Norbert Elias’ Werk Über den Prozeß der Zivilisation gehört zu den einflussreichsten und zugleich langfristig wirksamsten Beiträgen zur Soziologie des 20. Jahrhunderts. In seinem 1939 erschienenen Werk zeichnet Elias die historischen Bedingungen und sozialen Mechanismen nach, durch die sich über Jahrhunderte hinweg ein spezifisch moderner Habitus und ein gesteigertes Maß an Selbstkontrolle herausbildeten. Der Zivilisationsprozess ist für Elias nicht Ausdruck moralischen Fortschritts, sondern das Ergebnis komplexer sozialer Figurationen, die eng mit der Ausbildung von Machtstrukturen und gesellschaftlicher Differenzierung verbunden sind.
Wissenschaftlicher und historischer Kontext
Das Werk entstand in den 1930er-Jahren im Exil und wurde 1939 erstmals veröffentlicht – in einer Zeit, in der Europa kurz vor dem Zweiten Weltkrieg stand. Elias, Schüler von Karl Mannheim, verknüpfte historische Analyse mit einem innovativen soziologischen Zugriff. Sein Werk blieb zunächst unbeachtet, wurde jedoch ab den 1970er-Jahren im Zuge der Rückbesinnung auf prozessorientierte und historisch fundierte Soziologie neu entdeckt und als Klassiker anerkannt.
Merkzettel
Über den Prozeß der Zivilisation nach Norbert Elias
Hauptvertreter: Norbert Elias (1897–1990)
Erstveröffentlichung: 1939
Land: Deutschland
Idee/ Annahme: Zivilisation ist kein moralischer Fortschritt, sondern ein historisch-sozialer Prozess wachsender Selbstkontrolle, beeinflusst durch Macht- und Abhängigkeitsstrukturen.
Grundlage für: Soziologie des Körpers, Gewalt- und Affektforschung, Prozesssoziologie sowie Theorien sozialer Kontrolle und langfristiger Gesellschaftsveränderungen.
Zentrale Fragestellung und theoretische Zielsetzung
Elias geht der Frage nach, wie sich langfristige Veränderungen im Verhalten und in der sozialen Ordnung vollziehen. Warum veränderten sich Normen des Benehmens, der Gewaltanwendung, der Intimität oder der Gefühlsäußerung in der europäischen Geschichte so grundlegend? Seine Antwort: Durch Prozesse der sozialen Differenzierung, Verdichtung von Abhängigkeiten und die Ausbildung staatlicher Machtstrukturen wurden Menschen gezwungen, sich stärker selbst zu kontrollieren – Affekte zu zügeln, Impulse zu regulieren und sich „zivilisiert“ zu verhalten. Diese Entwicklung verläuft nicht linear oder moralisch motiviert, sondern in komplexen sozialen Dynamiken.
Der Zivilisationsprozess: Hauptthesen
Wandel der Verhaltensstandards
Elias zeigt anhand von Benimm- und Erziehungsbüchern, wie sich alltägliche Praktiken verändern: etwa beim Essen, beim Umgang mit Körperausscheidungen, bei Scham- und Peinlichkeitsgefühlen. Was im Mittelalter noch offen praktiziert wurde, wird im Laufe der Neuzeit zunehmend tabuisiert. Damit einher geht eine Verinnerlichung gesellschaftlicher Erwartungen – das heißt: Menschen überwachen und disziplinieren sich selbst.
Staatsbildung und Monopolisierung
Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der Herausbildung von zentralisierten Machtstrukturen. In absolutistischen Staaten wie dem Frankreich des 17. Jahrhunderts entsteht ein Gewaltmonopol: nur der Staat darf rechtmäßig Gewalt anwenden. Zugleich entstehen neue soziale Gefüge wie die höfische Gesellschaft, in der Verhalten, Sprache und Körperhaltung hochgradig reglementiert sind. Der Zivilisationsprozess ist damit Teil einer langfristigen „Figuration“, in der äußere Zwänge zu inneren Selbstzwängen werden.
Beispiele für den Zivilisationsprozess
- Verwendung von Besteck: Ursprünglich nur am Adelshof üblich, später von bürgerlichen Schichten übernommen und schließlich zum gesamtgesellschaftlichen Standard erhoben. Der Prozess zeigt, wie sich „höfische“ Verhaltensnormen in breiteren sozialen Figurationen durchsetzen.
