Nach der Control Balance Theory wird sowohl die Wahrscheinlichkeit mit der abweichendes Verhalten auftritt als auch die charakteristische Form der Abweichung bestimmt durch das Verhältnis der Kontrolle, der ein Mensch ausgesetzt ist, zur Kontrolle, die er selbst ausübt.
Hauptvertreter
Theorie
Ausgangspunkt der Control Balance Theory ist die Beobachtung, dass andere Kontrolltheorien nur solche Formen der Kontrolle berücksichtigen, die von außen auf ein Individuum einwirken. Die Control Balance Theory von Charles Tittle betont hingegen, dass jeder Mensch nicht nur passiv Kontrolle ausgesetzt ist, sondern auch Kontrolle über andere ausübt. Wichtig ist dabei das Verhältnis zwischen aktiv ausgeübter und selbst erlebter Kontrolle. Dieses Verhältnis bezeichnet Tittle als ‚Kontrollverhältnis‘. Diese „Control Ratio“ kann entweder ausgeglichen oder unausgeglichen sein. Die Art des Ungleichgewichts wirkt sich für Tittle auf die spezifische Ausprägung der dadurch verursachten Devianz aus. Er unterscheidet drei Zustände:
- Befinden sich die erfahrene und die ausgeübte Kontrolle im Gleichgewicht, besteht „Control Balance“. In diesem Zustand ist deviantes Verhalten unwahrscheinlich.
- Übt jemand mehr Kontrolle aus als er oder sie erfährt, besteht ein Kontroll-Überschuss („Control Surplus“). In diesem Zustand neigen Individuen zu autonomen Formen der Kriminalität. Damit sind Taten eher indirekter Natur gemeint. Es besteht wenig direkte Konfrontationen mit dem Opfer.
- Erfährt ein Individuum mehr Kontrolle als er oder sie ausübt, besteht ein Kontroll-Defizit.Es treten repressive Formen der Devianz auf. Diese sind durch direkte Konfrontationen mit dem Opfer gekennzeichnet.
Tittle geht davon aus, dass jeder Mensch nach dem größtmöglichen Maß an Autonomie strebt – also das Kontrollverhältnis zu seinen Gunsten beeinflussen möchte. Ein Ungleichgewicht in der Control Ratio erzeugt daher eine Prädisposition zu deviantem Verhalten. Besteht ein Kontroll-Defizit, wird versucht, dieses durch deviantes Verhalten auszugleichen. Besteht hingegen ein Kontroll-Überschuss besteht die Versuchung, dieses noch weiter auszudehnen.
Eine Prädisposition zum devianten Verhalten alleine reicht jedoch nicht aus, damit dieses Verhalten auch auftritt.
Zwei Voraussetzungen müssen erfüllt werden, damit aus der Prädisposition eine Motivation zur Devianz entsteht:
- Ein Individuum muss das Kontroll-Defizit oder den Kontroll-Überschuss wahrnehmen und erkennen, dass sich die eigene Control Ratio durch ein bestimmtes deviantes Verhalten beeinflussen lässt. Das abweichende Verhalten muss also als geeignet angesehen werden, um das Defizit zu verkleinern oder den Überschuss noch weiter auszubauen.
- Das Individuum muss eine negative Emotion, insbesondere Demütigung, erfahren. Diese wird als Provokation wahrgenommen, welche wiederum Devianz rechtfertigt.
Deviantes Verhalten tritt dann auf, wenn sich für ein motiviertes Individuum eine Handlungsgelegenheit bietet und hemmende Faktoren (Constraints) überwunden werden können. Solche Hemmungen können moralische Überzeugungen, Selbstkontrolle oder Angst vor Bestrafung sein.
Tittle knüpft sehr spezifische Formen der Kriminalität an verschiedene Stufen der Control-Ratio, die in der folgenden Tabelle dargestellt sind.
Kontroll-Defizit (repressive Devianz) | Kontroll-Balance | Kontroll-Überschuss (autonome Devianz) |
|||||
---|---|---|---|---|---|---|---|
stark | mittel | leicht | leicht | mittel | stark | ||
Art der Devianz | „Submission“ Sexuelle Unterwerfung, als Form der Unterdrückung anderer | „Defiance“ Ungehorsam gegen Autoritäten, Streiks | „Predation“ z.B. Diebstahl, Überfälle, Vergewaltigung | keine | „exploitation“ z.B. gezielte Einflussnahme auf Politiker, Auftragsmorde, Preisabsprachen | „plunder“ z.B. Umweltverschmutzung durch Ölfirmen, willkürliche Besteuerung von Abhängigen | „Decadence“ Folter für sexuelle Befriedigung, sadistische Demütigung anderer |
Tittle integriert diverse andere Theorien in seine Control Balance Theorie. Er nimmt insbesondere Anleihen an Agnews ‚Strain-Theory‘ und Gottfredson und Hirschis ‚General Theory of Crime‘.
Kritische Würdigung und Aktualitätsbezug
Ein großer Vorteil, aber gleichzeitig eine Schwachstelle der Control Balance Theory ist ihre Komplexität. Im Gegensatz zu den meisten anderen Theorien ist sie in der Lage, viele unterschiedliche Formen der Kriminalität zu erklären. Dies liegt unter anderem daran, dass sie andere Theorien integriert und somit einen Rahmen bietet, in dem die verschieden Wirkungsfaktoren im Verhältnis zueinander gesehen werden können.
Ein Problem der Control Balance Theory ist, dass sie durch ihre Komplexität sehr schwer zu evaluieren ist. Kritisiert werden kann auch Tittles Fokus auf Autonomie als treibende Motivation von Menschen. Er berücksichtigt dabei nicht, dass Menschen auch andere Triebe und Bedürfnisse haben.
Kriminalpolitische Implikationen
Nach Tittle wirkt (soziale) Kontrolle nur dann hemmend auf abweichendes Verhalten, wenn sie ein gesundes Mittelmaß findet. Es sind also einerseits gesellschaftliche Strukturen anzustreben, in denen soziale Kontrolle und Selbstkontrolle im Sinne von Hirschis Bindungstheorie und Gottfredson und Hirschis General Theory of Crime entwickelt werden können. Dies würde bedeuten, dass die klassischen Institutionen (u.a. Familie, Schule) so gefördert werden müssen, dass sie eine effektive Kontrolle über das Individuum ausüben können. Andererseits impliziert die Theorie aber auch, dass diese Kontrolle begrenzt werden muss. Unterdrückung und steile Hierarchien, die Macht sehr ungleich verteilen, sind daher zu vermeiden.
Nach der Control Balance Theory reicht es also nicht aus, nur bestimmte Zielgruppen anzusprechen. Die Lebenswirklichkeit der Menschen muss insgesamt so gestaltet werden können, dass möglichst wenig Kontrolldefizite und Kontrollüberschüsse entstehen.
Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
- John Braithwaite: „Charles Tittle’s Control Balance and Criminological Theory. Theoretical Criminology, 1(1), 1997, 77-97.
- Wood, Peter B.; Dunaway, R. Gregory: An Application of Control Balance Theory to Incarcerated Sex Offenders. Journal of the Oklahoma Criminal Justice Research Consortium, Volume 4, August 1997/1998.