In seinem Buch Culture Conflict and Crime beichtet Thorsten Sellin von einem Kriminalfall, der die amerikanische Öffentlichkeit bewegt hat: Ein sizilianischer Einwanderer in den USA stand vor Gericht und wurde von einer Jury wegen Mordes verurteilt. Für ihn selbst war die Tat jedoch ein Akt der Gerechtigkeit – eine notwendige Wiederherstellung der Familienehre. Seine Tochter war entehrt worden, und in seiner Herkunftskultur war die Tötung des verantwortlichen jungen Mannes ein legitimer Akt (siehe Zitat unten). Das amerikanische Rechtssystem verurteilte ihn, doch in seinem kulturellen Kontext handelte er normgerecht.
„A few years ago a Sicilian father in New Jersey killed the sixteen-year-old seducer of his daughter, expressing surprise at his arrest since he had merely defended his family honor in a traditional way.“
– Thorsten Sellin, Culture Conflict and Crime (1938, S. 68)
Dieses Beispiel steht paradigmatisch für seine Kulturkonflikttheorie: Kriminalität entsteht dort, wo unterschiedliche kulturelle Normsysteme aufeinandertreffen. Besonders relevant ist dieser Ansatz in Gesellschaften, die durch Migration, soziale Mobilität oder Subkulturentstehung geprägt sind. Sellin unterscheidet zwischen primären Kulturkonflikten (zwischen unterschiedlichen Kulturen) und sekundären Kulturkonflikten (innerhalb einer Gesellschaft). Seine Theorie gehört zu den klassisch-kulturtheoretischen Ansätzen der Kriminologie und betont die Bedeutung normativer Orientierung und Sozialisation für das Verständnis abweichenden Verhaltens.
Merkzettel
Kulturkonflikttheorie
Hauptvertreter: Thorsten Sellin
Universidade da Pensilvânia, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Erstveröffentlichung: 1938 (Culture Conflict and Crime)
Land: USA (geboren in Schweden)
Idee/ Annahme: Kriminalität entsteht, wenn Menschen unterschiedlichen kulturellen Normsystemen ausgesetzt sind. Der Konflikt zwischen den „conduct norms“ der Herkunfts- und Aufnahmekultur (externer Kulturkonflikt) oder zwischen konkurrierenden Normsystemen innerhalb derselben Gesellschaft (interner Kulturkonflikt) kann zu abweichendem Verhalten führen.
Abgrenzungen zu: Im Gegensatz zu biologischen oder psychologischen Erklärungsansätzen rückt Sellin die kulturelle Prägung und normative Orientierung in den Mittelpunkt. Die Theorie unterscheidet sich außerdem von sozialstrukturellen Ansätzen wie der Anomietheorie nach Merton, da sie nicht soziale Ungleichheit, sondern normative Inkongruenz als zentrale Ursache für Kriminalität begreift.
Entstehungskontext
Thorsten Sellin (1896–1994) wurde in Schweden geboren und wanderte als Kind mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten aus. Als Sohn skandinavischer Einwanderer wuchs er in einer Zeit auf, in der kulturelle Diversität, soziale Spannung und wirtschaftliche Umbrüche den Alltag in den urbanen Zentren der USA prägten. Diese persönliche Migrationserfahrung prägte möglicherweise auch sein wissenschaftliches Interesse an normativen Konflikten und kultureller Prägung.
Seine Kulturkonflikttheorie entstand in den 1930er-Jahren vor dem Hintergrund massiver Einwanderung, besonders nach New York und Chicago, und der damit verbundenen Integration verschiedener ethnischer Gruppen. In diesem Kontext stellte sich zunehmend die Frage, wie soziale Regeln entstehen, weitergegeben und auch gebrochen werden – insbesondere, wenn unterschiedliche kulturelle Werte aufeinandertreffen. Als Vertreter der Chicago School war Sellin stark beeinflusst von sozialökologischen und kulturanthropologischen Ansätzen. Seine Theorie reflektiert die Bemühung, Kriminalität nicht individualpsychologisch, sondern als Ausdruck sozialer und kultureller Bedingungen zu verstehen.
