Status und Habitus im Alltag
Warum fühlen sich manche Menschen auf einem Opernabend oder im Vorstellungsgespräch sofort wohl – während andere sich fremd, fehl am Platz oder beobachtet fühlen? Warum wirkt das Verhalten mancher Personen „natürlich“, während andere als unangepasst, schrill oder „nicht passend“ wahrgenommen werden?
Die Soziologie bietet mit dem Konzept des Habitus und der Analyse sozialer Statuspositionen einen Zugang zu diesen Fragen. Dabei wird deutlich: Es sind nicht nur Einkommen und Bildung, die das soziale Miteinander prägen – sondern auch unsere Verhaltensmuster, Vorlieben, Körperhaltungen, Sprache und Selbstverständlichkeiten.
Was ist sozialer Status?
Der soziale Status beschreibt die gesellschaftliche Position einer Person innerhalb einer sozialen Ordnung. Diese Position kann unterschiedliche Formen annehmen und ist mit bestimmten Erwartungen, Rechten und Pflichten verbunden. Man unterscheidet:
- Zugeschriebener Status: Herkunft, Geschlecht, Alter, Hautfarbe
- Erworbener Status: Beruf, Bildungsabschluss, Einkommen
Status ist nicht nur mit objektiven Ressourcen verbunden, sondern auch mit gesellschaftlicher Wahrnehmung: Wer als „respektabel“, „gebildet“ oder „angesehen“ gilt, erfährt mehr Vertrauen, Spielräume und Deutungsmacht – unabhängig von seiner tatsächlichen Kompetenz.
Was bedeutet Habitus?
Der Begriff Habitus bezeichnet die Gesamtheit der in der SozialisationSozialisation bezeichnet den Prozess, durch den Individuen die Werte, NormenVerhaltensregeln und Erwartungen, die innerhalb einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe als verbindlich gelten., Verhaltensmuster und sozialen Rollen ihrer GesellschaftEine Gesellschaft ist ein strukturiertes Gefüge von Menschen, die innerhalb eines geografischen Raumes unter gemeinsamen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen leben und durch institutionalisierte soziale Beziehungen miteinander verbunden sind. erlernen und internalisieren. Dieser Prozess ermöglicht die IntegrationIntegration bezeichnet den Prozess der Eingliederung von Personen oder Gruppen in eine bestehende Gesellschaft, bei dem sowohl Anpassung als auch Teilhabe angestrebt werden. in soziale Gemeinschaften und die Entwicklung einer eigenen sozialen Identität. verinnerlichten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata. Er beeinflusst, wie Menschen sprechen, auftreten, sich kleiden, denken, urteilen und fühlen – und zwar meist unbewusst. Der Habitus wirkt wie ein innerer Kompass, der angibt, was „richtig“, „geschmackvoll“ oder „normal“ ist – abhängig von der eigenen Herkunft und Soziallage.
Definition Habitus
Der Habitus bezeichnet zum einen die habitualisierten Gewohnheiten und Handlungen von Personen. Zum anderen wird mit Habitus auch ein sozialisatorisch erworbenes Schema zur Erzeugung immer neuer Handlungen bezeichnet, das Grenzen und Spielräume sozialer Ordnungen reproduziert und verändert. Als dialektischer Begriff bezeichnet der Habitus immer beides: das bereits Strukturiert-Sein und die strukturierende Funktion der Handlungen von Individuen, die gesellschaftliche Prägung und die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten.
Liebsch, 2000, S. 72
Der Habitus ist tief verankert, nicht frei wählbar und nur schwer veränderbar. Er entsteht aus der sozialen Erfahrung – vor allem im Elternhaus, in der Bildung, im Umfeld – und wirkt bis ins Erwachsenenalter hinein.
Habitus in Alltagssituationen
Der Habitus wird sichtbar in scheinbar banalen Situationen:
- Wie begrüße ich andere? (Händedruck, Distanz, Blickkontakt)
- Wie spreche ich in einem Bewerbungsgespräch?
- Was esse ich – und wie spreche ich über Essen?
- Wie verhalte ich mich in Bibliotheken, Ämtern oder auf Partys?
