Mit Die Gesellschaft der Singularitäten hat Andreas Reckwitz 2017 einen zentralen Beitrag zur Analyse spätmoderner Gesellschaften vorgelegt. In einer Zeit, in der Individualität, Besonderheit und Einzigartigkeit nahezu inflationär beschworen werden, stellt Reckwitz die These auf, dass sich das Grundprinzip moderner Gesellschaftlichkeit fundamental gewandelt hat: von der Logik des Allgemeinen zur Logik des Besonderen. Das Werk gilt heute als ein Schlüsseltext der Kultur- und Gesellschaftssoziologie und wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bayerischen Buchpreis.
Autor und Kontext
Andreas Reckwitz (*1970) ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. In seinen Arbeiten verbindet er Sozialtheorie, Kultursoziologie und Gesellschaftsdiagnostik. Die Gesellschaft der Singularitäten bildet den ersten Teil seiner späteren Trilogie, die mit Das Ende der Illusionen (2019) und Spätmoderne in der Krise (2023) fortgeführt wird.
Die Gesellschaft der Singularitäten nach Andreas Reckwitz
Jürgen Bauer, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons
Hauptvertreter: Andreas Reckwitz (*1970)
Erstveröffentlichung: 2017
Land: Deutschland
Idee / Annahme: In der Spätmoderne dominiert eine Logik der Singularisierung – das Besondere, Authentische und Einzigartige ersetzt das Allgemeine und Normierte.
Grundlage für: Gegenwartsdiagnostik, Kultursoziologie, Ungleichheitsforschung, Spätmodernetheorie, Milieuanalyse, Digitalisierungskritik.
Zentrale Thesen
Im Zentrum von Reckwitz’ Analyse steht die These, dass moderne Gesellschaften zunehmend durch eine „Singularisierungslogik“ geprägt sind. Diese zeigt sich in unterschiedlichen sozialen Feldern:
- Individuen: Biografien sollen einzigartig, authentisch und optimiert sein.
- Objekte: Produkte und Dienstleistungen (z. B. Reisen, Wohnungen, Mode) werden aufgeladen mit kultureller Bedeutung und Einzigartigkeit.
- Organisationen und Orte: Städte, Unternehmen, Universitäten oder Museen inszenieren sich als „singulär“, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu gewinnen.
Der Begriff bezeichnet den gesellschaftlichen Trend, in dem nicht mehr das Allgemeine, Funktionale oder Durchschnittliche zählt, sondern das Einzigartige und Authentische. Menschen, Dinge, Orte und Ereignisse sollen sich hervorheben, besonders sein, ästhetisch aufgeladen. Singularisierung betrifft Lebensstile, Arbeitswelten, Konsum und soziale Beziehungen – und verändert damit tiefgreifend die Struktur moderner Gesellschaften.
Diese Entwicklung ist nicht zufällig, sondern folgt laut Reckwitz einer kulturellen Transformation: Statt standardisierter Massenprodukte zählen heute ästhetische Aufladung, Performativität und kulturelles Kapital. Die Gesellschaft wird so zu einer „ökonomisierten Kulturgesellschaft“, in der die Unterscheidung zum zentralen Selektionsprinzip wird.
So verkauft sich etwa ein handgebrühter Kaffee aus einer regionalen Rösterei nicht nur als Getränk, sondern als Lebensstil – mit Designbecher, Storytelling über Herkunft und einem Instagram-tauglichen Setting. Es geht um mehr als Funktion: um symbolische Bedeutung.
Ähnlich im Bildungsbereich: Nicht nur der Erwerb eines Abschlusses zählt, sondern die Wahl einer „besonderen“ Universität, das Sammeln internationaler Studienerfahrungen, soziales Engagement und kulturelle Distinktion – all das dient der biografischen Kuratierung und der Erzeugung eines einzigartigen Profils.
Theoretische Einordnung
Reckwitz verbindet in seinem Werk mehrere soziologische Traditionen:
- Von Max Weber übernimmt er die Idee der Kultursoziologie als Deutungswissenschaft.
