Émile Durkheim (1858–1917) gehört zu den wichtigsten Begründern der Soziologie als eigenständige Wissenschaft. Mit seinen drei zentralen Werken:
- Über soziale Arbeitsteilung (1893) (Originaltitel: De la division du travail social),
- Die Regeln der soziologischen Methode (1895) (Originaltitel: Les règles de la méthode sociologique) und
- Der Selbstmord (1897) (Originaltitel: Le Suicide)
legte er die theoretischen und methodologischen Grundlagen für die moderne Gesellschaftsanalyse.
Seine Untersuchungen zur sozialen Ordnung, zur Wissenschaftlichkeit der Soziologie und zu den Folgen sozialer Desintegration sind auch heute noch relevant. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die drei Werke, zeigt ihre inhaltlichen Schnittstellen und stellt sie in den größeren Kontext der Soziologie.
1. Über soziale Arbeitsteilung (1893): Gesellschaftliche Kohäsion durch Differenzierung
Durkheim untersucht in diesem Werk, wie soziale Ordnung in modernen Gesellschaften aufrechterhalten wird. Seine zentrale These: Während traditionelle Gesellschaften durch mechanische Solidarität (gemeinsame Werte, Traditionen, Religion) zusammengehalten werden, basiert die Integration moderner Gesellschaften auf organischer Solidarität, die durch Arbeitsteilung entsteht.
- Mechanische Solidarität: Charakteristisch für wenig differenzierte, traditionelle Gesellschaften mit einem starken Kollektivbewusstsein.
- Organische Solidarität: Entsteht in komplexen Gesellschaften durch Spezialisierung und gegenseitige Abhängigkeit.
- Problem der Anomie: Wenn Arbeitsteilung nicht ausreichend in soziale Normen eingebettet ist, kann es zu normativer Orientierungslosigkeit kommen.
Verknüpfung mit den anderen Werken:
- Das Konzept der Anomie wird in Der Selbstmord weiterentwickelt und dort als eine zentrale Ursache für soziale Desintegration beschrieben.
- Die Methodik zur Untersuchung sozialer Tatsachen, die hier grundlegend genutzt wird, wird in Die Regeln der soziologischen Methode theoretisch ausgearbeitet.
Siehe hier für eine ausführliche Erläuterung des Werks Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1893)
2. Die Regeln der soziologischen Methode (1895): Die Wissenschaft der Gesellschaft
Dieses Werk dient als eine methodologische Grundlegung der Soziologie. Durkheim formuliert hier seine zentrale Forderung, dass die Soziologie eine eigenständige Wissenschaft sein muss, die soziale Tatsachen objektiv untersucht.
- Definition sozialer Tatsachen: Soziale Phänomene sind äußerliche Zwänge, die auf das Individuum wirken (z. B. Gesetze, Moral, Religion).
- Soziologie als objektive Wissenschaft: Durkheim fordert, dass soziale Tatsachen wie Dinge behandelt werden müssen, die empirisch untersucht werden können.
- Methodische Prinzipien: Strenge empirische Analysen, systematische Beobachtung, Vermeidung subjektiver Urteile.
Verknüpfung mit den anderen Werken:
- Die methodologischen Prinzipien aus diesem Werk sind die Grundlage für die empirische Studie in Der Selbstmord.
- Das Konzept sozialer Tatsachen ist zentral für das Verständnis sozialer Ordnung in Über soziale Arbeitsteilung.
Siehe hier für eine ausführliche Erläuterung des Werks Émile Durkheim – Die Regeln der soziologischen Methode (1895): Die Wissenschaft der Gesellschaft
3. Der Selbstmord (1897): Anomie und soziale Integration
Dieses Werk ist eine der ersten systematischen empirischen Studien in der Soziologie. Durkheim untersucht, wie gesellschaftliche Faktoren die Suizidrate beeinflussen. Dabei identifiziert er vier Arten von Suizid:
- Egoistischer Suizid: Wenn Individuen zu wenig in soziale Gruppen eingebunden sind.
- Altruistischer Suizid: Wenn das Individuum sich zu stark mit der Gruppe identifiziert (z. B. rituelle Selbstopferung).
- Anomischer Suizid: Resultiert aus normativer Orientierungslosigkeit (z. B. nach wirtschaftlichen Krisen oder gesellschaftlichem Wandel).
- Fatalistischer Suizid: Tritt auf, wenn Individuen unter extremen sozialen Zwängen stehen (selten empirisch relevant).
Verknüpfung mit den anderen Werken:
- Das Konzept der Anomie, das hier als Suizidursache untersucht wird, stammt aus Über soziale Arbeitsteilung.
- Die methodischen Prinzipien zur Analyse sozialer Phänomene wurden in Die Regeln der soziologischen Methode formuliert.
Siehe hier für eine ausführliche Erläuterung des Werks Émile Durkheim – Der Selbstmord (1897)
Fazit: Warum sind diese Werke heute noch relevant?
Durkheims Analysen zu sozialer Kohäsion, wissenschaftlicher Methodik und sozialer Desintegration sind auch heute noch von großer Bedeutung:
- Soziale Ungleichheit & Exklusion: Die Idee der organischen Solidarität erklärt, warum wirtschaftliche und gesellschaftliche Differenzierung sowohl Integration als auch Spaltung erzeugen kann.
- Globalisierung & Migration: Die Mechanismen sozialer Integration und Desintegration sind zentral für das Verständnis moderner Migrationsprozesse.
- Normen und Werte: Die Untersuchung sozialer Tatsachen zeigt, wie Normen entstehen und sich wandeln.
- Soziale Rollen & Sozialisation: Die Spezialisierung in modernen Gesellschaften erfordert neue Formen der Sozialisation und sozialen Identifikation.
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Schlüsselwerke der Soziologie. Für eine vertiefte Analyse der einzelnen Werke siehe die Einzelbeiträge zu Über soziale Arbeitsteilung, Die Regeln der soziologischen Methode und Der Selbstmord.
Literatur
- Durheim, É. (2022) [1893]. Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (9. Aufl.). Suhrkamp.
- Durheim, É. (2022) [1895]. Die Regeln der soziologischen Methode (10. Aufl.). Suhrkamp.
- Durheim, É. (2022) [1897]. Der Selbstmord (16. Aufl.). Suhrkamp.