Theorie
Thorsten Sellin geht davon aus, dass jede Kultur ein spezifisches Normensystem besitzt, das durch Sozialisation verinnerlicht wird. Treffen Individuen, die in unterschiedlichen kulturellen Kontexten sozialisiert wurden, aufeinander, kann es zu Konflikten darüber kommen, welche Normen und Werte als legitim gelten.
Sellin unterscheidet zwei Formen kultureller Konflikte:
- Ein äußerer Kulturkonflikt (external culture conflict) entsteht, wenn zwei unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, etwa durch Migration, Kolonialisierung oder Grenzverschiebung. Menschen, die in einem kulturellen Normensystem sozialisiert wurden, geraten in einen Raum, in dem andere, teils widersprüchliche Normen gelten. Wenn z. B. Migrant*innen ihre alten Normen beibehalten und nach ihnen handeln, obwohl diese im neuen sozialen Umfeld als rechtswidrig gelten, kann dies zu normativem Konflikt führen. Dieser Typ Konflikt ist besonders typisch für die erste Generation von Einwandernden, die sich plötzlich mit einem abweichenden normativen Gefüge konfrontiert sehen, das sie nicht vollständig kennen oder akzeptieren.
The conflict was external and occurred between cultural codes or norms. We may assume that where such conflicts occur violations of norms will arise merely because persons who have absorbed the norms of one cultural group or area migrate to another and that such conflict will continue so long as the acculturation process has not been completed. (S. 68)
Ein äußerer Kulturkonflikt kann auftreten, wenn kulturell geprägte oder rechtliche Vorschriften verschiedener Kulturkreise voneinander abweichen. Sellin schreibt:
(1) when these codes clash on the border of contiguous culture areas;
(2) when, as may be the case with legal norms, the law of one cultural group is extended to cover the territory of another; or
(3) when members of one cultural group migrate to another.“
– Thorsten Sellin (1938a): Culture Conflict and Crime
- Ein innerer Kulturkonflikt (internal culture conflict) spielt sich dagegen innerhalb einer Gesellschaft ab. Hier geht es nicht um den Kontakt zweier geografisch oder ethnisch unterschiedlicher Kulturen, sondern um konkurrierende Normensysteme innerhalb derselben Gesellschaft, die sich etwa entlang sozialer Klassen, religiöser Gruppen, Milieus oder Generationen unterscheiden. Personen, die mehreren solcher Gruppen angehören – z. B. Jugendliche mit migrantischem Hintergrund in westlich geprägten Bildungseinrichtungen – erleben widersprüchliche Erwartungen und Handlungsnormen. Dieser Konflikt verläuft meist individuell und innerpsychisch, kann aber kollektive Auswirkungen haben, wenn ganze Gruppen in normativ instabilen Feldern leben.
„The conflict was external and occurred between cultural codes or norms. We may assume that where such conflicts occur, violations of norms will arise merely because persons who have absorbed the norms of one cultural group or area migrate to another […].”
– (Sellin, 1938a, S. 68)
„Culture conflict […] may arise as a result of group differentiation within a cultural system or as a result of contact between norms drawn from different systems.”
– (Sellin 1938b, S. 98)
Beide Konflikttypen sind für Sellin Ausdruck einer tieferen These: Kriminalität kann dort entstehen, wo konkurrierende normative Systeme nicht aufgelöst oder harmonisiert werden – sei es zwischen Kulturen oder innerhalb einer einzigen Gesellschaft.
Beispiele für Kulturkonflikte nach Sellin
Primärer Kulturkonflikt:
Ein aus einer nomadischen Gemeinschaft stammender Jugendlicher wird in Mitteleuropa wegen Diebstahls verurteilt, obwohl er das Entwenden eines Gegenstands im öffentlichen Raum nicht als moralisch falsch empfindet. In seiner Herkunftskultur gelten bestimmte Güter als gemeinschaftlich verfügbar – das westliche Eigentumsverständnis ist ihm fremd. Der Konflikt entsteht, weil die kulturell erlernte Norm im Aufnahmegesellschaftsrecht kriminalisiert wird.
