschriebene Rollen – etwa die Rolle des „Kriminellen“.
Wichtige Impulsgeber waren George Herbert Mead (Konzept des „Self“ und der sozialen Identität) und Charles Horton Cooley (Theorie des „Looking-Glass Self“), die beide betonten, dass das Selbstbild durch die Wahrnehmung und Bewertung anderer entsteht.
Primäre Devianz
Primäre Devianz entsteht aus verschiedenen soziokulturellen und psychologischen Ursachen. In anderen Worten beschreibt der Begriff der primären Devianz abweichendes Verhalten, welches aus einer dem Täter zuzuschreibender Ursache stattfindet. Während primäre Devianz zwar als unerwünscht erkannt wird, wirkt sie sich nicht weiter auf den Status und das Selbstbild des/der Devianten aus. Der/die Deviante definiert sich selber nicht über die Devianz, sondern rationalisiert und verharmlost sie. Somit kann ein positives Selbstbild, welches mit der eigenen Rolle in der Gesellschaft einhergeht, aufrecht gehalten werden.
Sekundäre Devianz
Sekundäre Devianz wird durch auf die primäre Devianz folgende Reaktionen ausgelöst. Die gesellschaftliche Reaktion auf deviantes Verhalten sorgt dafür, dass der/die Deviante stigmatisiert wird. Diese gesellschaftlichen Reaktionen beinhalten, dass der/die Deviante als kriminell gelabelt (etikettiert) wird. Dieses Label widerspricht jedoch dem Selbstbild des Etikettierten und ist somit nicht rollenkonform. Um der dadurch entstehenden kognitiven Dissonanz zu entweichen, übernimmt das Individuum letztendlich das Label „deviant“ oder „kriminell“ und passt sein zukünftiges Verhalten dementsprechend an.
Der Übergang von primärer zu sekundärer Devianz stellt für Lemert einen Aufschauklungsprozess dar. Auf zunehmende Devianz folgen zunehmend intensivere gesellschaftliche Reaktionen, welche dafür sorgen, dass sich Devianz verfestigt.
Primäre und sekundäre Devianz
Primäre Devianz: Erste abweichende Handlung eines Individuums, die oft keine gravierenden Auswirkungen auf dessen Selbstbild oder gesellschaftlichen Status hat. Die Person sieht sich selbst noch nicht als „abweichend“.
Sekundäre Devianz: Entsteht als Folge gesellschaftlicher Reaktionen (z.B. Etikettierung und Stigmatisierung). Das Individuum übernimmt die zugeschriebene Rolle des „Abweichlers“ und verhält sich zunehmend entsprechend dieser Erwartung.
Lemerts Konzept der sekundären Devianz bereitete den Boden für spätere Theorien wie die radikale Labeling-Theorie (Fritz Sack) oder Konzepte wie Reintegrative Shaming (John Braithwaite), die den gesellschaftlichen Umgang mit Devianz differenzierter analysierten.
Kritische Würdigung und Aktualitätsbezug
Die Ansätze von Edwin M. Lemert und Howard S. Becker zählen sicherlich zu den einflussreichsten Theorien, der (kritischen) Kriminologie. Das Verständnis, dass Strafe und soziale Sanktionen paradox wirken können und weiteres deviantes Verhalten hervorrufen können, beeinflusste eine Vielzahl von anderen Theorien.
Seit ihrer Entstehung sind Labeling-Theorien jedoch auch häufig Kritik ausgesetzt gewesen. An Lemerts Theorie kann insbesondere kritisiert werden, dass er der primären Devianz nicht genug Gewicht beimisst. Es ist fraglich, welchen Anteil eines devianten Verhaltens mittels Lemerts Theorie wirklich erklärt werden. Kritisiert wird insbesondere, ob Delikte die als sekundäre Devianz gekennzeichnet werden können, nicht nur einen kleinen Anteil ausmachen. Dieser Kritikpunkt wird vermehrt von Verfechtern der positivistischen Kriminologie hervorgebracht. Diese vertreten häufig den Standpunkt, dass sekundäre Devianz (wenn überhaupt) nur einen relative geringen Anteil von kriminellem Verhalten erklären kann. Für sie ist hingegen die Frage viel interessanter, warum Menschen überhaupt anfangen, deviantes Verhalten zu zeigen.