- Von Pierre Bourdieu übernimmt er die Klassenanalyse unter Bedingungen kultureller Differenz.
- Er knüpft an Ulrich Becks Individualisierungsthese an, korrigiert diese aber entscheidend um die kulturelle Dimension.
Seine Analyse geht weit über eine Statusdiagnose hinaus: Reckwitz liefert eine Theorie der Spätmoderne, in der die neue Mittelklasse zur kulturell dominanten Kraft wird – und gleichzeitig neue Exklusionsmechanismen etabliert.
Mit der neuen Mittelklasse meint Reckwitz jene gut ausgebildeten, urbanen und kulturorientierten Milieus, die von der Wissensökonomie, Kreativbranchen und akademischen Berufswegen profitieren. Sie ist Trägerin der Singularisierungslogik und prägt öffentliche Debatten, Konsumstile und Werte (Authentizität, Diversität, Selbstverwirklichung). Zugleich grenzt sie sich kulturell und symbolisch von traditionellen Milieus ab – was neue Formen sozialer Ungleichheit hervorbringt.
Relevanz für soziologische Megatrends
Reckwitz’ Konzept der Singularisierung erlaubt es, zentrale gesellschaftliche Entwicklungen besser zu verstehen:
- Soziale Ungleichheit: Zugang zu kulturellem Kapital wird entscheidend – nicht mehr nur Einkommen zählt, sondern auch Stil, Habitus, Bildung.
- Soziale Rollen: Die klassischen Rollen lösen sich auf zugunsten individualisierter Selbstinszenierung – in sozialen Medien, im Konsum, im Beruf.
- Sozialstruktur: Die Gesellschaft spaltet sich zwischen „neuer Mittelklasse“ (akademisch, urban, kulturorientiert) und „alter Mittel-/Unterschicht“ (industrienah, materiell orientiert).
- Wertewandel: Authentizität, Kreativität und Lebensstil werden zu normativen Leitwerten – mit hohem sozialen Erwartungsdruck.
Plattformgesellschaft und Arbeitswelt
Ein zentrales Anwendungsfeld der Singularisierung ist die digitale Ökonomie. Plattformen wie Instagram, TikTok oder LinkedIn fungieren nicht nur als Orte der Selbstdarstellung, sondern als Infrastrukturen der Sichtbarkeit. In diesen sozialen Medien wird Einzigartigkeit zur Währung, Aufmerksamkeit zum Kapital, Authentizität zum Algorithmusziel. Die Nutzer:innen kuratieren ihre Biografien, inszenieren Lebensstile und setzen sich einem permanenten Vergleich aus – ein digitaler Resonanzraum für das kulturelle Leitprinzip des Besonderen.
Auch im Bereich der Arbeit zeigt sich die Wirkung der Singularisierungslogik: Vor allem in wissensbasierten, kreativen und projektorientierten Branchen wird heute nicht nur Leistung, sondern Persönlichkeit erwartet. Lebensläufe sollen nicht linear, sondern „interessant“ sein. Kreativität, Flexibilität und Selbstverwirklichung gelten als Voraussetzungen für Erfolg – während Routinetätigkeiten und traditionell geprägte Erwerbsbiografien an symbolischem Wert verlieren.
Diese Entwicklung ist ambivalent: Einerseits eröffnet sie neue Entfaltungsmöglichkeiten – insbesondere für gut ausgebildete Angehörige der neuen Mittelklasse. Andererseits entstehen neue Ausschlussmechanismen: Wer sich nicht performativ darstellen kann oder will, bleibt unsichtbar. Wer nicht flexibel genug ist, fällt heraus. Reckwitz spricht hier von der Herausbildung einer ästhetischen Ökonomie, in der beruflicher Erfolg zunehmend an die Fähigkeit zur Selbstinszenierung und Distinktion gekoppelt ist.