Sekundärer Kulturkonflikt:
Eine in Deutschland geborene Jugendliche mit Migrationshintergrund lehnt sich gegen die elterlichen Erwartungen auf, weil sie mit den in Schule und Freundeskreis vermittelten Gleichheits- und Freiheitswerten kollidieren. Ihre Versuche, individuelle Autonomie zu leben, führen zu innerfamiliären Konflikten – in Einzelfällen auch zu normverletzendem Verhalten wie Weglaufen oder Gewalt.
Kriminalität entsteht nach Sellin vor allem dann, wenn Individuen aufgrund ihrer kulturellen Prägung Handlungen vollziehen, die im herrschenden Normensystem als rechtswidrig gelten – nicht weil sie bewusst gegen Regeln verstoßen, sondern weil sie anderen Regeln folgen.
Im Kontext der Einwanderung differenziert Sellin zwischen drei möglichen Erklärungsmustern für die erhöhte Kriminalitätsbelastung mancher Migrantengruppen:
(1) einem Konflikt zwischen den Normsystemen der Herkunfts- und Aufnahmekultur,
(2) der Verlagerung vom ländlichen in ein urbanes Umfeld sowie
(3) dem Übergang von einer homogenen in eine heterogene und desorganisierte Gesellschaft.
Seine Kulturkonflikttheorie fokussiert dabei primär auf erstgenannten Aspekt – den normativen Konflikt zwischen alten und neuen kulturellen Prägungen.
– Thorsten Sellin (1938a), Culture Conflict and Crime, S. 83
Die Ausarbeitung der Theorie erfolgte nicht nur auf konzeptioneller Ebene, sondern auch mit Blick auf konkrete Forschungsperspektiven. In einem parallel erschienenen Artikel im American Journal of Sociology (1938b) formuliert Sellin zahlreiche methodische Anregungen – etwa zur empirischen Prüfung von Delinquenzverteilungen bei gemischter Herkunft, zu normativen Verschiebungen bei der zweiten Generation oder zu historischen Konflikten zwischen kolonialem und indigenerm Recht.
Kriminalpolitische Implikation
Die Kulturkonflikttheorie von Thorsten Sellin legt nahe, dass Kriminalität nicht allein das Ergebnis individueller Delinquenz oder sozialer Benachteiligung ist, sondern auch aus normativen Spannungen resultieren kann, die zwischen kulturell geprägten Wertsystemen bestehen. Daraus ergeben sich mehrere kriminalpolitische Überlegungen:
1. Förderung interkultureller Kompetenz:
Institutionen des Rechtsstaats – insbesondere Polizei, Justiz und Jugendhilfe – sollten befähigt werden, normative Differenzen zu erkennen und professionell damit umzugehen. Dies bedeutet nicht, abweichende Handlungen zu tolerieren, sondern kulturelle Prägungen bei Deeskalation, Gesprächsführung und Prävention zu berücksichtigen.
2. Kulturell vermittelte Prävention:
Präventionsstrategien müssen an die kulturellen Codes und Kommunikationsmuster verschiedener Zielgruppen angepasst werden. Multiplikator*innen aus relevanten Milieus (z. B. Familien, Moscheen, Migrantenorganisationen) können eine Brückenfunktion übernehmen und zur Vermittlung rechtsstaatlicher Normen beitragen.
3. Förderung normativer Integration:
Bildung, Sprachförderung, Sozialarbeit und Gemeinwesenarbeit leisten einen wichtigen Beitrag, um zentrale gesellschaftliche Normen frühzeitig zu vermitteln. Wenn Jugendliche früh lernen, in unterschiedlichen Normkontexten zu navigieren, lassen sich sekundäre Kulturkonflikte abschwächen.