- Rote Fußgängerampel ohne Verkehr: Wer auch in Abwesenheit von Kontrolle an der roten Ampel wartet, demonstriert, dass gesellschaftliche Fremdzwänge (Gesetze, Sanktionen) zu innerem Selbstzwang geworden sind – ein klassisches Beispiel für Verhaltensverinnerlichung.
- Tischsitten: Schmatzen oder Rülpsen beim Essen war im Mittelalter üblich, wurde jedoch mit dem Aufstieg bürgerlicher und höfischer Etikette zunehmend tabuisiert.
- Duellverbot und Gewaltmonopol: Früher erlaubte Duelle wurden durch das staatliche Gewaltmonopol verboten – persönliche Konflikte mussten fortan durch Institutionen geregelt werden.
- Scham und Körperfunktionen: Körperpflege und Ausscheidungen wurden aus dem öffentlichen Raum in den privaten Bereich verlagert; Hygiene erhielt einen normativen Charakter.
- Affektkontrolle: Das offene Zeigen von Gefühlen wie Zorn, Schmerz oder Scham wurde zunehmend als unangemessen empfunden – Selbstbeherrschung wurde zur Tugend.
- Soziale Rücksichtnahme: Normen wie leises Telefonieren in öffentlichen Verkehrsmitteln zeigen, wie sich Rücksichtnahme als verinnerlichte Selbstdisziplin etabliert hat – selbst ohne sichtbare Kontrolle.
Diese Beispiele verdeutlichen: Der Zivilisationsprozess ist alltagswirksam – er verändert, was als „normal“, „anständig“ oder „zumutbar“ gilt, oft ohne dass wir es bewusst reflektieren.
Der Begriff der Figuration
Eine zentrale konzeptionelle Neuerung Elias’ ist der Begriff der Figuration. Darunter versteht er dynamische Netzwerke wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen Menschen. Gesellschaften bestehen demnach nicht aus isolierten Individuen oder übergeordneten Strukturen, sondern aus sich wandelnden Beziehungsgeflechten, die historisch gewachsen, emotional durchdrungen und machtförmig strukturiert sind.
Ein Beispiel hierfür ist der Hof als soziale Figuration: ein Geflecht aus gegenseitigen Abhängigkeiten, das spezifische Verhaltensformen hervorbringt und reproduziert – etwa durch Kontrolle, Etikette oder Selbstzwang.
Um den innovativen Charakter des Figurationsbegriffs sichtbar zu machen, lohnt sich ein Vergleich mit anderen zentralen Begriffen der Soziologie wie „Rolle“, „System“, „Feld“ oder „Diskurs“. Die folgende Tabelle ordnet Elias’ Konzept im Spannungsfeld klassischer und moderner Theorien ein:
Begriff | Herkunft | Bezug zur Figuration |
---|---|---|
Rolle | Rollentheorie (Mead, Parsons) | Rollen sind in Figurationen eingebettet; sie ergeben sich aus wechselseitigen Erwartungen und Machtverhältnissen. |
Interdependenz | Elias, Systemtheorie | Zentrale Voraussetzung jeder Figuration: Akteure sind voneinander abhängig und ko-konstituieren sich. |
System | Parsons, Luhmann | Figuration als dynamische Alternative zum statischen Systembegriff – mit Fokus auf historische Prozesse. |
Soziales Feld | Bourdieu | Wie Figurationen sind Felder relationale Ordnungen; Elias betont stärker Affekte und langfristige Entwicklungen. |
Soziale Gruppe | Simmel, Homans, Tajfel | Figurationen umfassen Gruppen, betonen aber stärker Machtungleichgewichte und soziale Kontrolle. |
Diskurs | Foucault | Figurationen und Diskurse strukturieren Verhalten – Elias fokussiert stärker auf Habitus, Fühlstrukturen und Verhalten. |
Zivilgesellschaft | Tocqueville, Habermas | Zivilgesellschaftliche Figurationen entstehen durch freiwillige Bindung – Elias analysiert deren Ungleichheiten. |
Subjektposition | Poststrukturalismus | Subjektpositionen entstehen in Figurationen: Individuen sind weder autonom noch völlig fremdbestimmt, sondern eingebunden. |
Wirkung und Rezeption
Das Werk wurde zunächst kaum rezipiert – auch, weil es kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erschien. Erst in den 1970er-Jahren fand Elias’ Ansatz zunehmend Aufmerksamkeit. Besonders in der Körpersoziologie, der Gewaltforschung und in historischen Sozialisationsstudien wurde sein Konzept des Zivilisationsprozesses als Gegenmodell zu moralischen Fortschrittsnarrativen fruchtbar gemacht. Auch in der Geschichtswissenschaft und Anthropologie hat Elias tiefe Spuren hinterlassen.