Das Paradox der Singularisierung
So überzeugend Andreas Reckwitz die kulturelle Logik der Singularisierung beschreibt, stellt sich unweigerlich die Frage: Funktioniert sie tatsächlich? Oder wird das Versprechen des Besonderen durch seine eigene Popularisierung untergraben? Ein Blick auf Alltagsphänomene liefert anschauliche Hinweise: Influencer:innen preisen einen „geheimen“ Küstenort als einzigartiges Reiseziel an – kurz darauf strömen Tausende Besucher:innen dorthin, das „Singuläre“ wird zum Massenphänomen, das Besondere verliert seinen Charakter. Genau solche Dynamiken sind es, die Reckwitz als strukturelle Ambivalenz moderner Kultur beschreibt.
Reckwitz verweist auf ein zentrales Spannungsverhältnis: Die Singularisierung ist zugleich strukturelle Realität und soziale Illusion. Sie strukturiert Institutionen, Arbeitsmärkte und Lebensläufe – etwa durch Rankings, Bewertungen, Inszenierungen – und produziert damit reale Effekte: soziale Differenzierung, neue Ungleichheiten, symbolisches Kapital. Doch je mehr Akteure versuchen, sich als besonders zu inszenieren, desto mehr verallgemeinert sich das Besondere. Authentizität wird zur Erwartung, Individualität zur Norm, das Einzigartige zur Ware.
Besonders deutlich zeigt sich diese Dynamik in zeitgenössischen kulturellen Leitmotiven wie YOLO („You Only Live Once“) und FOMO („Fear of Missing Out“). YOLO fungiert als Maxime der Selbstverwirklichung: Das eigene Leben soll möglichst ereignisreich, bedeutungsvoll und einzigartig gestaltet werden – ganz im Sinne der Singularisierungslogik. FOMO ist die Kehrseite dieses Imperativs: die Angst, das Besondere zu verpassen, nicht mithalten zu können oder im Strom der performativen Selbstinszenierungen unterzugehen. Beide Begriffe machen sichtbar, wie stark sich das kulturelle Ideal des Einzigartigen in individuelle Biografien eingeschrieben hat – und welche sozialen Spannungen daraus erwachsen.
Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von einer „Performanzfalle“: Wer permanent besonders sein will oder muss – im Beruf, im Privaten, in sozialen Medien – gerät unter Druck. Die Folge sind Ermüdung, Entfremdung, chronische Unsicherheit und nicht selten ein Gefühl des sozialen Scheiterns. Gerade weil sich das Versprechen der Selbstverwirklichung nicht für alle einlöst, verstärken sich Polarisierung und Enttäuschung – ein zentrales Thema in Reckwitz’ späterem Werk Das Ende der Illusionen.
So wird deutlich: Die Singularisierung ist keine lineare Erfolgsgeschichte des Besonderen, sondern ein kulturelles Paradox – ein Strukturprinzip, das seine eigenen Bedingungen fortwährend unterläuft und dabei neue soziale Spannungen erzeugt.
Reckwitz’ Antwort auf das Paradox
Andreas Reckwitz bleibt nicht bei der Diagnose stehen. Auch wenn Die Gesellschaft der Singularitäten vorrangig analytisch angelegt ist, formuliert er in seinen späteren Werken – insbesondere in Das Ende der Illusionen (2019) und Spätmoderne in der Krise (2023) – Überlegungen, wie mit den Spannungen und Enttäuschungen der Singularisierung umgegangen werden kann. Dabei schlägt er keinen radikalen Bruch vor, sondern plädiert für einen reflexiven Umgang mit den Widersprüchen der Spätmoderne.
Eine zentrale Idee ist die Wiederentdeckung des Allgemeinen: In einer Gesellschaft, die das Einzigartige überhöht, müsse wieder stärker auf gemeinsame Strukturen, verlässliche Institutionen und kollektive Infrastrukturen gesetzt werden – etwa in Bildung, Pflege oder Verwaltung. Nicht jeder Lebensbereich muss durch Authentizität und Innovation glänzen.
Zugleich fordert Reckwitz eine demokratische Institutionalisierung von Anerkennung: Wenn soziale Ungleichheit heute nicht nur ökonomisch, sondern auch symbolisch wirkt, braucht es politische Strategien, die kulturelle Teilhabe ermöglichen – nicht nur in Elitenmilieus, sondern auch in weniger sichtbaren sozialen Gruppen.