Vom anderen Ende des politischen Spektrums werden Beckers und Lemerts Ansätze dafür kritisiert, dass sie überhaupt von der Existenz primärer Devianz ausgehen. Der Ansatz des Radikalen Labeling nach Fritz Sack zum Beispiel geht davon aus, dass Devianz ubiquitär ist. Aus dieser Perspektive ist einzig und allein der Vorgang des Labelings dafür verantwortlich, wen wir als kriminell bezeichnen und wen nicht.
Der Aufschauklungsprozess und die Self-Fulfilling Prophecy
Nach Lemert führt die gesellschaftliche Etikettierung dazu, dass eine Person zunehmend als „abweichend“ behandelt wird. Diese Behandlung verändert das Selbstbild des Etikettierten, der sich schließlich selbst als abweichend wahrnimmt. Dadurch wird abweichendes Verhalten verstärkt und stabilisiert. Dieser Kreislauf beschreibt eine klassische Self-Fulfilling Prophecy: Eine soziale Zuschreibung bewirkt genau das Verhalten, das sie ursprünglich unterstellt.
Ein weiterer Kritikpunkt an Labelingansätzen ist, dass sie sich zumeist nur auf bestimmte ‚leichte‘ Formen der Kriminalität beziehen. Es ist fraglich, inwieweit Taten wie Mord, Vergewaltigung oder Kriegsverbrechen wirklich nur deshalb als kriminell anzusehen sind, weil sie als solche gelabelt werden. Auch ist es fraglich, welche Rolle der Aspekt der Etikettierung bei ‚verdeckten‘ Formen der Devianz (z.B. Steuerhinterziehung, Kindesmissbrauch) spielt.
Kriminalpolitische Implikationen
Da Labelingansätze davon ausgehen, dass gesellschaftliche Reaktionen auf deviantes Verhalten einen verstärkenden Effekt auf dieses haben (können), legen sie nahe, dass diese Formen der ‚etikettierenden‘ Interventionen möglichst vermieden werden sollten.
Entkriminalisierung, alternative Konfliktlösungsmodelle und Deinstitutionalisierung sind demnach vielversprechende Maßnahmen, um sekundärer Devianz vorzubeugen. Stigmatisierende Strafen und ein stigmatisierender Umgang der Polizei mit Tatverdächtigen sollten dagegen vermieden werden.
Die wichtigste kriminalpolitische Implikation von Labeling-Theorien ist, dass ‚Law and Order‘ (siehe hier) und andere intensive und repressive Formen des Policings eine paradoxe, nicht-intendierte Wirkung haben können – also dazu führen können, dass Kriminalitätsraten steigen und nicht sinken.
Mit den kriminalpolitischen Implikationen der Labeling Theorien haben sich auch John Braithwaite und Lawrence Sherman in ihrem Konzept von Gemeinschaft zu beheben.">Restorative Justice beschäftigt.
Literatur
Primärliteratur
- Lemert, Edwin M. (1951) Social Pathology: a Systematic Approach to the Theory of Sociopathic Behavior. New York u.a.: McGraw-Hill.
- Lemert Edwin M. (2016) Der Begriff der sekundären Devianz. In: Klimke D., Legnaro A. (Hrsg.) Kriminologische Grundlagentexte (S. 125-137). Wiesbaden: Springer VS.
Weiterführende Informationen
- Nachruf auf Edwin M. Lemert: http://www.sonoma.edu/ccjs/info/Edintro.html
- Societal Reaction and the Contribution of Edwin M. Lemert