Lerntheorien in der KriminologieKriminologie ist die interdisziplinäre Wissenschaft über Ursachen, Erscheinungsformen und gesellschaftliche Reaktionen auf normabweichendes Verhalten. Sie untersucht insbesondere Prozesse sozialer Kontrolle, rechtliche Rahmenbedingungen sowie individuelle und strukturelle Einflussfaktoren. erklären, wie kriminelles Verhalten – ebenso wie normenkonformes Verhalten – in sozialen Interaktionen erlernt wird. Abweichendes Handeln ist demnach kein angeborenes Merkmal, sondern das Ergebnis von Lern- und Nachahmungsprozessen in Gruppen, Subkulturen oder über mediale Einflüsse. Zentral ist die Annahme, dass kriminelle Handlungen durch dieselben Mechanismen vermittelt werden wie jedes andere Verhalten: durch Vorbilder, soziale Bindungen und die Übernahme von Einstellungen, Werten und Techniken.
Bekannte Vertreter sind Gabriel Tarde mit seiner Theorie der Imitation, Edwin H. Sutherland mit der Theorie der differentiellen Assoziationen, Ronald Akers mit der Social Learning Theory sowie verschiedene SubkulturtheorienSubkulturtheorien sind soziologische und kriminologische Ansätze, die abweichendes Verhalten und Kriminalität als Ausdruck spezifischer Werte, Normen und Lebensstile innerhalb sozialer Gruppen interpretieren, die sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen.. Auch die Neutralisierungstechniken von Sykes und Matza werden oft unter den Lerntheorien verortet, da sie zeigen, wie Straftäter Rechtfertigungsstrategien erlernen, um Normbrüche zu legitimieren. Lerntheorien bilden damit einen zentralen Gegenpol zu biologischen oder rein strukturellen Erklärungsansätzen von KriminalitätKriminalität bezeichnet gesellschaftlich normierte Handlungen, die gegen das Strafgesetz verstoßen..
Kontext
Lerntheorien in der Kriminologie sind historisch betrachtet das Ergebnis der Chicago School einerseits und erster Erkenntnisse aus der lernpsychologischen Forschung andererseits.
Schon im 19. Jahrhundert gab es durch Gabriel Tardes Theorie der Imitation Versuche, Kriminalität mit Lern- und Nachahmungsprozessen zu erklären.
Kriminelles Verhalten wird (ebenso wie normenkonformes) erlernt. Der Lernprozess findet in sozialen Gruppen, Subkulturen oder auch durch die Medien vermittelt statt. Neben Fähig- und Fertigkeiten, die kriminelles Verhalten ermöglichen, werden auch Rechtsfertigungsstrategien und Neutralisationstechniken erlernt.
Doch erst Edwin Sutherlands Theorie der differentiellen Assoziationen aus den 1930er Jahren brachte die Theorien des sozialen Lernens in die kriminologische Diskussion. Sutherland war direkt beeinflusst von den sozialökologischen Überlegungen der Chicago School um Park, Burgess, Shaw, McKay und anderen, welche die Ursache von Kriminalität nicht in der Biologie oder Persönlichkeit des Täters suchten, sondern in deren Umfeld. Noch mehr als jene wandte sich Sutherland entschieden gegen die biologische Sichtweise und postulierte, kriminelles Verhalten sei prozesshaft erlernt und nicht geerbt.
Seine zentrale These (Abweichendes Verhalten wird dann gelernt, wenn Einstellungen überwiegen, die Gesetzesübertretungen begünstigen) steht in direkter Verbindung zur Theorie der sozialen Desorganisation, in denen von Wohngebieten die Rede ist, in denen überwiegend kriminelle Einstellungen vorzuliegen scheinen. Sutherland beschreibt somit, welche Prozesse es sind (nämlich: Soziales LernenLernen ist ein Prozess, durch den Individuen durch Erfahrung, Beobachtung oder Instruktion dauerhaftes Wissen, Fähigkeiten oder Verhaltensweisen erwerben oder verändern.), die delinquentes Verhalten in desorganisierten Sozialräumen – aber auch sonst – letztendlich entstehen lassen.
Erweiterungen und Veränderungen hat Sutherlands Theorie über die Jahre hinweg durch ihn selbst, durch Glasers These der differentiellen Identifikation und vor allem durch Cloward & Ohlins Theorie der differentiellen Gelegenheiten erhalten.
Akers soziale Lerntheorie, einige Jahrzehnte später entstanden, bezieht die nunmehr in der Lernpsychologie etablierten Konzepte der operanten Konditionierung, des Lernens am Modell nach Bandura und des Behaviorismus nach Skinner in die Überlegungen von Kriminalität als erlerntes Phänomen mit ein.
Eysencks biosoziale Thesen beziehen hingegen Prozesse der Klassischen Konditionierung bei der Suche nach dem Entstehen kriminellen Verhaltens mit ein.
Ebenfalls zu den Lerntheorien werden in der Regel die sogenannten Subkulturtheorien gerechnet, da auch hier von Lern- und Imitationsprozessen innerhalb von Subkulturen und hinsichtlich der Gründung solcher ausgegangen wird.
Thrasher und Whyte machten (ebenfalls im Zuge der Chicago School) als Erste darauf aufmerksam, dass in instabilen Stadtteilen nicht soziale Desorganisation, sondern Subkulturen vorherrschen: Von der Gesamtgesellschaft losgelöste Systeme mit ganz eigenen Strukturen, Werten und NormenVerhaltensregeln und Erwartungen, die innerhalb einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe als verbindlich gelten., welche somit auch kriminelle Verhaltensweisen als normal betrachten können. Nach heutiger Ansicht kommt jedoch Cohen das Verdienst zu, sich als erster mit devianten Subkulturen im Rahmen einer Kriminalitätstheorie auseinandergesetzt zu haben. Abänderungen erfuhr sie unter anderem durch Miller und Yablonski.
Einen Sonderfall stellt zudem Sykes und Matzas Neutralisierungsthese dar, welche weniger eine Kriminalitätstheorie als vielmehr ein Konzept ist, daß Techniken und Strategien zur Rechtfertigung von Straftaten durch die Straftäter in den Mittelpunkt rückt. Unter die Lerntheorien wird die These zumeist deshalb eingeordnet, weil sie Sutherlands Begriff der Rationalisierungen aufgreift, welcher nahe legt, daß eben auch die Techniken zur Neutralisation begangener Straftaten erlernt und geübt werden müssen.