4. Normpluralismus rechtlich ordnen:
Eine pluralistische Gesellschaft muss Regeln finden, wie mit unterschiedlichen normativen Auffassungen umzugehen ist. Dies betrifft z. B. Fragen religiöser Kleidung, patriarchaler Familienstrukturen oder Ehrbegriffe. Der Rechtsstaat muss hier deutlich kommunizieren, wo seine Grenzen verlaufen – zugleich aber offen für kulturelle Vermittlungsstrategien bleiben.
5. Vermeidung von Kulturalisierung:
Auch kriminalpolitisch muss beachtet werden, dass Kultur nicht als monolithisches Erklärungsmodell missbraucht wird. Kriminalität sollte nicht vorschnell auf kulturelle Herkunft zurückgeführt werden, sondern immer im Zusammenspiel mit sozialen, ökonomischen und biografischen Faktoren betrachtet werden.
Kritische Würdigung & Aktualitätsbezug
Empirisch wurde die Grundannahme, dass kulturelle Normenkonflikte Kriminalität fördern können, in zahlreichen Studien aufgegriffen – insbesondere im Migrationskontext und bei der Analyse normativer Spannungsfelder in pluralen Gesellschaften. Dennoch steht die Kulturkonflikttheorie von Thorsten Sellin auch in der Kritik.
Ein zentrales Argument betrifft die Übertragbarkeit auf moderne Gesellschaften: Im sogenannten „Kernbereich“ des Strafrechts – etwa bei Tötungsdelikten, Raub oder sexuellen Übergriffen – zeigen sich weltweit weitgehend einheitliche Rechtsnormen. Die grundlegenden Unterscheidungen zwischen erlaubt und verboten verlaufen also nicht primär entlang kultureller Linien. Der von Sellin beschriebene Fall eines Ehrenmords bildet hier eine Ausnahme, die eher auf symbolisch stark aufgeladene Werte wie Ehre und Geschlechterrollen verweist als auf systematische normative Unterschiede.
Hinzu kommt, dass der Kulturbegriff bei Sellin relativ diffus bleibt. Was genau als Kultur gilt, wie stark sie Individuen prägt und wie sich normative Mehrfachzugehörigkeit auswirkt, wird nicht systematisch geklärt. Insofern bietet die Theorie zwar ein wichtiges analytisches Werkzeug zur Interpretation bestimmter normativer Spannungsfelder – sie ist jedoch kein tragfähiges Erklärungsmodell für migrationsbezogene Kriminalität im Allgemeinen.
Ein letzter Kritikpunkt betrifft die fehlende empirische Bestätigung im deutschen Kontext: Wäre Sellins Theorie in ihrer ursprünglichen Form zutreffend, müsste die erste Einwanderergeneration – also jene, die noch im Herkunftsland sozialisiert wurde – eine deutlich höhere Kriminalitätsbelastung aufweisen als die zweite oder dritte Generation, die im deutschen Normensystem sozialisiert wurde. Tatsächlich aber zeigen kriminalstatistische Analysen, dass sich etwa auffällige Belastungen eher bei nachfolgenden Generationen finden – was auf sozialstrukturelle, milieuspezifische und integrationspolitische Ursachen hinweist, weniger auf kulturelle Fremdheit im Sinne von Sellin.
Auch Sellin erkennt in seinem Aufsatz Culture Conflict and Crime (1938b) durchaus das widersprüchliche Phänomen, dass die zweite Generation von Migrant*innen – also in den USA geborene Kinder von Einwanderern – häufig eine höhere Kriminalitätsbelastung aufweist als ihre Eltern, obwohl diese erste Generation kulturell „fremder“ im Sinne seiner eigenen Theorie sein müsste.
Die Kinder von Einwanderern befinden sich laut Sellin oft in einem „marginalen“ Zustand:
Sie gehören weder vollständig zur Kultur ihrer Eltern noch vollständig zur Mehrheitskultur der Aufnahmegesellschaft. Dieser Zwischenzustand führt zu innerfamiliären Normkonflikten, emotionaler Unsicherheit, einem Gefühl von Ablehnung und Orientierungslosigkeit – ein „Zustand der Desorganisation“, wie Sellin es nennt.
