In seinem 1963 erschienen Buch Outsiders (deutsch: Außenseiter, 1973) beschreibt Becker die Vorgänge, durch die bestimmte Verhaltensweisen kriminalisiert werden. Sogenannte Moralunternehmer („Moral Entrepeneurs“) bemühen sich, ein von ihnen wahrgenommenes Übel durch die Schaffung und Durchsetzung von Normen zu verhindern. Die Gruppen, die das neu kriminalisierte Verhalten weiterhin ausüben, werden damit zu Außenseitern („Outsidern“). Durch diese Prozesse werden nach Becker selbsterfüllende Prophezeiungen aktiv.
Hauptvertreter
Theorie
In ”Outsiders” untersucht Becker u.a. Marihuana-Konsumenten und die Versuche von sog. Moralunternehmern (Moral Entrepreneurs), diesen Konsum zu kriminalisieren. Das Beispiel dient Becker, um einerseits zu illustrieren, dass gesellschaftliche Regeln das Werk spezifischer gesellschaftlicher Gruppen sind und andererseits zu zeigen, inwiefern die Durchsetzung von Regeln den Beginn einer devianten Karriere markieren können. Diese beiden Prozesse sind im Folgenden beschrieben.
Becker beschreibt in seiner Theorie, wie Verhalten kriminalisiert wird. Wichtig für ihn ist die Grundannahme, dass Kriminalität ein Produkt von Zuschreibungen ist. Dieser Prozess ist für Becker auf zwei verschiedenen Stufen selektiv:
- Welche Verhaltensweisen kriminalisiert werden, ist selektiv.
- Bestehende Normen werden selektiv durchgesetzt. Das heißt, dass nicht alle Normbrüche in gleicher Weise bestraft werden.
Die wahrscheinlich prägnanteste Zusammenfassung des Prozesses der Kriminalisierung gesellschaftlicher Abweichler wird von Becker in „Outsiders“ selbst gegeben. Der viel zitierte Ausspruch lautet:
Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem „Missetäter“. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen als solches bezeichnen.
(Becker, 2019, S. 4.)
Damit jemand zum Abweichler wird, muss sein Verhalten gegen eine bestehende Norm verstoßen und diese Norm muss auch durchgesetzt werden (siehe Tabelle 1). Für Becker ist nun die Frage interessant, wie bestimmt wird, welche Verhaltensweisen verfolgt werden und welche nicht.
Tabelle 1: Typen abweichenden Verhaltens
gehorsames Verhalten |
regelverletzendes Verhalten |
|
---|---|---|
als abweichend empfunden |
fälschlich beschuldigt | rein abweichend |
nicht als abweichend empfunden |
konform | heimlich abweichend |
Eine selektive Durchsetzung von Regeln zeigt sich beispielsweise im polizeilichen Umgang mit jugendlichen Devianten aus der Mittelschicht und der Unterschicht, im polizeilich/ justiziellen Umgang mit ethnischen Minoritäten oder dem gesellschaftlichen Umgang mit jungen Müttern und Vätern in unehelichen Beziehungen (letztgenanntes Beispiel erscheint mit Blick auf die heute vorherrschende Sexualmoral weniger geeignet).
Moralunternehmer kreieren Outsider
Das Aufstellen und die Durchsetzung von Regeln geht mit politischer und wirtschaftlicher Macht einher. Diejenigen, deren Verhalten durch die aufgestellte Regel reguliert wird, müssen Ihr Verhalten jedoch keineswegs als abweichend/ falsch empfinden. So stellen beispielsweise üblicherweise Erwachsenen Regeln auf, die von Jugendlichen befolgt werden müssen, Mittelschichtsangehörige stellen Regeln auf, denen Unterschichtsangehörige folgen müssen. Führt man sich vor Augen, dass ein mehrheitlich von Männern besetzte Legislative und Judikative den Schwangerschaftsabbruch für illegal, ein Züchtigungsrecht des Mannes wie auch eine Vergewaltigung in der Ehe aber für legal erklärte, muss dasselbe ungleiche Machtverhältnis auch mit Blick auf Geschlechterunterschiede konstatiert werden. Der Prozess der Aufstellung und Durchsetzung von Regeln wird an dem folgenden Schaubild verdeutlicht.
Anhand zahlreicher Beispiele wie z.B. der (Alkohol-) Abstinenzbewegung in den USA oder des Marihuana Tax Act arbeitet Becker in „Outsiders“ detailliert heraus, wie es zur Aufstellung und Durchsetzung neuer Regeln kommt. Am Anfang dieses Prozesses steht ein Regelsetzer. Becker wählt hier die Analogie eines Kreuzritters, da der Regelsetzer auf seinem moralischen Kreuzzug in der festen Überzeugung handelt das Richtige zu tun und einer „heiligen“ – oftmals humanitär motivierten – Mission zu folgen. Diese besteht im Versuch, ein entdecktes und bislang unreguliertes Verhalten zu regulieren und so ein Übel aus der Welt zu schaffen.