Diese Ausdrucksformen wirken „natürlich“, sind aber tief sozial geprägt – und erzeugen Distinktion: soziale Unterscheidung und implizite Zugehörigkeit.
Fallbeispiel: Altes Geld vs. Neureiche
Ein klassisches Beispiel für unterschiedliche Habitusformen zeigt sich im Vergleich zwischen Menschen mit „altem Geld“ und sogenannten Neureichen. Beide Gruppen verfügen über ökonomischen Wohlstand – doch ihr Auftreten, ihre Geschmäcker und ihr Verhalten unterscheiden sich oft deutlich.
Personen aus „alten Eliten“ verfügen über einen Habitus, der auf Diskretion, Bildung, Zurückhaltung und Traditionsbewusstsein basiert. Ihr Reichtum wird nicht betont, sondern als selbstverständlich angenommen. Kulturelles Kapital – etwa Opernbesuche, klassische Literatur, dezente Kleidung – dient zur symbolischen Abgrenzung.
Neureiche dagegen betonen häufig ihren Statuszuwachs durch auffälligen Konsum: Autos, Markenmode, Statussymbole. Ihr Habitus ist von Aufstiegserfahrung geprägt – sie zeigen, was sie erreicht haben, weil sie nicht in diese Welt hineingeboren wurden.
Aspekt | "Altes Geld" | Neureiche |
---|---|---|
Wohnstil | Dezente Eleganz: Erbstücke, klassische Kunst, oft in jahrhundertealten Villen | Opulenz: Moderne Häuser, neueste Designs, beeindruckende Architektur |
Freizeitgestaltung | Golf, Segeln, philanthropische Aktivitäten | Luxusreisen, exklusive Clubs, Social Media Präsenz |
Kleidung | Maßanfertigungen, dezente Luxusmarken, traditionelle Eleganz | Logos, auffällige Designerstücke, aktuelle Modetrends |
Netzwerke | Alteingesessene Verbindungen, exklusive Zirkel | Dynamisch, oft aus Geschäftskontakten entstanden |
Diese Unterschiede im Habitus führen zu Irritationen – auch bei gleicher Kaufkraft. Die einen wirken „kultiviert“, die anderen „protzig“. Das zeigt: Der Habitus wirkt wie ein soziales Sensorium, das Zugehörigkeit und Fremdheit markiert – und soziale Grenzen (re-)produziert.
Habitus und soziale Fremdheit
Besonders deutlich wird die Wirkung des Habitus, wenn Menschen sich außerhalb ihrer gewohnten sozialen Umgebung bewegen – etwa bei einem Klassenwechsel, einem Studienbeginn als „Erste*r aus der Familie“ oder beim Eintritt in einen hochkulturellen Raum.
Dann wirkt der eigene Habitus nicht mehr „passend“ – es kommt zu einem Gefühl von Unsicherheit, Irritation oder Scham. Gleichzeitig wirken andere Menschen distanziert, überlegen oder „anders“. Dieses Phänomen beschreibt Bourdieu als hysteresis: Der Habitus folgt nicht automatisch dem Statuswechsel – er „passt nicht zur neuen Position“.
Habitus und Polizei
Habitus im Bürgerkontakt: Unsichtbare Barrieren im Polizeialltag
Auch in der Polizeipraxis wirkt der Habitus – oft unausgesprochen, aber wirkungsvoll. In polizeilichen Gesprächen mit Bürger:innen entscheidet nicht nur der Sachverhalt über den Verlauf der Kommunikation, sondern auch die Passung oder Irritation zwischen verschiedenen Habitusformen.
Ein Beispiel: Ein Polizist betritt im Rahmen einer Befragung eine Wohnung in einem sozial benachteiligten MilieuSoziales Umfeld oder soziale Gruppe mit gemeinsamen Lebensstilen, Wertorientierungen und sozialen Praktiken.. Er trägt Uniform, spricht in standardisierten Sätzen, agiert sachlich – und trifft auf eine Familie, deren Umgangston informell, emotional und körperbetont ist. Missverständnisse entstehen bereits in der Körpersprache, im Tonfall oder in den Erwartungen an Gesprächsverläufe. Der Polizist interpretiert spontane Antworten als respektlos, die Familie empfindet das Auftreten als kalt oder herablassend. Die Gesprächssituation eskaliert – ohne dass jemand „schuld“ wäre.
