Émile Durkheims Werk Die Regeln der soziologischen Methode (1895) markiert einen Meilenstein in der Etablierung der Soziologie als eigenständige Wissenschaft. Während frühere Denkansätze oft philosophisch oder spekulativ waren, legte Durkheim hier die Grundlage für eine systematische, empirisch fundierte Forschung. Das Werk gilt bis heute als zentral, um das wissenschaftliche Fundament des Faches und die Bedeutung objektiver Methoden zu verstehen.
Wissenschaftlicher Kontext und Hintergrund
Durkheim schrieb Die Regeln der soziologischen Methode in einer Zeit, in der die Soziologie um ihre Abgrenzung zu Philosophie und Psychologie rang. Er sah die Notwendigkeit, soziale Phänomene nicht durch individuelle Motive oder metaphysische Erklärungen zu deuten, sondern als eigenständige Realität zu betrachten. Damit begründete er den methodologischen Rahmen, der bis heute für die Soziologie gültig ist. Er prägt zwei relevante Begriffe. Diese sind zum einen soziale Tatbestände und zum anderen Emergenz.
Ein sozialer Tatbestand ist „jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.“ (Durkheim, 1980, S. 104).
Emergenz beschreibt hingegen, dass soziale Tatbestände mehr sind als die Summe individueller Handlungen; sie besitzen eigene, emergente Eigenschaften und Wirkungen. Ein soziologisches Beispiel für ein emergentes Phänomen ist die Entstehung von sozialen Normen. Solche Normen entstehen nicht durch formelle Vereinbarungen, sondern entwickeln sich aus den wiederholten Interaktionen zwischen Individuen innerhalb einer Gesellschaft. Durch diese Interaktionen bilden sich Erwartungen darüber, welches Verhalten als angemessen gilt, was schließlich zur Etablierung von Normen führt, die das soziale Verhalten steuern.
Soziale Tatsachen nach Durkheim
Hauptvertreter: David Émile Durkheim (1858 – 1917)
Erstveröffentlichung: 1895
Land: Frankreich
Idee/ Annahme: Durkheim beschreibt soziale Phänomene als eigenständige Tatsachen, die unabhängig der Handlung einzelner Individuen existieren.
Soziale Tatsachen: Definition und Eigenschaften
Im Zentrum des Werkes steht das Konzept der sozialen Tatsachen. Sie sind laut Durkheim „Dinge“, die unabhängig vom Individuum existieren und auf es einwirken. Die wichtigsten Merkmale sozialer Tatsachen sind:
Merkmal | Beschreibung |
---|---|
Externer Zwang | Sie üben Druck auf das Individuum aus (z. B. Gesetze, Moral). |
Allgemeinheit | Sie betreffen viele Individuen innerhalb einer Gesellschaft. |
Eigenständige Existenz | Soziale Tatsachen bestehen unabhängig vom individuellen Bewusstsein. |
Emergenz | Sie entstehen aus dem sozialen Zusammenwirken vieler und entwickeln dabei eigene Gesetzmäßigkeiten. |
Beispiele sind das Rechtssystem, religiöse Rituale, Sprachregeln oder soziale Konventionen.
Kriminalität als normale soziale Tatsache
Ein besonders einprägsames Beispiel für Durkheims Konzept der sozialen Tatsachen ist seine Interpretation von Kriminalität. In Die Regeln der soziologischen Methode argumentiert er, dass Kriminalität ein normales und unvermeidliches Phänomen in jeder Gesellschaft ist – gerade weil sie Ausdruck gesellschaftlicher Normen und deren Grenzen ist.
Durkheim schreibt :
Das Verbrechen wird nicht nur bei der überwiegenden Majorität von Gesellschaften dieser oder jener Gattung, sondern bei allen Gesellschaften aller Typen angetroffen. Es gibt keine Gesellschaft, in der keine Kriminalität existierte. Sie wechselt zwar der Form nach; es sind nicht immer die dieselben Handlungen, die so bezeichnet werden. Doch überall und jederzeit hat es Menschen gegeben, die sich derart verhielten, daß die Strafe als Repressionsmittel auf sie angewendet wurde. (Durkheim, 2016, S.26)
Er geht noch weiter und argumentiert, dass Kriminalität kulturelle Innovation ermöglichen kann. In einem bemerkenswerten Zitat heißt es:
Die Autorität, welche das moralische Bewußtsein genießt, darf gewisse Schranken nicht überschreiten, sonst würde niemand daran zu rühren wagen und es allzuleicht eine erstarrte Form annehmen. Damit sich das moralische Bewußtsein entwickeln kann, erscheint es notwendig, daß sich die individuelle Originalität durchzusetzen imstande ist; und damit die Moral des Idealisten, der seinem Jahrhundert voraus sein will, sich entfalten kann, muß die unterhalb des Zeitniveaus stehende Moral des Verbrechers möglich sein. Eines bedingt das andere. (ebd.)
- Kriminalität zeigt, welche Verhaltensweisen eine Gesellschaft als abweichend definiert – und stärkt dadurch das normative Gefüge.
- Insofern erfüllt sie eine funktionale Rolle, etwa durch die Stärkung kollektiver Solidarität oder die Initiierung normativen Wandels.