Der Regelsetzer sucht nun nach Unterstützung durch andere gesellschaftliche Akteure. Die Unterstützer verfolgen häufig eigene Interessen, indem sie sich beispielsweise wirtschaftliche Vorteile durch eine Regulation des Verhaltens versprechen. Becker weist ferner darauf hin, dass ein erfolgreicher moralischer Kreuzzug häufig dadurch gekennzeichnet ist, dass einflussreiche Mitglieder der Oberschicht/ Mittelschicht das Vorhaben unterstützen.
Zur Aufstellung der konkreten Regeln bedarf es nun der Expertise weiterer Akteure wie z.B. Regierungsstellen, Anwälte, Psychiater usw.
Der moralische Kreuzzug kann nun auf zwei unterschiedlichen Wegen enden:
- Das Vorhaben ist von Erfolg gekrönt und eine neue Regel wird aufgestellt. Für den Regelsetzer kann entweder die einstweilige Berufung zum Beruf werden, indem der Moralunternehmer eine Position in einer Organisation, die die Einhaltung der Regeln überwacht, besetzt. Es ist jedoch ebenso denkbar, dass sich der Moralunternehmer ein neues Betätigungsfeld (ein neues Übel in der Welt) sucht und der moralische Kreuzzug von Neuem beginnt.
- Misslingt der moralische Kreuzzug, kann der gescheiterte Regelsetzer entweder am ursprünglichen Ziel festhalten. Er läuft nun aber Gefahr, dass sich einstige Mitstreiter von ihm und seinem Ziel abwenden und er selbst zum Außenseiter wird. Ebenso denkbar ist es, dass sich der Moralunternehmer einem neuen Ziel und einer neuen Aufgabe zuwendet und erneut einen moralischen Kreuzzug initiiert.
Ist der moralische Kreuzzug erfolgreich und wird eine neue Regel aufgestellt, schlägt die Stunde der Regeldurchsetzer. Im Gegensatz zum Regelsetzer sind sie weniger an den Inhalten der Regel und ihrer moralischen Herleitung interessiert. Die Durchsetzer verfolgen keine moralische Mission, sondern haben als Institution ein bürokratisch, distanziertes Verhältnis zur Regel. Ihre Aufgabe ist es, Mittel und Wege zu finden, die Einhaltung der neu aufgestellten Regel zu überwachen und ggf. gegen „Outsiders“ vorzugehen.
Regeldurchsetzer, wie beispielsweise Mitarbeiter von Polizei und Justiz oder einer anderen neu entstandenen Behörde, bewegen sich bei der Erfüllung ihrer Aufgabe in einem Zwiespalt: Einerseits unterliegen sie einem Erfolgsdruck und müssen die Effizienz ihrer Bemühungen unter Beweis stellen. Andererseits gefährdet eine zu hohe Effizienz den Fortbestand der Organisation an sich, die keine Berechtigung hätte, wenn jeder Außenseiter und jeder Regelverstoß erfolgreich geahndet worden wäre.
Jeder festgestellte Verstoß gegen die neu aufgestellt Regel, kreiert einen Außenseiter. Denn: „Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist.“ (Becker, 2019, S. 4.).
Karrieremodell der Devianz
Die Auswirkungen der Anwendung und Durchsetzung einer Regel hat weitreichende Folgen für die Person, auf die diese Regel angewendet wird. Die Anwendung des Etiketts „abweichend sein“ hat auf die Außenseiter eine identitätsstiftende Funktion. Es findet eine Identifikation mit der Zuschreibung „abweichend“ statt, wodurch sekundäre Devianz entsteht (zum Begriff der sekundären Devianz siehe ausführlich hier). Becker beschreibt diesen Vorgang als selbsterfüllende Prophezeiung. Das prozesshafte Karrieremodell, das sich hieraus ableiten lässt, ist in folgendem Schaubild zusammenfassen:
-
- Am Anfang des Karrieremodells steht die Verletzung einer Regel. Dieser Regelverstoß kann bewusst oder auch unbewusst – z.B. in Unkenntnis einer Regel – erfolgen.
- Der zweite Schritt stellt die entscheidende Brandmarkung des Verhaltens als „abweichend“ dar. Der Regelverstoß kann durch den Regelbrecher selbst publik gemacht werden. In der Regel erfolgt die Zuschreibung jedoch durch die Umwelt.
- Drittens erfolgt ein „drastischer Wandel bezüglich der öffentlichen Identität eines Individuums“ (Becker, 2019, S. 25). Der soziale Status des Regelbrechers wird am Regelverstoß gemessen. Zurückliegende und zukünftige Handlungen werden vor dem Hintergrund des Regelbruches (neu) bewertet. Der „Master Status“ Krimineller, Irrer, Gauner, Drogensüchtiger etc. überlagert sämtliche sonstigen Eigenschaften des Individuums.