Die Art der begangenen Delikte verschiebt sich zwischen den Generationen. Während die erste Generation oft noch Gewaltverbrechen begeht (z. B. Ehrenmorde, Familienstreitigkeiten), neigt die zweite Generation eher zu Eigentums- und Raubdelikten, die sich stärker an den Deliktsmustern der Mehrheitsgesellschaft orientieren . Dies wertet Sellin als Indiz für fortschreitende Akkulturation, nicht als kulturelle Entfremdung.
Ferner verweist Sellin auf den Einfluss von sozioökonomischen Bedingungen: Kinder von Migranten wachsen überdurchschnittlich häufig in Armut, prekären Wohnverhältnissen und bildungsfernen Milieus auf – unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft. Damit deutet er an, dass strukturelle Ursachen (Desorganisation, Slums, sozialer Ausschluss) mindestens ebenso bedeutsam sind wie kulturelle Normkonflikte.
Einordnung im Theorienkontext
Thorsten Sellins Kulturkonflikttheorie gehört zu den frühesten soziologisch orientierten Erklärungsansätzen für Kriminalität, die den Einfluss kultureller Prägungen und normativer Systeme systematisch in den Mittelpunkt rücken. Im Gegensatz zu biologistischen Theorien (z. B. Cesare Lombroso) oder individualpsychologischen Ansätzen (z. B. der Psychoanalyse) erklärt Sellin Kriminalität nicht aus Persönlichkeitsmerkmalen, sondern aus dem Aufeinandertreffen divergierender Normsysteme.
Anders als Robert K. Merton mit seiner Anomietheorie, die strukturelle Ungleichheit und blockierte Aufstiegschancen betont, sieht Sellin die Ursache von Kriminalität nicht primär im ökonomischen Mangel, sondern im kulturellen Widerspruch zwischen verinnerlichten und geltenden Normen. Während Merton Kriminalität als instrumentelles Mittel zur Zielerreichung versteht, geht Sellin davon aus, dass die Norm selbst – und nicht ihr Inhalt – das Problem darstellt, wenn sie nicht mit den Erwartungen des Umfelds übereinstimmt.
Auch zur Subkulturtheorie nach Albert K. Cohen bestehen Überschneidungen, etwa in der Idee normativer Abweichung vom Mainstream. Allerdings beschreibt Cohen kollektiv geteilte Normensysteme innerhalb delinquent gewordener Gruppen (z. B. Unterschichtjugendliche), während Sellin den Fokus stärker auf individuelle oder zwischenkulturelle Konflikte legt – insbesondere im Kontext von Migration oder sozialem Wandel.
Gegenüber Lerntheorien wie der Theorie des differentiellen Kontakts (Edwin Sutherland) bleibt Sellins Ansatz ebenfalls eigenständig: Zwar geht auch er davon aus, dass Normen im sozialen Nahraum erlernt werden, doch interessiert ihn weniger die Übernahme krimineller Techniken als vielmehr der normative Konflikt zwischen kulturellen Orientierungssystemen.
Theoretisch wie institutionell stand Sellin zudem in enger Verbindung zu den sozialökologischen Arbeiten von Clifford Shaw und Henry D. McKay, mit denen er gemeinsam der Chicago School of Sociology angehörte. Während Shaw und McKay Delinquenz primär als Folge sozialer Desorganisation in urbanen Problemvierteln erklärten, betonte Sellin stärker den kulturellen Normkonflikt, der insbesondere bei Migration oder in normativ pluralen Milieus entsteht. Beide Perspektiven ergänzen sich insofern, als Sellin den Begriff der Desorganisation aufgreift und als Rahmenbedingung für die Ausbildung widersprüchlicher Normsysteme interpretiert.