- Was als „kriminell“ gilt, ist gesellschaftlich konstruiert und historisch wandelbar – eine These, die auch zentrale Grundlage der Kritischen Kriminologie ist.
Durkheim formuliert diese Gedanken besonders zugespitzt in folgender Passage:
Wie oft ist das Verbrechen wirklich bloß eine Antizipation der zukünftigen Moral, der erste Schritt zu dem, was sein wird. (ebd., S. 30)
Verbrechen können aus dieser Perspektive als Vorboten sozialer Entwicklung verstanden werden. Was in einem historischen Kontext als kriminell galt, kann später als moralisch gerechtfertigt oder sogar vorbildlich erscheinen. Beispiele hierfür sind etwa:
- Rosa Parks, die sich 1955 in den USA weigerte, einem weißen Fahrgast ihren Sitzplatz zu überlassen – ein Gesetzesverstoß, der heute als Beginn der Bürgerrechtsbewegung gilt;
- die Entkriminalisierung von Homosexualität, die in vielen Ländern bis in die 1990er Jahre als Straftat verfolgt wurde, inzwischen aber als Menschenrecht gilt.
Solche Fälle zeigen: Abweichendes Verhalten kann normativen Wandel anstoßen – etwa indem es auf gesellschaftliche Ungleichheiten, Diskriminierung oder moralische Erstarrung hinweist. Durkheims These, dass Kriminalität zur Erneuerung kollektiver Moral beiträgt, bleibt damit hochaktuell.
Durkheims funktionale Sicht auf Devianz beeinflusste zahlreiche kriminalsoziologische Theorien. Besonders die Anomietheorie sowie die Kritische Kriminologie knüpfen an seine Überlegungen zur gesellschaftlichen Funktion und Konstruktion von Abweichung an.
Die Methodischen Regeln nach Durkheim
- Soziale Tatsachen wie Dinge behandeln: Sie müssen unabhängig vom individuellen Erleben objektiv erforscht werden.
- Vermeidung von Vorurteilen: Forscher:innen sollen sich von subjektiven Interpretationen lösen und die soziale Realität unvoreingenommen analysieren.
- Erklärung sozialer Tatsachen durch andere soziale Tatsachen: Gesellschaftliche Phänomene sollen nicht psychologisch, sondern soziologisch erklärt werden.
- Empirische Daten und systematische Beobachtung: Wissenschaftliche Forschung muss sich auf überprüfbare, beobachtbare Daten stützen.
Kritische Auseinandersetzung und Weiterentwicklungen
Durkheims methodische Strenge wurde von späteren Soziologen sowohl gewürdigt als auch kritisiert. Kritisch angemerkt wird, dass die strikte Objektivität und Wertfreiheit in der Praxis schwer umsetzbar sind. Max Weber etwa argumentierte für ein „Verstehen“ sozialen Handelns, das subjektive Sinnzuschreibungen berücksichtigt. Dennoch bleibt Durkheims Ansatz eine der wichtigsten Grundlagen für empirische Sozialforschung.
Praxisbezug und Beispiele
Durkheim selbst setzte seine methodischen Prinzipien in Der Selbstmord (1897) um. Dort analysierte er empirisch die Suizidrate in verschiedenen Gesellschaften und konnte zeigen, wie soziale Integration und Anomie das individuelle Handeln beeinflussen. Auch moderne soziologische Studien – sei es im Bereich der Sozialstrukturanalyse oder der Forschung zu sozialen Ungleichheiten – greifen auf seine methodischen Grundlagen zurück.
Verbindungen zu aktuellen Megatrends
- Soziale Ungleichheit & Exklusion: Empirische Forschung nach Durkheims Regeln hilft, Ursachen und Muster sozialer Ungleichheit objektiv zu analysieren.
- Sozialstruktur & Sozialisation: Soziale Tatsachen prägen die Sozialisation und beeinflussen die Position von Individuen innerhalb der Gesellschaft.
- Normen und Werte: Der Wandel normativer Strukturen lässt sich mit Durkheims methodischer Strenge in gesellschaftlichen Entwicklungen nachvollziehen.
Fazit: Die andauernde Bedeutung für die Soziologie
Die Regeln der soziologischen Methode ist bis heute ein unverzichtbares Werk für alle, die sich wissenschaftlich mit Gesellschaft befassen. Durkheim legte darin nicht nur den Grundstein für eine empirisch fundierte Soziologie, sondern auch für das methodische Selbstverständnis des Fachs. Der Begriff der Emergenz, den er in diesem Zusammenhang einführt, bleibt für das Verständnis komplexer sozialer Prozesse zentral. Für Studierende bietet das Werk eine Orientierung, wie wissenschaftliche Forschung strukturiert und objektiv durchgeführt werden kann.
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe Schlüsselwerke der Soziologie. Weitere wichtige Werke von Émile Durkheim sind Über soziale Arbeitsteilung und Der Selbstmord, die in eigenen Beiträgen vertieft vorgestellt werden.
Literatur und weiterführende Informationen
- Émile Durkheim (2016) Kriminalität als normales Phänomen. In: D. Klimke & A. Legnaro (Hrsg.) Kriminologische Grundlagentexte. S. 25-31.