Reckwitz plädiert für eine neue progressive Politik, die Sozialpolitik und Kulturpolitik zusammendenkt: Teilhabe, Sicherheit, Bildungszugang und kulturelle Selbstverwirklichung dürfen nicht länger als Gegensätze gelten. In dieser Kombination sieht er die Chance, das Paradox der Singularisierung nicht zu lösen, aber gesellschaftlich abzufedern und politisch zu gestalten.
Kritik und Verhältnis zu Bourdieu
Reckwitz’ Analyse der spätmodernen Gesellschaft ist ebenso einflussreich wie umstritten. Kritisch wird etwa angemerkt, dass viele seiner Beobachtungen – etwa zur Distinktion durch Lebensstil, zum kulturellen Kapital oder zur Reproduktion sozialer Ungleichheit – bereits durch Pierre Bourdieu formuliert wurden. Was also ist das Neue an Reckwitz’ Theorie? Handelt es sich lediglich um eine Milieustudie der urbanen Kreativklasse mit aktualisiertem Vokabular?
Tatsächlich steht Reckwitz in der Tradition Bourdieus, geht aber in mehreren Punkten über ihn hinaus. Während Bourdieu soziale Ungleichheit im Rahmen stabiler Felder und kapitalbasierter Strategien beschreibt, rekonstruiert Reckwitz eine tiefgreifende kulturelle Transformation: das Prinzip der Singularisierung als neue gesellschaftliche Logik. Der Anspruch auf Besonderheit – einst ein Elitenmerkmal – wird laut Reckwitz zur allgemeinen Norm, die alle Subjekte durchzieht und neue Spannungen erzeugt.
Die folgende tabellarische Übersicht macht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Theorieansätze deutlich:
Aspekt | Pierre Bourdieu | Andreas Reckwitz |
---|---|---|
Grundlogik | Kapitalbasierte Distinktion (kulturell, ökonomisch, sozial) | Singularisierungslogik: Differenzierung über Einzigartigkeit und Authentizität |
Ziel der Subjekte | Positionierung in Feldern, Reproduktion der Klassenlage | Kuratiertes Selbst, ästhetisierte Biografie, Performanz |
Struktur | Stabile soziale Felder mit habitusgeprägter Reproduktion | Spätmoderne Fluidität, Hyperindividualisierung, Netzwerklogik |
Kulturbegriff | Symbolische Macht und soziale Grenzziehung | Kulturelle Aufladung von Objekten, Praktiken, Orten |
Aktualität | Analyse traditioneller Klassengesellschaften | Gegenwartsdiagnose postindustrieller, digitalisierter Gesellschaften |
Reckwitz „bourdieuanisiert“ die Gegenwart – aber er erweitert den Blick um die zentralen Merkmale der Spätmoderne: Self-Branding, Plattformökonomie, ästhetisierte Lebensführung und symbolisch aufgeladene Konsumobjekte. Damit liefert er nicht nur eine aktualisierte Milieuanalyse, sondern eine soziologische Theorie des kulturellen Kapitalismus, die Bourdieus Perspektive komplementiert – und zum Teil auch übersteigt.
Fazit
Die Gesellschaft der Singularitäten ist ein Schlüsselwerk der Gegenwartsdiagnostik. Andreas Reckwitz gelingt es, ökonomische, kulturelle und soziale Dynamiken in ein theoretisch anspruchsvolles, aber verständliches Konzept zu überführen. Seine Analyse bietet nicht nur eine Erklärung für den gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte – sie liefert auch eine Grundlage, um die Polarisierung zwischen kultureller Selbstverwirklichung und materieller Exklusion kritisch zu reflektieren.
Die kulturelle Hegemonie der neuen Mittelklasse bleibt nicht ohne Gegenreaktion: In der politischen Polarisierung zwischen kosmopolitischen und populistischen Milieus spiegelt sich die kulturelle Spaltung, die Reckwitz als zentrales Strukturmerkmal der Spätmoderne beschreibt.
Literatur
- Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.
- Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp.
- Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.