Sellins Theorie lässt sich heute als Vorfeld des normativen Pluralismus in der Kriminologie lesen – ein Thema, das später etwa in der Labeling-Theorie und der kritischen Kriminologie weiterentwickelt wurde. Während diese neueren Ansätze die Konstruktion von Devianz und Machtverhältnissen stärker betonen, liefert Sellin ein frühes Modell zur Erklärung, warum Menschen aus ihrer Perspektive normgerecht handeln können – und dennoch strafrechtlich verfolgt werden.
Rezeptionsgeschichte: Warum wurde Sellins Theorie kaum rezipiert?
Obwohl die Kulturkonflikttheorie von Thorsten Sellin ein überzeugendes Deutungsangebot für bestimmte Formen abweichenden Verhaltens liefert, wird sie in vielen kriminologischen Grundlagenwerken lediglich am Rande erwähnt – oft nicht mehr als in einem Halbsatz. Diese vergleichsweise geringe Rezeption lässt sich durch mehrere Faktoren erklären:
Frühe Entstehung – geringe Anschlussfähigkeit:
Sellins Theorie wurde bereits in den 1930er-Jahren formuliert, noch bevor die Kriminologie als eigenständige Disziplin in Europa und Nordamerika systematisch etabliert war. Die zentralen Begriffe – etwa „conduct norms“ oder „culture conflict“ – wurden nie zu einem konsistenten Theoriemodell ausgearbeitet, sondern blieben deskriptiv und kontextabhängig. In der Folge fehlte es an Anschlussfähigkeit für spätere, stärker formalistisch geprägte Ansätze wie die Subkulturtheorie (Cohen), die Anomietheorie (Merton) oder die Labelling-Theorie (Becker).
Politische Sensibilität und Kulturalisierungskritik:
Ab den 1970er-Jahren rückte die Kritik an kulturalisierenden Erklärungen von Kriminalität stärker in den Vordergrund. Der Verdacht, mit Sellins Theorie könne Kriminalität vorschnell „ethnisiert“ oder auf vermeintlich „fremde“ Kulturen zurückgeführt werden, führte dazu, dass sie in vielen Lehrbüchern und Einführungen bewusst ausgeklammert oder nur neutral erwähnt wurde. In Deutschland dominierten stattdessen sozialstrukturelle oder sozialpsychologische Erklärungsansätze.
Verschiebung kriminologischer Deutungsrahmen:
Die Kriminologie der späten Moderne fokussiert zunehmend auf Prozesse sozialer Desintegration, Exklusion, struktureller Ungleichheit oder Subjektivierung. Diese Themen bieten breitere Deutungsrahmen für abweichendes Verhalten als die stark kulturspezifische Perspektive Sellins. Hinzu kommt, dass neuere Theorien – etwa von Heitmeyer, Bauman oder Garland – stärker empirisch anschlussfähig und diskursanalytisch ausdifferenziert sind.
Kultur als schwer greifbare Variable:
Nicht zuletzt ist der Kulturbegriff selbst problematisch: Er bleibt in Sellins Theorie relativ diffus und lässt sich empirisch nur schwer trennscharf operationalisieren. Was genau „Kultur“ ist, wie sie wirkt, inwieweit Individuen mehreren Kulturen gleichzeitig angehören können – diese Fragen bleiben unbeantwortet. Damit fehlt der Theorie ein zentraler methodischer Hebel.
Sellins Kulturkonflikttheorie wird heute selten vollständig verworfen, aber auch kaum aktiv rezipiert. Sie gilt als historisch relevantes Modell mit heuristischem Wert, jedoch ohne nachhaltige Wirkung auf die kriminologische Theorieentwicklung im deutschsprachigen Raum.
Primärliteratur
- Sellin, T. (1938a). Culture Conflict and Crime. A Report of the Subcommittee on Delinquency of the Committee on Personality and Culture. New York: The Social Science Research Council. [Volltext hier verfügbar].
- Sellin, T. (1938b). Culture Conflict and Crime. American Journal of Sociology, 44(1), 97-103. Retrieved from http://www.jstor.org/stable/2768125