Kritik und Weiterentwicklung
Kritik am Werk richtet sich unter anderem gegen den Eurozentrismus: Elias stützt sich fast ausschließlich auf europäische Quellen und Entwicklungen. Auch der Begriff „Zivilisation“ ist nicht unproblematisch, da er historisch oft abwertend gegen andere Kulturen verwendet wurde. Dennoch wird Elias’ Ansatz heute als heuristisch wertvoll eingeschätzt, insbesondere im Rahmen von Debatten über Disziplinierung, Macht und soziale Kontrolle (vgl. Michel Foucault).
Vergleich zentraler Begriffe und Konzepte bei Elias, Bourdieu und Foucault
Wie wirken gesellschaftliche Machtverhältnisse im Subjekt? Die folgende Übersicht zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede dreier einflussreicher Gesellschaftstheorien.
Die Soziologie kennt unterschiedliche Konzepte, um die Entstehung und Wirkung gesellschaftlicher Normen, Machtverhältnisse und Verhaltensmuster zu erklären. Drei der einflussreichsten Ansätze stammen von Norbert Elias, Pierre Bourdieu und Michel Foucault. Obwohl sie unterschiedliche theoretische Zugänge wählen, befassen sich alle mit der Frage, wie sich gesellschaftliche Machtverhältnisse im Subjekt niederschlagen – sei es als Selbstzwang, Habitus oder Disziplinierung.
Die folgende Tabelle vergleicht zentrale Aspekte ihrer Theorien und zeigt Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede in ihrer Auffassung von Sozialisation, Körperlichkeit und Macht:
Aspekt | Norbert Elias | Pierre Bourdieu | Michel Foucault |
---|---|---|---|
Fokus | Langfristiger Gesellschaftswandel | Habitus & soziale Felder | Macht, Wissen, Subjekt |
Form der Macht | Soziale Abhängigkeiten (Figuration) | Symbolische Gewalt | Disziplin & Diskurs |
Verinnerlichung | Selbstzwang | Habitus | Subjektivierung |
Rolle des Körpers | Zivilisierter Körper | Träger des Habitus | Objekt disziplinierender Macht |
Normen & Regeln | Historisch gewachsen | Sozial verankert | Diskursiv produziert |
Zentrale soziologische Begriffe im Vergleich zum Figurationsbegriff nach Elias – mit Bezug zu Theorieherkunft und analytischer Stoßrichtung.
Bedeutung für die Soziologie heute
Über den Prozeß der Zivilisation bietet zentrale Einsichten für das Verständnis langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen, insbesondere im Hinblick auf:
- Sozialisation: Elias zeigt, wie gesellschaftliche Erwartungen über Generationen hinweg in individuelle Verhaltensmuster eingeschrieben werden.
- Normen und Werte: Der Wandel von Scham, Peinlichkeit und Affektregulation zeigt, dass Moral historisch wandelbar und sozial erzeugt ist.
- Soziale Rollen und Status: In höfischen Gesellschaften entstehen stark differenzierte Rollen – ein Vorläufer moderner Statusdifferenzierungen (vgl. auch Bourdieu).
- Exklusion und Disziplinierung: Wer sich nicht „zivilisiert“ verhält, wird ausgeschlossen – ein Aspekt, der in der heutigen Migrations- und Integrationsdebatte weiterwirkt.
Fazit
Norbert Elias’ Über den Prozeß der Zivilisation ist ein Schlüsselwerk der Soziologie, das eine Brücke schlägt zwischen Makro- und Mikroperspektiven, zwischen Geschichte und Gesellschaftsanalyse. Es bietet einen langfristigen Blick auf Zivilisierung als Prozess der Affektkontrolle, sozialen Differenzierung und Machtverdichtung. Elias’ Werk ist damit nicht nur historisch bedeutsam, sondern auch hochaktuell für die Analyse moderner Gesellschaften.
Literaturverzeichnis
- Elias, N. (1939). Über den Prozeß der Zivilisation. Basel: Haus zum Falken (später Suhrkamp).
- Mennell, S. (1992). Norbert Elias: Eine Einführung in sein Werk. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Linklater, A. (2016). Violence and Civilization in the Western States-System. Cambridge: Cambridge University Press.
Weiterführende Informationen
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