- Die Stigmatisierung ist Folge einer Behandlung des Regelbrechers gemäß dem zugeschriebenen Master Status. Das Merkmal „kriminell“ überwiegt in der Beurteilung über andere Eigenschaften und Merkmale.
- In der Folge greift eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Das zugeschriebene Merkmal „kriminell“ schließt den Regelbrecher von konventionellen Aktivitäten aus und drängt ihn in unkonventionelle und randständige Beschäftigungen.
- Schließlich kann sich der Regelbrecher anderen Regelbrechern anschließen. Der Zusammenschluss in einer abweichenden Subkultur kann einer Verfestigung einer abweichenden Identität Vorschub leisten, indem Einstellungen und Werte übernommen werden und sich verfestigen und abweichendes Verhalten rationalisiert wird.
Kriminalpolitische Implikationen
In seiner 1963 erschienenen Studie zu Außenseitern nimmt Becker eine soziologisch-kriminologische Perspektive auf Devianz ein, die später von Kriminologen wie Edwin Lemert in den USA oder Fritz Sack in Deutschland als Labellingansatz benannt und weiterentwickelt wurde. Die Perspektive der Kriminalisierung gesellschaftlicher Gruppen grenzt sich deutlich von der 1963 vorherrschenden Vorstellung eines pathologischen Verbrechertypens ab, dessen Verhalten beispielsweise durch seine Zugehörigkeit zu einer devianten Subkultur erklärt wird (siehe: Subkulturtheorie nach Cohen). Becker gilt damit (neben Matza) als einer der Wegbereiter eines Paradigmenwechsels in der Kriminologie und als Pionier der Kritischen Kriminologie.
(siehe: primäre und sekundäre Devianz – Lemert)
Kritische Würdigung und Aktualitätsbezug
Obwohl sich Howard S. Becker selbst nicht als Kriminologie, sondern als Soziologe und Musikethnologe verortet, gilt sein Buch „Außenseiter“ bis heute als eines der einflussreichsten und meistzitierten Werke der Devianzsoziologie und Kriminologie. Im Vorwort der deutschen Ausgabe fasst der Herausgeber Beckers zentrales Anliegen folgendermaßen zusammen:
Dabei hat Becker vor allem die Deutungsmacht sozialer Institutionen, im Blick, die herrschende Deutungen re- produzieren und mit deren Hilfe Ausschlüsse produziert und reproduziert werden: Die institutionellen Deutungen der Justiz, der Verwaltung, der sozialen Arbeit oder der Schule, die in der Ordnung der Leben jener Menschen, die von ihnen gedeutet werden, hochgradig wirkmächtig sind.
(Dellwing, 2019, S. XIII)
Eine Kritik an dem Werk lautet, dass durch die Perspektivenverschiebung auf eine Kriminalisierung (anstelle des ätiologischen Blicks auf den Ursprung kriminellen Verhaltens) eine Romantisierung und Verharmlosung von Verbrechen stattfinden würde. Becker adressiert diese Kritik in dem Aufsatz „Whose Side Are We On?“ (1967).
Literatur
- Becker, Howard S. (1963). Outsiders : studies in the sociology of deviance. New York [u.a.]: Free Press of Glencoe [u.a.].
- Becker, Howard S. (1967). Whose Side Are We On? In: Social Problems, 14(3), S. 239-247. [in deutscher Übersetzung erschienen in: Klimke, Daniela & Aldo Legnaro (Hrsg.) (2016) Kriminologische Grundlagentexte. Wiesbaden: Springer VS.]
- Becker, Howard S. (2019). Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens (3. Aufl.). Wiesbaden: Springer.
- Dellwing, Michael (2019). Einleitung. Labeling und die Nonchalance des Interaktionisten: Howard Beckers bescheidener und zentraler Beitrag zur Devianzsoziologie. [Vorwort der deutschen Übersetzung: Becker, 2019]
- Peuckert, Rüdiger (2000). Abweichendes Verhalten. In: Hermann Korte & Bernhard Schäfers (Hrsg.). Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie (5. Aufl.) (S. 103-124). Opladen: Leske + Budrich.
Weiterführende Informationen
Video
Anwendungsbeispiel für einen moralische Kreuzzug im Sinne von Beckers „Outsiders“
Der Kulturwissenschaftler Claude Chastagner gibt in seiner Arbeit zum Parents Music Resource Center ein anschauliches Beispiel für einen erfolgreichen „moralischen Kreuzzug“ im Sinne Beckers. Chastagner legt dar, wie es einer Reihe von einflussreichen US-amerikanischen Politiker-Gattinnen gelang, Einfluss auf die Musikindustrie auszuüben, so dass diese sich gezwungen sah, mittels eines Parental Advisory Aufklebers auf Tonträgern auf möglicherweise jugendgefährdende Liedtexte hinzuweisen.
- Chastagner, Claude (1999) The Parents‘ Music Resource Center: From Information to Censorship. In: Popular Music. Band 18, Nr. 2, S. 179–192. Online verfügbar unter: https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-00176147/document