Hier zeigt sich: Der institutionelle Habitus der Polizei trifft auf den alltagsweltlichen Habitus der Bürger:innen – und beide Seiten verstehen einander nicht automatisch. Wer den Habitus nicht erkennt, missdeutet oft das Verhalten des Gegenübers: Unsicherheit wirkt wie Aggression, Freundlichkeit wie Unterwürfigkeit, direkter Blickkontakt wie Provokation.
Habitusbewusstsein – im Sinne einer habitussensiblen Polizei – bedeutet daher nicht Nachsicht, sondern Verstehenskompetenz. Es hilft, Situationen einzuschätzen, ohne sie vorschnell zu bewerten – und kann so einen Beitrag zu respektvoller, kontextsensibler Kommunikation leisten.
Sind Polizisten bewaffnete Soziologen? (Jonas Grutzpalk)
Habitus in der Polizei: Zwischen Berufskultur und Außensicht
Auch innerhalb der Polizei selbst bildet sich ein spezifischer beruflicher Habitus heraus – ein Bündel verinnerlichter Einstellungen, Sprachformen, Umgangsweisen und Deutungsmuster, das über Jahre hinweg sozialisiert wird. Dienstgruppen entwickeln eigene Routinen, Codes, Erzählungen und Bewertungsschemata – etwa gegenüber „Klientel“, Kolleg:innen, Vorgesetzten oder der Öffentlichkeit.
Dieser polizeiliche Habitus dient der Handlungsfähigkeit in komplexen, mitunter gefährlichen Situationen – aber auch der sozialen Abgrenzung nach außen. Bürger:innen, die anders auftreten, sprechen oder sich gegenüber der Polizei unkonventionell verhalten, werden nicht nur anhand rechtlicher Kriterien beurteilt, sondern auch entlang der sozialen Passung zum polizeilichen Weltbild.
Ein Beispiel: Ein Akademiker, der polizeiliches Vorgehen sachlich hinterfragt, kann als „arrogant“ oder „respektlos“ empfunden werden – nicht wegen seines Inhalts, sondern wegen seiner Art der Kommunikation. Umgekehrt kann ein Polizist, der in einer Dienstgruppe abweichende Perspektiven äußert (z. B. zu Racial Profiling), als illoyal oder „naiv“ gelten – weil sein Habitus nicht mit der Binnenkultur übereinstimmt.
Der Begriff Cop Culture beschreibt diese informellen Verhaltensmuster, Orientierungen und Deutungsweisen, die innerhalb der Polizei – teils abweichend von der offiziellen Rollenerwartung – tradiert werden.
Cop Culture – Polizei vs. Polizistenkultur
Fazit: Unsichtbare Regeln – reale Wirkung
Status und Habitus sind keine rein akademischen Konzepte. Sie erklären, warum soziale Ungleichheit sich im Alltag konkret auswirkt – in Sprache, Auftreten, Geschmack und Selbstbewusstsein. Wer den Habitus anderer nicht teilt, wirkt oft ungeschickt oder unangepasst – nicht weil ihm Wissen fehlt, sondern weil ihm die „richtige“ Haltung fehlt.
Der Habitus zeigt, wie tief soziale Herkunft in unser Verhalten eingeschrieben ist – und warum es so schwer ist, soziale Grenzen zu überschreiten. Diese Einsicht lässt sich nicht nur mit Blick auf individuelle Biografien, sondern auch im Zusammenhang mit strukturellen Ungleichheiten in der Sozialstruktur sowie den Sozialisationsprozessen erklären, in denen sich der Habitus ursprünglich herausbildet.
Literatur
- Liebsch, K. (2000). Identität und Habitus. In: Korte, H. & Schäfers, B. (Hrsg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie (5. Aufl.). Opladen: Leske + Budrich.
- Schäfers, B. (Hrsg.) (2011). Grundbegriffe der Soziologie (7. Aufl.). Leske + Budrich.